Rezension zu: Tilman Schmeller, EuGH und Religionsfreiheit. Zu Grund und Grenzen eines konstitutionellen Momentums in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (= Untersuchungen über Recht und Religion 4), Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XIV, 298 Seiten. ISBN 978-3-16-162201-4

Von Harald Tripp.

Tilman Schmeller nimmt sich in seinen Ausführungen – mehr als siebzig Jahre nach Errichtung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg – vor, die Rechtsprechung dieses Gerichtshofes im Blick auf das Grundrecht der Religionsfreiheit auszuloten. Dabei geht er in drei einzelnen Untersuchungen vor, zeichnet in einem ersten Schritt den Hintergrund der Rechtsprechungslinie des Luxemburger Gerichtshofes auf und beschäftigt sich dabei intensiv mit dem Wesen und dem Selbstbild des Gerichts. Im zweiten Schritt analysiert er Urteile umfassend und leitet aus ihnen Muster ab, die eine Befassung des EuGH mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit prägen. In einer dritten Untersuchung vermisst Schmeller die allgemeinen Grenzen der EuGH-Judikatur neu und versteht das nationale Religionsrecht als Ausdruck soziokultureller Wahrnehmungen.

Konstitutionelles Momentum

Der Begriff des „konstitutionellen Momentums“ dient dem Autor bei seinen Ausführungen, auf einen wichtigen Umstand in der Entwicklung des EuGH im Blick auf die Religionsfreiheit hinzuweisen. Die Phase ab 2017 stellt dabei eine Bewegungskraft mit einer neuen dynamischen Dimension auf, die für den Autor den Beginn einer neuen Phase in der konstitutionellen Judikatur des EuGH einleitet. Für Schmeller sei in der Geschichte der Europäischen Union feststellbar, dass der europäische Kostitutionalismus in der Rechtsprechung des EuGH seit einigen Jahren in eine neue Phase eingetreten sei, die dadurch gekennzeichnet wäre, dass der Gerichtshof offensiv konstitutionell argumentiere, indem er die Werte des Art. 2 S.1 EUV als verfassungsrechtliche Leitprinzipien immer stärker durch seine Judikatur greifbar mache und dabei zudem eine deutlich wahrnehmbare Grundrechtsprechung ausbilde.

Wertekonstitution

Im ersten Kapitel untersucht Schmeller folglich die Grundrechtsprechung der letzten Jahre in der Judikatur des EuGH und befasst sich vornehmlich mit der Werteordnung der EU als Metaprinzipien ihrer Verfassung sowie der gegenwärtigen Krise der Rechtsstaatlichkeit, die dazu geführt habe, dass es in der Judikatur jüngst eine Zunahme an Werterechtsprechung gegeben hat. Hierbei differenziert der Autor zwischen staatsstrukturellen (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, mitgliedstaatliche Gleichheit) und grundrechtlichen Werten (Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, unionsbürgerliche Gleichheit). Nach Meinung des Autors erodiere die Rechtsstaatlichkeit in einigen Ländern der EU, wobei gerade die Werterechtsprechung des EuGH als Übersetzung von Werten in konkrete Ableitungen eine schützende Dimension erhalten würde. Wichtig sei dabei jedoch die Feststellung, dass erst wenn eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts nicht nur auf die, sondern auch in den Mitgliedsstaaten sichergestellt ist, von Gleichheit ausgegangen werden kann. Nach Meinung des Autors ginge mit den jüngsten Judikaten des EuGH eine Veränderung einher, wobei die Autonomie des Unionsrechts vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen von EuGH und anderen Gerichten diskutiert wird. An zwei Beispielen zeigt Schmeller auf, dass sich die Einheit und Autonomie des Unionsrechts in sich konsequent gegen verschiedenartig gestaltete Heteronomie von außen abschirme. Demokratiestaatlichkeit sei ein besonderer Wert der EU, daher befasse sich der EuGH bei der Ausgestaltung der Werte mit einzelnen Verfassungsnormen (Rechtsstaatlichkeit), verfassungstheorethischen Figuren (mitgliedstaatliche Gleichheit) sowie mit den Fragen nach den Grundrechten (Demokratie).

