Rezension zu: Tilman Schmeller, EuGH und Religionsfreiheit. Zu Grund und Grenzen eines konstitutionellen Momentums in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (= Untersuchungen über Recht und Religion 4), Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XIV, 298 Seiten. ISBN 978-3-16-162201-4

Von Harald Tripp.

Tilman Schmeller nimmt sich in seinen Ausführungen – mehr als siebzig Jahre nach Errichtung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg – vor, die Rechtsprechung dieses Gerichtshofes im Blick auf das Grundrecht der Religionsfreiheit auszuloten. Dabei geht er in drei einzelnen Untersuchungen vor, zeichnet in einem ersten Schritt den Hintergrund der Rechtsprechungslinie des Luxemburger Gerichtshofes auf und beschäftigt sich dabei intensiv mit dem Wesen und dem Selbstbild des Gerichts. Im zweiten Schritt analysiert er Urteile umfassend und leitet aus ihnen Muster ab, die eine Befassung des EuGH mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit prägen. In einer dritten Untersuchung vermisst Schmeller die allgemeinen Grenzen der EuGH-Judikatur neu und versteht das nationale Religionsrecht als Ausdruck soziokultureller Wahrnehmungen.

Konstitutionelles Momentum

Der Begriff des „konstitutionellen Momentums“ dient dem Autor bei seinen Ausführungen, auf einen wichtigen Umstand in der Entwicklung des EuGH im Blick auf die Religionsfreiheit hinzuweisen. Die Phase ab 2017 stellt dabei eine Bewegungskraft mit einer neuen dynamischen Dimension auf, die für den Autor den Beginn einer neuen Phase in der konstitutionellen Judikatur des EuGH einleitet. Für Schmeller sei in der Geschichte der Europäischen Union feststellbar, dass der europäische Kostitutionalismus in der Rechtsprechung des EuGH seit einigen Jahren in eine neue Phase eingetreten sei, die dadurch gekennzeichnet wäre, dass der Gerichtshof offensiv konstitutionell argumentiere, indem er die Werte des Art. 2 S.1 EUV als verfassungsrechtliche Leitprinzipien immer stärker durch seine Judikatur greifbar mache und dabei zudem eine deutlich wahrnehmbare Grundrechtsprechung ausbilde.

Wertekonstitution

Im ersten Kapitel untersucht Schmeller folglich die Grundrechtsprechung der letzten Jahre in der Judikatur des EuGH und befasst sich vornehmlich mit der Werteordnung der EU als Metaprinzipien ihrer Verfassung sowie der gegenwärtigen Krise der Rechtsstaatlichkeit, die dazu geführt habe, dass es in der Judikatur jüngst eine Zunahme an Werterechtsprechung gegeben hat. Hierbei differenziert der Autor zwischen staatsstrukturellen (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, mitgliedstaatliche Gleichheit) und grundrechtlichen Werten (Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, unionsbürgerliche Gleichheit). Nach Meinung des Autors erodiere die Rechtsstaatlichkeit in einigen Ländern der EU, wobei gerade die Werterechtsprechung des EuGH als Übersetzung von Werten in konkrete Ableitungen eine schützende Dimension erhalten würde. Wichtig sei dabei jedoch die Feststellung, dass erst wenn eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts nicht nur auf die, sondern auch in den Mitgliedsstaaten sichergestellt ist, von Gleichheit ausgegangen werden kann. Nach Meinung des Autors ginge mit den jüngsten Judikaten des EuGH eine Veränderung einher, wobei die Autonomie des Unionsrechts vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen von EuGH und anderen Gerichten diskutiert wird. An zwei Beispielen zeigt Schmeller auf, dass sich die Einheit und Autonomie des Unionsrechts in sich konsequent gegen verschiedenartig gestaltete Heteronomie von außen abschirme. Demokratiestaatlichkeit sei ein besonderer Wert der EU, daher befasse sich der EuGH bei der Ausgestaltung der Werte mit einzelnen Verfassungsnormen (Rechtsstaatlichkeit), verfassungstheorethischen Figuren (mitgliedstaatliche Gleichheit) sowie mit den Fragen nach den Grundrechten (Demokratie).

