Von Florian Pichler. 
Vor wenigen Monaten informierten der ORF und weitere Medien darüber, dass in Wien ein Religionsrat gegründet wurde. Mit einem „Austausch auf Augenhöhe“ initiierte der Wiener Bürgermeister Michael Ludwig ein regelmäßiges Zusammentreten der Vertreter:innen der „Religionsgruppen“. Darunter sind Vertreter:innen gesetzlich anerkannter, eingetragener Bekenntnisgemeinschaften und weiterer religiöser Vereinigungen zu finden.
„Die aktuellen Konflikte beobachte Wiens Bürgermeister […] wie viele Teile der Wiener Bevölkerung mit großer Sorge. ‚Kriege können nie eine nachhaltige Lösung sein‘, sagte Ludwig. Auch Terror würde nur versuchen, die Friedensordnung zu destabilisieren. […] Wir ,wollen in Wien mit positivem Beispiel vorangehen und ein friedliches Miteinander erhalten‘, so der Bürgermeister“.
Ausgangslage dafür waren Häufungen von Extremismus und Terrorwarnungen, die einer radikalisierten religiösen Gesinnung nahestanden. Der Terror geht nicht nur von religiös motivierten Täter:innen aus, sondern richtet sich auch gegen religiöse Gebäude und Institutionen anderer Religionen. Gerade um das Weihnachtsfest 2023 häufen sich diese Terrorwarnungen. Aufgabe der leitenden Vertreter:innen der jeweiligen Religionsgemeinschaft (iSv Art 9 EMRK) ist es, dazu in den Dialog zu treten, um Gefahren zu erkennen und sich in der pluralistischen Gesellschaft miteinander vertraut zu machen, um Vorurteile abzubauen und den gegenseitigen Respekt zu stärken. Dabei unterstützt sie der religiös neutrale Staat. Unionsrechtlich bildet Art 17 AEUV das Fundament für diesen „strukturierten Dialog“:
Art 17 (1) AEUV: Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.
(2) […]
(3) Die Union pflegt mit diesen Kirchen und Gemeinschaften in Anerkennung ihrer Identität und ihres besonderen Beitrags einen offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog.
Kein religiöses Stadtparlament – kein religionsübergreifendes internes Recht
Der Religionsrat ist jedoch kein Rat mit legislativer Entscheidungskompetenz. Weder staatliche Vertreter:innen noch religiöse Vertreter:innen fassen gemeinsam bindende Beschlüsse. Der Religionsrat ist kein religiöses Parlament oder Gremium mit Entscheidungsbefugnis. Der Staat bindet damit weder die einzelnen Religionsgemeinschaften, noch binden Entschlüsse die einzelnen Religionsgemeinschaften. Ein religionsübergreifendes inneres Recht existiert ebenso wenig. Jede Religionsgemeinschaft erledigt ihre inneren Angelegenheiten gem Art 15 StGG und Art 9 EMRK autonom.
Kurze Geschichte der religiösen Toleranz
Der Dialog wird nicht nur auf Unionsebene, sondern auch in Österreich seit langem gepflegt. Bürgermeister Ludwigs Religionsrat ist damit in die Kontinuität des strukturierten Dialogs einzubetten.
In der Geschichte, als der religiös neutrale Staat noch keine solchen strukturierten Dialoge kannte, war das Verhältnis von Staat und Kirche vom Cäsaropapismus oder Papocäsarismus geprägt.
Wenn sich die religiöse Institution dem Staat unterordnet, spricht man vom Cäsaropapismus und einer Staatskirche. Wenn sich die staatliche Macht der religiösen Autorität unterordnet, spricht man vom Papocäsarismus und dem Kirchenstaat.
Ein Meilenstein auf dem weiten und langen Weg zum religiös neutralen Staat war die Zwei-Schwerter-Theorie im frühen Mittelalter. Zwei Schwerter symbolisieren dabei die weltliche und die staatliche Macht, die getrennt an unterschiedliche Personen übergeben werden.
Die Glaubenskriege des 16. Jahrhunderts machten es notwendig, Konfessionen zu bilden. Die staatliche Obrigkeit sah sich mit Katholiken und Reformierten konfrontiert und musste mit beiden Gruppen den Ausgleich für ein friedvolles und gedeihliches Miteinander suchen. Der Augsburger Religionsfriede von 1555 ist im vollen Titel ein Augsburger Reichs- und Religionsfrieden, was die politische Dimension zum Ausdruck bringt. Institutionalisierter Dialog wurde bereits auf dem Reichstag für notwendig erachtet. Religiöse Toleranz gegenüber Jüd:innen wurde per kaiserlichem Patent verordnet; der Islam 1912 in der Donaumonarchie anerkannt und unter die gesetzlich anerkannten Religionsgesellschaften aufgenommen.