Modi der Grundrechtsprechung des EuGH

Im zweiten Kapitel befasst sich Schmeller zunächst mit der stärker als bisher wahrnehmbaren Grundrechtsprechung des EuGH, die nach dem verbindlichen Inkrafttreten der Charta der europäischen Grundrechte im Dezember 2009 erst und gerade in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung genommen und einen deutlich höheren Raum in der Judikatur des EuGH eingenommen habe. Für unseren Autor zeige sich hier sehr deutlich, dass die Grundrechtsprechung des EuGH nicht von dem verfassungsrechtlichen Momentum der übrigen Werterechtsprechung losgelöst, sondern mit ihr vielmehr inhaltlich verwandt sei. Historisch habe sich der EuGH hier zu einem Akteur der proaktiven Ausgestaltung grundrechtlicher Dogmatik entwickelt.

Im Folgenden differenziert Schmeller die Grundrechtsprechung des Gerichtshofes anhand der beiden zentralen Modi unionaler Judikatur, der Charta der Grundrechte sowie dem Sekundärrecht bevor er thematische Felder der neueren Grundrechtsprechung sowie eine Bewertung der thematischen Schwerpunktsetzung der neuen unionalen Befassung mit Grundrechten vornimmt. Dabei betont unser Autor die Herausforderung des EuGH auf 27 Rechtssysteme einzugehen und für sich eine komplexe akkulturierende dogmatische Linie schaffen zu müssen. Anlehnen würde sich der EuGH dabei sehr stark an die deutsche Rechtsprechung und an die Tätigkeit des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog als vormaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, auch im Blick auf das Urteilsschema im Umgang mit den Garantien der Grundrechtecharta in die Prüfungspunkte „Schutzbereich“, „Einschränkung“ und „Rechtfertigung“, wobei dieser letzte Punkt sich wieder in die drei Schritte „Legitimer Zweck“, „Geeignetheit“, „Erforderlichkeit“ und „Verhältnismäßigkeit“ unterteilen lässt. Mit ihrem Sekundärrecht bestimme die EU laut Schmeller weltweite Rechtsstandards, die Ausgestaltung von grundrechtlichen Garantien über dieses Sekundärrecht führe zu einer Verwirklichung und erlebbaren Geltung der Grundrechte weltweit, die laut Feststellung unseres Autors mit der Auseinandersetzung nur über die Grundrechtecharta so nicht möglich wären. Schmeller lotet hier einzelne thematische Felder der EuGH-Judikatur aus, unter denen er vor allem den Bereichen Justizgrundrechte, Antidiskriminierung, Recht auf gute Verwaltung, Datenschutz sowie Berufs- und Unternehmensfreiheit als häufigste Grundrechtsfelder große Bedeutung beimisst und diese entsprechend umfassend analysiert. Im Blick auf das Religionsverfassungsrecht wäre dieses laut Schmeller mittelbar über das Antidiskriminierungs- und Datenschutzrecht sowie über den Zugang zu staatlichen Gerichten als Ausprägung der Justizgrundrechte berührt.

Religionsrechtliche Kompetenz des EuGH

Die wachsenden Spannungen im Verhältnis von Europa- und staatlichem Religionsgemeinschaftsrecht übersteige eine erhöhte Grundrechtsprechung, vielmehr könne laut unserem Autor in Bezugnahme auf Art. 10 Grundrechtecharta eine bemerkenswerte Entwicklung wahrgenommen werden: Von 2017 bis 2021 sind neun Urteile ergangen, in denen sich der EuGH mit Art. 10 Grundrechtecharta befasst, hinzu kommen noch weitere Urteile mit religiösem Hintergrund, die sich im Bereich des Sekundärrechts ohne Bezug auf die Grundrechtecharta entfalten. Somit diagnostiziert Schmeller einen spektakulären Anstieg während der letzten Jahre im Blick auf Urteile, die sich auf die Religionsfreiheit beziehen und er spricht deshalb von einer neuen Phase der EuGH-Grundrechtsprechung seit 2009. Die Religionsfreiheit ist ein komplexer Begriff, der durch die Religionsfreiheit als Individualrecht, einschließlich des forum internum und externum, geschützt wird. Darüber hinaus beinhaltet diese Religionsfreiheit auch eine kollektive Dimension, also ein Recht auf Selbstbestimmung für Religionsgemeinschaften. Dieses Recht ist auch in einigen nationalen Verfassungen ausdrücklich verankert. Und schließlich trägt auch das Antidiskriminierungsrecht zur Religionsfreiheit bei. Die Auslegung und Umsetzung bestehender Gesetze zu den Religionsfreiheiten wird stark von historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst, die in jedem Mitgliedstaat anders sind, ist die EU in dieser Hinsicht eine sehr heterogene Gemeinschaft.