Modi der Grundrechtsprechung des EuGH

Im zweiten Kapitel befasst sich Schmeller zunächst mit der stärker als bisher wahrnehmbaren Grundrechtsprechung des EuGH, die nach dem verbindlichen Inkrafttreten der Charta der europäischen Grundrechte im Dezember 2009 erst und gerade in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung genommen und einen deutlich höheren Raum in der Judikatur des EuGH eingenommen habe. Für unseren Autor zeige sich hier sehr deutlich, dass die Grundrechtsprechung des EuGH nicht von dem verfassungsrechtlichen Momentum der übrigen Werterechtsprechung losgelöst, sondern mit ihr vielmehr inhaltlich verwandt sei. Historisch habe sich der EuGH hier zu einem Akteur der proaktiven Ausgestaltung grundrechtlicher Dogmatik entwickelt.

Im Folgenden differenziert Schmeller die Grundrechtsprechung des Gerichtshofes anhand der beiden zentralen Modi unionaler Judikatur, der Charta der Grundrechte sowie dem Sekundärrecht bevor er thematische Felder der neueren Grundrechtsprechung sowie eine Bewertung der thematischen Schwerpunktsetzung der neuen unionalen Befassung mit Grundrechten vornimmt. Dabei betont unser Autor die Herausforderung des EuGH auf 27 Rechtssysteme einzugehen und für sich eine komplexe akkulturierende dogmatische Linie schaffen zu müssen. Anlehnen würde sich der EuGH dabei sehr stark an die deutsche Rechtsprechung und an die Tätigkeit des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog als vormaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, auch im Blick auf das Urteilsschema im Umgang mit den Garantien der Grundrechtecharta in die Prüfungspunkte „Schutzbereich“, „Einschränkung“ und „Rechtfertigung“, wobei dieser letzte Punkt sich wieder in die drei Schritte „Legitimer Zweck“, „Geeignetheit“, „Erforderlichkeit“ und „Verhältnismäßigkeit“ unterteilen lässt. Mit ihrem Sekundärrecht bestimme die EU laut Schmeller weltweite Rechtsstandards, die Ausgestaltung von grundrechtlichen Garantien über dieses Sekundärrecht führe zu einer Verwirklichung und erlebbaren Geltung der Grundrechte weltweit, die laut Feststellung unseres Autors mit der Auseinandersetzung nur über die Grundrechtecharta so nicht möglich wären. Schmeller lotet hier einzelne thematische Felder der EuGH-Judikatur aus, unter denen er vor allem den Bereichen Justizgrundrechte, Antidiskriminierung, Recht auf gute Verwaltung, Datenschutz sowie Berufs- und Unternehmensfreiheit als häufigste Grundrechtsfelder große Bedeutung beimisst und diese entsprechend umfassend analysiert. Im Blick auf das Religionsverfassungsrecht wäre dieses laut Schmeller mittelbar über das Antidiskriminierungs- und Datenschutzrecht sowie über den Zugang zu staatlichen Gerichten als Ausprägung der Justizgrundrechte berührt.

Religionsrechtliche Kompetenz des EuGH

Die wachsenden Spannungen im Verhältnis von Europa- und staatlichem Religionsgemeinschaftsrecht übersteige eine erhöhte Grundrechtsprechung, vielmehr könne laut unserem Autor in Bezugnahme auf Art. 10 Grundrechtecharta eine bemerkenswerte Entwicklung wahrgenommen werden: Von 2017 bis 2021 sind neun Urteile ergangen, in denen sich der EuGH mit Art. 10 Grundrechtecharta befasst, hinzu kommen noch weitere Urteile mit religiösem Hintergrund, die sich im Bereich des Sekundärrechts ohne Bezug auf die Grundrechtecharta entfalten. Somit diagnostiziert Schmeller einen spektakulären Anstieg während der letzten Jahre im Blick auf Urteile, die sich auf die Religionsfreiheit beziehen und er spricht deshalb von einer neuen Phase der EuGH-Grundrechtsprechung seit 2009. Die Religionsfreiheit ist ein komplexer Begriff, der durch die Religionsfreiheit als Individualrecht, einschließlich des forum internum und externum, geschützt wird. Darüber hinaus beinhaltet diese Religionsfreiheit auch eine kollektive Dimension, also ein Recht auf Selbstbestimmung für Religionsgemeinschaften. Dieses Recht ist auch in einigen nationalen Verfassungen ausdrücklich verankert. Und schließlich trägt auch das Antidiskriminierungsrecht zur Religionsfreiheit bei. Die Auslegung und Umsetzung bestehender Gesetze zu den Religionsfreiheiten wird stark von historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst, die in jedem Mitgliedstaat anders sind, ist die EU in dieser Hinsicht eine sehr heterogene Gemeinschaft.