Ziele von institutionalisiertem Dialog
Neben der Möglichkeit, sich in einem moderierten Gremium mit der staatlichen Autorität und den Nachbarreligionen auszutauschen, bildet der Religionsrat die Grundlage für eine Dialogkultur. Sich kennenzulernen fördert die Toleranz, unterschiedliche strukturelle Lösungen miteinander zu besprechen und stärkt die Synergien. Trotz theologischer Unterschiede finden sich in allen Religionen vergleichbare Strukturen, die den Aufbau der religiösen Gemeinschaft regeln und sich als verfasster Zusammenschluss nach österreichischem Recht bilden. Religiöse Vereine, eingetragene Bekenntnisgemeinschaften und gesetzlich anerkannte Religionsgesellschaften finden sich unter diesen.
Schwierigkeiten treten dort auf, wo sich Gesinnungsgruppen abspalten oder radikalisiert neu gründen. Diese sind schwer in den Dialog einzubinden bzw. mangels rechtlicher Verfasstheit für den Rechtsstaat schwer greifbar.
Letztlich fördert der Religionsrat auch das Verständnis für den religiös neutralen Staat, dessen Prinzipien der Neutralität und Parität erst den konfessionsungebundenen Staat in einer pluralistischen Gesellschaft des heutigen Europas ermöglichen. Ein strukturierter Dialog hält die Religionsfreiheit hoch, sodass der Gottesstaat oder eine Theokratie nicht das Ziel sind, sondern das Entfalten der eigenen Freiheit innerhalb der Schranken der Religionsfreiheit gem Art. 9 EMRK.
Der heutige österreichische Rechtsstaat ist in seinem Verhältnis zu den Religionsgemeinschaften vom Prinzip der Neutralität und der Parität geprägt: Einerseits distanziert sich der Staat von jeglicher Staatsreligion oder Staatskirche, bietet aber andererseits von seiner neutralen Position Religionsgemeinschaften die Möglichkeit, sich im Rahmen der allgemeinen Staatsgesetze (Art 15 StGG) zu entfalten. Dort, wo es gemeinsame Angelegenheiten gibt, versucht die staatliche und die religiöse Autorität eine Regelung der Dialogmaterie. Durch die Parität wird eine Gleichbehandlung erwirkt. Sie umfasst daher „jene staatlichen Regelungen, die für alle“ Kirchen und Religionsgesellschaften „gleichermaßen gelten“.
Religiöse Institutionen als Partner der staatlichen Autorität
Im Zuge der Trennung von Staat und Kirche wurden Kompetenzgrenzen gezogen: Zwischen inneren Angelegenheiten, die ausschließlich die religiöse Autorität für die eigene Religionsgemeinschaft besorgt und äußeren Rechtsverhältnissen, die der Staat als eine Dialogmaterie auf rechtliche Beine stellt und die Religions- und Bekenntnisgemeinschaften damit rechtlich verfasst, verläuft eine deutliche Trennlinie, die von der Auslegung der Grund- und Freiheitsrechten durch die öffentlich-rechtlichen Gerichte abhängig ist. In den Regelungstatbestand der inneren Angelegenheiten darf der Staat gem Art 15 StGG iVm Art 9 EMRK nur in bestimmten Situationen und mit einem vorgegebenen Zweck eingreifen.
Zum Höchststand der Coronapandemie wusste der Staat – heute wie gestern – dass Kirchen, Synagogen und Moscheen nicht einfach wie Kinos, Supermärkte oder Opernhäuser zu schließen sind. Ein Eingriff in die inneren Angelegenheiten ist anders zu bewerkstelligen als ein Eingriff aufgrund einer Verordnung aufgrund des EpidemieG 1950 bzw. dem anlassbezogen erlassenen COVID-19-MG. Explizit enthalten diese Rechtsmaterien auch Ausnahmen für Kirchen und Religionsgesellschaften.
Dabei stellte sich heraus, dass der Staat sich einen institutionellen Rahmen und eine strukturelle Verfassung der Religionsgesellschaft erwartet, um die Regelung der inneren Angelegenheiten im eigenen Wirkungsbereich zu belassen. Nicht einzugreifen bedeutet, dass der Staat abschätzt, ob eine gleichwertige Regelung, welche zum Ziel führt, im eigenen Wirkungsbereich der Religionsgesellschaften durch die inneren Angelegenheiten zu erwarten ist. Strukturierter Dialog und ein Religionsrat können letztlich auch dazu beitragen, seitens der Religionsgemeinschaften aufzuzeigen, dass man weiterhin handlungsfähig im eigenen Wirkungsbereich ist. Neben einer Plattform, um sich mit staatlichen Expert:innen auszutauschen, kann er ebenso die Grundalge dafür sein, voneinander zu lernen und rechtliche Vorbilder adaptiert zu übernehmen.
Warten auf die Geschäftsordnung des Wiener Religionsrats
Der Wiener Religionsrat ist gerade in der Aufbauphase. Auf Rückfrage im Büro des Bürgermeisters erhielt der Autor die Information, dass er im Frühjahr 2024 fortgesetzt wird. Sollte es möglich sein, informieren wir hier auf Recht und Religion in gewohnter Weise über seine rechtlichen Ausformungen, Ziele und Erfolge.