EuGH als „Grundrechtegericht“

Der EuGH entwickle sich laut Darstellung unseres Autors immer mehr zum „Grundrechtegericht“ auf dem Weg von der Wirtschafts- zur Werteunion, vom Wirtschafts- zum Verfassungsgericht. Die Grundrechtsprechung des EuGH setze nach Schmöller Schwerpunkte, nach denen ein bestimmtes Kultur-, ein Wertesystem der EU auszumachen sei, das der Sinn des von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens sein soll. Religionsfreiheit umfasse nach Schmeller die Freiheit der Religionsausübung individuell und in Gemeinschaft sowie der Zusammenschluss zu einer dauerhaften Gemeinschaft, die um die korporative Religionsfreiheit (Beschränkung und Förderung religionsrechtlicher Belange) erweitert werden. Das staatliche Religionsgemeinschaftsrecht behandle somit das Recht der korporativen Religionsfreiheit nach unserem Autor als einem von insgesamt vier Teilen des Grundrechts der Religionsfreiheit insgesamt und daraus resultiere, dass sich die Rechtsprechung des EuGH zur Religionsfreiheit als solche zum staatlichen Religionsgemeinschaftsrecht begreifen und analysieren lässt. Nach Schmeller werde die Materie des Religionsgemeinschaftsrechts damit sowohl über mitgliedstaatliche wie auch über unionale Normen als Substrat gebildet und laut unserem Autor über die hierzu ergehende mitgliedstaatliche wie unionale Rechtsprechung als weitere Form der Kompetenzwahrnehmung geprägt. Religionsfreiheit vereine damit rechtlich nicht hierarchisierbare, mithin parallele Kompetenzen, die sich nicht einseitig als national oder unional prägen ließen.

Vier religionsrechtliche Grundsätze der EU

Religionsrecht und Religionspolitik der EU lassen sich grundsätzlich auf vier Grundsätze zurückführen: Achtung mitgliedstaatlicher Systemgestaltung, Dialog mit den Religionsgemeinschaften, Garantie korporativer Religionsfreiheit und die Nichtdiskriminierung aus religiösen Gründen. Schmeller verweist hier in seiner gelungenen Analyse auf die Notwendigkeit der Ausübung unional-legislativer Kompetenz auf dem Gebiet des staatlichen Religionsrechts, dies insbesondere in den Bereichen des Steuerrechts, Baurechts sowie bei Markenschutzbestimmungen, Datenschutz und Wettbewerbsrecht und Antidiskriminierungsrecht (Kirchl. Arbeitsrecht). Diese Bereiche bilden hier wichtige Themenfelder der Reflexion unseres Autors, der sodann einzelne Urteile auf dem Gebiet der individuellen Religionsfreiheit und des staatlichen Religionsrechts durch den EuGH untersucht. Schmeller analysiert einige formale und methodische Zugänge zu den Urteilen und dem Stil der Argumentation sowie einer Gewichtung der Auslegungsmethoden durch den EuGH.

Individuelle Religionsfreiheit

Breiten Raum widmet die Darstellung unseres Autors den tierschutzrechtlichen, migrationsrechtlichen sowie antidiskriminierungsrechtlichen Themenfeldern, welche sich auf die individuelle Sphäre der Religionsgemeinschaft beziehen. Durch Analyse und Vergleich ordnet Schmeller die Materie praktisch, sodass dem Leser durch den Inhalt die einzelnen Urteile veranschaulicht dargestellt und kommentiert werden. Beim Tierschutzrecht sowie beim Migrationsrecht, dem Antidiskriminierungsrecht in den Bereichen Kopftuch am Arbeitsplatz sowie Wahrnehmung der religiösen Feiertage betont der EuGH den gesellschaftlichen Pluralismus und das Erfordernis, ein angemessenes Gleichgewicht und ein Ausgleich herzustellen, wenn die in mehreren Verträgen verankerte Grundrechte und Grundsätze betroffen sind. Hier ließen sich nach Schmeller eben Muster der Rechtsprechung des EuGH ausmachen, indem er der Position individueller Religionsfreiheit insgesamt ein sehr hohes Gewicht zuweist. Dies zeige sich vor allem dabei, dass der EuGH sich bisweilen über das einen schwächeren Schutz forcierende Vorbringen von Verfahrensbeteiligten, Mitgliedstaaten oder Generalanwälten hinwegsetze, nur scheinbar neutrale Regelungen sensibel als Ausstrahlung auf Gehalte individueller Religionsfreiheit reflektiere und das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers als Ausgangspunkt seiner Prüfung betonte. Insgesamt zeigt sich aus dem von Schmeller analysierten Material der Urteile neben dem kooperativen Umgang mit den mitgliedstaatlichen religionsrechtlichen Ordnungen und den Gerichten auch eine konsequente Einbindung der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