EuGH als „Grundrechtegericht“

Der EuGH entwickle sich laut Darstellung unseres Autors immer mehr zum „Grundrechtegericht“ auf dem Weg von der Wirtschafts- zur Werteunion, vom Wirtschafts- zum Verfassungsgericht. Die Grundrechtsprechung des EuGH setze nach Schmöller Schwerpunkte, nach denen ein bestimmtes Kultur-, ein Wertesystem der EU auszumachen sei, das der Sinn des von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens sein soll. Religionsfreiheit umfasse nach Schmeller die Freiheit der Religionsausübung individuell und in Gemeinschaft sowie der Zusammenschluss zu einer dauerhaften Gemeinschaft, die um die korporative Religionsfreiheit (Beschränkung und Förderung religionsrechtlicher Belange) erweitert werden. Das staatliche Religionsgemeinschaftsrecht behandle somit das Recht der korporativen Religionsfreiheit nach unserem Autor als einem von insgesamt vier Teilen des Grundrechts der Religionsfreiheit insgesamt und daraus resultiere, dass sich die Rechtsprechung des EuGH zur Religionsfreiheit als solche zum staatlichen Religionsgemeinschaftsrecht begreifen und analysieren lässt. Nach Schmeller werde die Materie des Religionsgemeinschaftsrechts damit sowohl über mitgliedstaatliche wie auch über unionale Normen als Substrat gebildet und laut unserem Autor über die hierzu ergehende mitgliedstaatliche wie unionale Rechtsprechung als weitere Form der Kompetenzwahrnehmung geprägt. Religionsfreiheit vereine damit rechtlich nicht hierarchisierbare, mithin parallele Kompetenzen, die sich nicht einseitig als national oder unional prägen ließen.

Vier religionsrechtliche Grundsätze der EU

Religionsrecht und Religionspolitik der EU lassen sich grundsätzlich auf vier Grundsätze zurückführen: Achtung mitgliedstaatlicher Systemgestaltung, Dialog mit den Religionsgemeinschaften, Garantie korporativer Religionsfreiheit und die Nichtdiskriminierung aus religiösen Gründen. Schmeller verweist hier in seiner gelungenen Analyse auf die Notwendigkeit der Ausübung unional-legislativer Kompetenz auf dem Gebiet des staatlichen Religionsrechts, dies insbesondere in den Bereichen des Steuerrechts, Baurechts sowie bei Markenschutzbestimmungen, Datenschutz und Wettbewerbsrecht und Antidiskriminierungsrecht (Kirchl. Arbeitsrecht). Diese Bereiche bilden hier wichtige Themenfelder der Reflexion unseres Autors, der sodann einzelne Urteile auf dem Gebiet der individuellen Religionsfreiheit und des staatlichen Religionsrechts durch den EuGH untersucht. Schmeller analysiert einige formale und methodische Zugänge zu den Urteilen und dem Stil der Argumentation sowie einer Gewichtung der Auslegungsmethoden durch den EuGH.

Individuelle Religionsfreiheit

Breiten Raum widmet die Darstellung unseres Autors den tierschutzrechtlichen, migrationsrechtlichen sowie antidiskriminierungsrechtlichen Themenfeldern, welche sich auf die individuelle Sphäre der Religionsgemeinschaft beziehen. Durch Analyse und Vergleich ordnet Schmeller die Materie praktisch, sodass dem Leser durch den Inhalt die einzelnen Urteile veranschaulicht dargestellt und kommentiert werden. Beim Tierschutzrecht sowie beim Migrationsrecht, dem Antidiskriminierungsrecht in den Bereichen Kopftuch am Arbeitsplatz sowie Wahrnehmung der religiösen Feiertage betont der EuGH den gesellschaftlichen Pluralismus und das Erfordernis, ein angemessenes Gleichgewicht und ein Ausgleich herzustellen, wenn die in mehreren Verträgen verankerte Grundrechte und Grundsätze betroffen sind. Hier ließen sich nach Schmeller eben Muster der Rechtsprechung des EuGH ausmachen, indem er der Position individueller Religionsfreiheit insgesamt ein sehr hohes Gewicht zuweist. Dies zeige sich vor allem dabei, dass der EuGH sich bisweilen über das einen schwächeren Schutz forcierende Vorbringen von Verfahrensbeteiligten, Mitgliedstaaten oder Generalanwälten hinwegsetze, nur scheinbar neutrale Regelungen sensibel als Ausstrahlung auf Gehalte individueller Religionsfreiheit reflektiere und das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers als Ausgangspunkt seiner Prüfung betonte. Insgesamt zeigt sich aus dem von Schmeller analysierten Material der Urteile neben dem kooperativen Umgang mit den mitgliedstaatlichen religionsrechtlichen Ordnungen und den Gerichten auch eine konsequente Einbindung der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