Anmerkungen
Vgl. https://wien.orf.at/stories/3229022/ [Abruf: 27.12.2023]; vgl. weiters https://www.erzdioezese-wien.at/site/home/nachrichten/article/115517.html [Abruf: 27.12.2023]; vgl. weiters https://presse.wien.gv.at/presse/2023/10/19/buergermeister-ludwig-trifft-vertreter-innen-unterschiedlichster-religionsgruppen [Abruf: 27.12.2023].
https://presse.wien.gv.at/presse/2023/10/19/buergermeister-ludwig-trifft-vertreter-innen-unterschiedlichster-religionsgruppen [Abruf: 27.12.2023].
Vgl. https://wien.orf.at/stories/3238006/ [Abruf: 27.12.2023]; vgl. weiters https://www.diepresse.com/17943583/anschlagsgefahr-und-festnahmen-polizei-kontrolliert-kirchen-und-maerkte [Abruf: 27.12.2023].
Vgl. Hammer, Neutralität des Staates, religiös-weltanschauliche, in: Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp (Hgg.), 111 Begriffe des österreichischen Religionsrechts (2022), 235–239.
Art 17 AEUV Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, StF: BGBl. III Nr. 86/1999 idF BGBl. III Nr. 171/2013.
Vgl. Caspar, Geschichte des Papsttums. Von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft. Bd 2, Das Papsttum unter byzantinischer Herrschaft (1933), 33ff, 62ff.
Vgl. Schmidt, Der Dreißigjährige Krieg (2003), 17f; vgl. weiters Arndt, Der Dreißigjährige Krieg 1618–1648 (2009).
Vgl. für die Toleranz gegenüber Protestant:innen Joseph II., Patent vom 13. Oktober 1781 und in dessen Folge heute das Bundesgesetz vom 6. Juli 1961 über äußere Rechtsverhältnisse der Evangelischen Kirche StF: BGBl. Nr. 182/1961 idF BGBl. I Nr. 166/2020; vgl. für die Toleranz gegenüber Jüd:innen Joseph II., Patent vom 2. Jänner 1782 und in dessen Folge heute das Gesetz vom 21. März 1890, betreffend die Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der israelitischen Religionsgesellschaft StF: RGBl. Nr. 57/1890 idF BGBl. I Nr. 166/2020.
Vgl. das Gesetz vom 15. Juli 1912, betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams als Religionsgesellschaft StF: RGBl. Nr. 159/1912; vgl. heute Bundesgesetz über die äußeren Rechtsverhältnisse islamischer Religionsgesellschaften – Islamgesetz 2015
StF: BGBl. I Nr. 39/2015 idF BGBl. I Nr. 146/2021.
Vgl. Leitner, Verfassungen von Religionsgesellschaften, in: Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp (Hgg.), 111 Begriffe des österreichischen Religionsrechts (2022), 334–337; vgl. weiters Berkmann, Internes Recht der Religionen (2018).
Vgl. Kowatsch, Anerkennung von Religionsgesellschaften, staatliche, in: Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp (Hgg.), 111 Begriffe des österreichischen Religionsrechts (2022), 32–38; vgl. weiters Hirnsperger, Bekenntnisgemeinschaft, staatlich eingetragene religiöse, in: in: Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp (Hgg.), 111 Begriffe des österreichischen Religionsrechts (2022), 60–63; vgl. weiters Kowatsch, Vereine, religiöse, in: Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp (Hgg.), 111 Begriffe des österreichischen Religionsrechts (2022), 331–334.
Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (2003), 16; 22; 42–43.
Vgl. Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (2003), 62–64.
Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (2003), 62.
Vgl. Pabel, Grundrechtsschranken, in: Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp (Hgg.), 111 Begriffe des österreichischen Religionsrechts (2022), 156–158.
Epidemiegesetz 1950.StF: BGBl. Nr. 186/1950 idF BGBl. I Nr. 103/2020.
COVID-19-MG StF: BGBl. I Nr. 12/2020.
Vgl. beispielsweise die Ausnahme § 9 (1) Z 7 in 2. COVID-19-Basismaßnahmenverordnung StF: BGBl. II Nr. 156/2022.
Vgl. grundlegend Kowatsch, Die freie Religionsausübung in Zeiten der Pandemie – ein religionsrechtlicher und kanonistischer Zwischenbericht, in: ÖARR 61/2 (2022), 225–297.
Vgl. Schipka, Zwischen staatlicher Erwartungshaltung und Aufrechterhaltung kirchlicher Sendung: Institutionalisierte Kontakte zwischen Staat und Kirche in der Corona-Krise in der Republik Österreich, in: Mückl (Hg.), Religionsfreiheit in Seuchenzeiten (2021), 253–263.
Titelbild: Daniel Tibi