Korporative Religionsfreiheit

Schmeller setzt sich in einem weiteren Schritt nun nach der Befassung mit der individuellen Religionsfreiheit mit dem korporativen staatlichen Religionsgemeinschaftsrecht auseinander, wobei er sich in seinen Ausführungen im Detail vor allem auf die Bereiche Wettbewerbsrecht, Datenschutzrecht und Antidiskriminierungsrecht bezieht. Dabei wird Art. 10 Gundrechtecharta hier gar regelmäßig nicht in die Prüfung aufgenommen, es zeigt sich aber im Handeln des EuGH eine hohe Responsativität des Gerichtshofes gerade in den Argumentationen gegenüber den mitgliedsstaatlichen Gerichten und dem EGMR. Der EuGH erfülle damit nach Schmeller nicht nur seine Rolle im europäischen Rechtsprechungsverbund (vgl. Art. 52 Abs 3 Grundrechtecharta), sondern nehme auch auf mitgliedsstaatliche Besonderheiten und das dort individuell austarierte Niveau der korporativen Religionsgemeinschaft Rücksicht.

Grenzbestimmungen und Schranken

Im dritten großen Kapitel befasst sich unser Autor mit dem Verhältnis von mitgliedstaatlichem und Unionsrecht als „Mehrebenenrecht“, wobei unionalem Recht hier auch die Funktion von Grenzbestimmungen zukomme. Aus den Mustern der Urteilsanalysen ergibt sich darüber hinaus, dass der Gerichtshof den Wertungen durch die Mitgliedsstaaten im Rahmen seiner Verpflichtung auf Rechtseinheit, Vorrang und Autonomie des Unionsrechts materiell Rechnung trägt. Grundsätzlich gilt Art 17 Abs. 1 AEUV als Basis zur Achtung des Status, „den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“ Der EuGH behandle diese Norm nach Schmeller kritikwürdig und undurchsichtig, wenngleich sein Umgang mit religionsgemeinschaftlichen Strukturen als Ausdruck mitgliedstaatlicher Eigenheit vor dem Hintergrund des umfassenden unionalen Kontextes verschiedener Positionen, in den jene eingebettet sind, beurteilt werden müsse. Die Schranken der Grundrechtecharta ließen sich dabei in Bezug auf die weitgehend sekundärrechtlich operierende Rechtsprechung des Gerichtshofs nach Meinung Schmöllers kaum aktivieren. In diesem Zusammenhang könne die Klausel des Art. 17 Abs 1. AEUV für sich im komplexen Unionsverfassungssystem keinen Primat beanspruchen und wirke heute bereits im Sinne einer Abwägung in der Rechtsprechung des EuGH.

Grenzen durch die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts

Es sei zweifellos eine Herausforderung, eine kohärente Rechtsprechung zu entwickeln, die kollidierende Rechte gerecht ausbalanciert und schützt und dabei die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Auffassungen der Mitgliedstaaten von Religionsfreiheit berücksichtigt. Da die Grundrechte von Einzelpersonen, Organisationen und Unternehmen miteinander kollidieren, gebe es zudem keine ideale, perfekte Lösung. Ziel der Arbeit Schmellers war es offensichtlich auch, herauszuarbeiten, wo Spannungen und Konflikte mit den nationalen Rechtsordnungen (hier besonders Deutschland und die Situation des Bundesverfassungsgerichts) grundlegend sind, wo also ein offener Verfassungskonflikt droht und wo umgekehrt nicht. Würde der EuGH dort einen Ermessensspielraum belassen, wo eine nationale Besonderheit einer einheitlichen Auslegung entgegensteht, würde die Stärke der europäischen Rechtsordnung erheblich untergraben. Dies würde nicht nur die Einheitlichkeit, sondern auch die Wirksamkeit der europäischen Rechtsordnung beeinträchtigen. Die Analyse hat gezeigt, dass bei religiösen Symbolen am Arbeitsplatz der margin of appreciation-Ansatz erfolgreich grundlegende Konflikte vermeidet. Aus der Perspektive der europäischen Verfassungsordnung hätte der EuGH sogar eine strengere Prüfung vornehmen können. Obwohl es an einem Konsens zwischen den Mitgliedstaaten mangelt, sei nicht erkennbar, dass ein etwas strengerer Ansatz zu grundlegenden Konflikten geführt hätte. Hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfung religiöser Arbeitgeber und ihrer beruflichen Anforderungen wurde deutlich, dass ein wesentlich liberalerer und zurückhaltenderer Ansatz aus Sicht der europäischen Verfassungsordnung wünschenswerter gewesen wäre. Mit seinen Egenberger- und IR/JQ-Urteilen habe der EuGH das Recht auf Rechtsschutz und die individuelle negative Religionsfreiheit gestärkt. Damit hat er jedoch die Verfassungswirklichkeit Deutschlands, Zyperns und letztlich der EU insgesamt verkannt, die nach wie vor auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beruht.