Korporative Religionsfreiheit

Schmeller setzt sich in einem weiteren Schritt nun nach der Befassung mit der individuellen Religionsfreiheit mit dem korporativen staatlichen Religionsgemeinschaftsrecht auseinander, wobei er sich in seinen Ausführungen im Detail vor allem auf die Bereiche Wettbewerbsrecht, Datenschutzrecht und Antidiskriminierungsrecht bezieht. Dabei wird Art. 10 Gundrechtecharta hier gar regelmäßig nicht in die Prüfung aufgenommen, es zeigt sich aber im Handeln des EuGH eine hohe Responsativität des Gerichtshofes gerade in den Argumentationen gegenüber den mitgliedsstaatlichen Gerichten und dem EGMR. Der EuGH erfülle damit nach Schmeller nicht nur seine Rolle im europäischen Rechtsprechungsverbund (vgl. Art. 52 Abs 3 Grundrechtecharta), sondern nehme auch auf mitgliedsstaatliche Besonderheiten und das dort individuell austarierte Niveau der korporativen Religionsgemeinschaft Rücksicht.

Grenzbestimmungen und Schranken

Im dritten großen Kapitel befasst sich unser Autor mit dem Verhältnis von mitgliedstaatlichem und Unionsrecht als „Mehrebenenrecht“, wobei unionalem Recht hier auch die Funktion von Grenzbestimmungen zukomme. Aus den Mustern der Urteilsanalysen ergibt sich darüber hinaus, dass der Gerichtshof den Wertungen durch die Mitgliedsstaaten im Rahmen seiner Verpflichtung auf Rechtseinheit, Vorrang und Autonomie des Unionsrechts materiell Rechnung trägt. Grundsätzlich gilt Art 17 Abs. 1 AEUV als Basis zur Achtung des Status, „den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“ Der EuGH behandle diese Norm nach Schmeller kritikwürdig und undurchsichtig, wenngleich sein Umgang mit religionsgemeinschaftlichen Strukturen als Ausdruck mitgliedstaatlicher Eigenheit vor dem Hintergrund des umfassenden unionalen Kontextes verschiedener Positionen, in den jene eingebettet sind, beurteilt werden müsse. Die Schranken der Grundrechtecharta ließen sich dabei in Bezug auf die weitgehend sekundärrechtlich operierende Rechtsprechung des Gerichtshofs nach Meinung Schmöllers kaum aktivieren. In diesem Zusammenhang könne die Klausel des Art. 17 Abs 1. AEUV für sich im komplexen Unionsverfassungssystem keinen Primat beanspruchen und wirke heute bereits im Sinne einer Abwägung in der Rechtsprechung des EuGH.