Im Lichte dieser Feststellungen ist zu folgern, dass der EuGH in Fällen, in denen es um religiöse Symbole am Arbeitsplatz geht, eine strengere Kontrolle hätte vornehmen müssen, beispielsweise einen höheren Rechtfertigungsstandard für das Bedürfnis nach Neutralität oder das Bedürfnis des Einzelnen, ein bestimmtes Symbol aufgrund seiner religiösen Überzeugungen zu tragen. Dies würde zu mehr Religionsfreiheit in der EU führen, ohne dass es zu verfassungsrechtlichen Konflikten kommt. In Bezug auf berufliche Anforderungen durch religiöse Arbeitgeber hätte der EuGH mehr Selbstbeschränkung üben und der Justiz der Mitgliedstaaten mehr Spielraum lassen sollen, um einen Verfassungskonflikt zu vermeiden. Dies sei zwar im Hinblick auf die Einheitlichkeit des EU-Rechts und im Hinblick auf den Schutz der negativen Religionsfreiheit und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nicht wünschenswert, trage aber der Komplexität einer supranationalen Rechtsordnung und der darin enthaltenen Rechtsprechung Rechnung.

Ausblick

Tilman Schmellers Untersuchung zeigt uns: Die Religionsfreiheit ist ein wesentliches Merkmal liberaler Demokratien und damit aller Mitgliedstaaten der EU. Einen aktuellen Überblick und eine Einordnung sowie Analyse durchzuführen gelingt dem Autor Tilman Schmeller bei aller gebotenen inhaltlichen Breite. Das Werk ist ansprechend gegliedert und besticht den Leser in den vielen Einzeldetails und Verknüpfungen der Materie und setzt sich damit zum Ziel dieser Monographie, eine jüngere neue dynamische Dimension der Judikatur ausführlich zu analysieren und einzuordnen . Ein umfassend aktualisiertes Literaturverzeichnis lädt den aufmerksamen Leser noch zusätzlich zur Vertiefung der Materie ein. Insgesamt gesehen ist diese Monographie ein sehr nützliches Hilfsmittel für Wissenschaft und Praxis, um das Verständnis der Judikatur und die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH wahrzunehmen und einzuschätzen.

Die prägnante Analyse und sprachliche Raffinesse Schmellers hat jedoch herausgearbeitet, wie der Ausgleich zwischen diesen widerstreitenden Rechten aus der Perspektive der europäischen Verfassungsordnung gefunden werden kann. Die Sensibilität des Themas macht die Rechtsprechung zur Religionsfreiheit in einer supranationalen Gemeinschaft schwierig. Der EuGH sollte jedoch seine Rechtsprechung überdenken; er sollte das Risiko eines Verfassungskonflikts und seiner Folgen ernst nehmen und versuchen, den nationalen Lehrmeinungen entgegenzukommen. Einheitlichkeit ist kein Selbstzweck, vielmehr kann es sich die Europäische Union leisten, kulturelle und historische Unterschiede zu wahren und nationale Verfassungsidentitäten zu respektieren.

Kommentar zu OGH vom 19.12.2022,9 ObA 124/22h

Von Florian Pichler.