Grenzen durch die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts

Es sei zweifellos eine Herausforderung, eine kohärente Rechtsprechung zu entwickeln, die kollidierende Rechte gerecht ausbalanciert und schützt und dabei die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Auffassungen der Mitgliedstaaten von Religionsfreiheit berücksichtigt. Da die Grundrechte von Einzelpersonen, Organisationen und Unternehmen miteinander kollidieren, gebe es zudem keine ideale, perfekte Lösung. Ziel der Arbeit Schmellers war es offensichtlich auch, herauszuarbeiten, wo Spannungen und Konflikte mit den nationalen Rechtsordnungen (hier besonders Deutschland und die Situation des Bundesverfassungsgerichts) grundlegend sind, wo also ein offener Verfassungskonflikt droht und wo umgekehrt nicht. Würde der EuGH dort einen Ermessensspielraum belassen, wo eine nationale Besonderheit einer einheitlichen Auslegung entgegensteht, würde die Stärke der europäischen Rechtsordnung erheblich untergraben. Dies würde nicht nur die Einheitlichkeit, sondern auch die Wirksamkeit der europäischen Rechtsordnung beeinträchtigen. Die Analyse hat gezeigt, dass bei religiösen Symbolen am Arbeitsplatz der margin of appreciation-Ansatz erfolgreich grundlegende Konflikte vermeidet. Aus der Perspektive der europäischen Verfassungsordnung hätte der EuGH sogar eine strengere Prüfung vornehmen können. Obwohl es an einem Konsens zwischen den Mitgliedstaaten mangelt, sei nicht erkennbar, dass ein etwas strengerer Ansatz zu grundlegenden Konflikten geführt hätte. Hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfung religiöser Arbeitgeber und ihrer beruflichen Anforderungen wurde deutlich, dass ein wesentlich liberalerer und zurückhaltenderer Ansatz aus Sicht der europäischen Verfassungsordnung wünschenswerter gewesen wäre. Mit seinen Egenberger- und IR/JQ-Urteilen habe der EuGH das Recht auf Rechtsschutz und die individuelle negative Religionsfreiheit gestärkt. Damit hat er jedoch die Verfassungswirklichkeit Deutschlands, Zyperns und letztlich der EU insgesamt verkannt, die nach wie vor auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beruht.

Im Lichte dieser Feststellungen ist zu folgern, dass der EuGH in Fällen, in denen es um religiöse Symbole am Arbeitsplatz geht, eine strengere Kontrolle hätte vornehmen müssen, beispielsweise einen höheren Rechtfertigungsstandard für das Bedürfnis nach Neutralität oder das Bedürfnis des Einzelnen, ein bestimmtes Symbol aufgrund seiner religiösen Überzeugungen zu tragen. Dies würde zu mehr Religionsfreiheit in der EU führen, ohne dass es zu verfassungsrechtlichen Konflikten kommt. In Bezug auf berufliche Anforderungen durch religiöse Arbeitgeber hätte der EuGH mehr Selbstbeschränkung üben und der Justiz der Mitgliedstaaten mehr Spielraum lassen sollen, um einen Verfassungskonflikt zu vermeiden. Dies sei zwar im Hinblick auf die Einheitlichkeit des EU-Rechts und im Hinblick auf den Schutz der negativen Religionsfreiheit und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nicht wünschenswert, trage aber der Komplexität einer supranationalen Rechtsordnung und der darin enthaltenen Rechtsprechung Rechnung.

Ausblick

Tilman Schmellers Untersuchung zeigt uns: Die Religionsfreiheit ist ein wesentliches Merkmal liberaler Demokratien und damit aller Mitgliedstaaten der EU. Einen aktuellen Überblick und eine Einordnung sowie Analyse durchzuführen gelingt dem Autor Tilman Schmeller bei aller gebotenen inhaltlichen Breite. Das Werk ist ansprechend gegliedert und besticht den Leser in den vielen Einzeldetails und Verknüpfungen der Materie und setzt sich damit zum Ziel dieser Monographie, eine jüngere neue dynamische Dimension der Judikatur ausführlich zu analysieren und einzuordnen . Ein umfassend aktualisiertes Literaturverzeichnis lädt den aufmerksamen Leser noch zusätzlich zur Vertiefung der Materie ein. Insgesamt gesehen ist diese Monographie ein sehr nützliches Hilfsmittel für Wissenschaft und Praxis, um das Verständnis der Judikatur und die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH wahrzunehmen und einzuschätzen.

Die prägnante Analyse und sprachliche Raffinesse Schmellers hat jedoch herausgearbeitet, wie der Ausgleich zwischen diesen widerstreitenden Rechten aus der Perspektive der europäischen Verfassungsordnung gefunden werden kann. Die Sensibilität des Themas macht die Rechtsprechung zur Religionsfreiheit in einer supranationalen Gemeinschaft schwierig. Der EuGH sollte jedoch seine Rechtsprechung überdenken; er sollte das Risiko eines Verfassungskonflikts und seiner Folgen ernst nehmen und versuchen, den nationalen Lehrmeinungen entgegenzukommen. Einheitlichkeit ist kein Selbstzweck, vielmehr kann es sich die Europäische Union leisten, kulturelle und historische Unterschiede zu wahren und nationale Verfassungsidentitäten zu respektieren.