DOI: 10.25365/phaidra.396

Bedauerlicherweise sind Diskriminierung (darunter Formen von Mobbing) keine Seltenheit in der Arbeitswelt. Dass jedoch der OGH einen Streit zwischen einem orthodoxen Priester und seinem Bischof aufgrund von zwischenmenschlichem Fehlverhalten im Kontext der priesterlichen „Arbeit“ und dem hierarchischen „Dienstverhältnis“ klären soll, ist eine Seltenheit:

Der Sachverhalt

„Der Kläger steht als Priester im Dienste einer der griechisch-orientalischen (orthodoxen) Kirchengemeinden in Österreich und ist in (…) Pfarrgemeinden (…) im Auftrag des Bischofs tätig. Mit seiner an das Arbeits- und Sozialgericht gerichteten Klage begehrt der Kläger von der Beklagten (…) Schmerzengeld wegen Mobbing durch den Bischof (…). Dem von der Beklagten erhobenen Einwand der Unzulässigkeit des Rechtswegs hielt der Kläger entgegen, dass er mit seinem Begehren einen Anspruch aus dem zwischen den Parteien bestehenden Dienstverhältnis geltend mache, der nicht vom verfassungsrechtlichen Gebot der Freiheit der Religionsausübung umfasst sei (9ObA124/22h)“.

Der Kläger behauptet gegenüber dem Arbeitsgericht, dass sein zuständiger orthodoxer Bischof „ihn (…) mehrfach übergangen und öffentlich schlecht gemacht, nicht zu einem Treffen aller Priester in Österreich eingeladen und die Versetzung des Klägers beabsichtigt und angeordnet habe.“

Der Sachverhalt gibt Einblick in ein tiefes Zerwürfnis zwischen einem Priester und seinem Bischof in der Orthodoxen Kirche. Es mag daher verständlich sein, dass er sich im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit, die er als seine „Arbeit“/seinen „Beruf“ empfindet, an die staatlichen Gerichte wendet und versucht gegen das betreffende Verhalten seines Vorgesetzen vorzugehen. Den subjektiven Anspruch des einzelnen Rechtsunterworfenen (Bürger:in) auf Entscheidung eines Rechtsstreits durch staatliche Organe bezeichnet man als Justizgewährungsanspruch (vgl. Kowatsch, in Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp, 111 Begriffe des österr. Religionsrecht 2022, 193–196). Der einzelne hat Anspruch darauf, dass sein Rechtsstreit von einem staatlichen Gericht beurteilt wird.

Nicht immer:

Zwar zählt das Rechtsschutzprinzip zu den Rechtsprinzipien und Baugesetzen der demokratischen Republik, jedoch gibt es explizit Bereiche, in denen sich nicht nur der staatliche Gesetzgeber, sondern auch die richterliche Gewalt nicht einmischen (vgl. hierzu spezifisch OrthodoxenG 1967 StF: BGBl. Nr. 229/1967 idgF BGBl. I Nr. 68/2011). Dies an der Abgrenzung der inneren Angelegenheiten von den äußeren Rechtsverhältnissen (vgl. Potz, in: Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp, 111 Begriffe des österr. Religionsrechts, 173–176; Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (2003), 65-70, 272–301) bzw. dort, wo der Staat eine Schranke durch die „allgemeinen Staatsgesetze“ (Vgl. Art. 15 StGG) setzt und die inneren Angelegenheiten dadurch einschränkt.

Innere Angelegenheiten sind jene Regelungstatbestände, die der Staat aufgrund der Selbstorganisation der Kirchen und Religionsgesellschaften nicht antasten darf. Sie regeln diese autonom. Art. 9 EMRK bzw. Art. 15 StGG sichern diese inneren Angelegenheiten verfassungsrechtlich vor einer staatlich-gesetzlichen Regelung und auch vor einer staatlich-richterlichen Beurteilung. Sie zu schützen oder einzuschränken ist Aufgabe des Rechtstaates (vgl. Korinek, zu Art. 9 EMRK, in: Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Rnn. 8–12; Muzak, Art 9 MRK [Stand 1.10.2020, rdb.at], Rn. 9).

Diesem Grundsatz folgt der arbeitsrechtliche Senat des OGH in seiner rechtlichen Beurteilung:

„Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass der Staat und damit die weltlichen Gerichte in den innerkirchlichen Bereich nicht eingreifen dürfen, sodass der Rechtsweg in solchen Angelegenheiten unzulässig ist (Art 15 StGG (…) Zu den „inneren Angelegenheiten“ im Sinne des Art 15 StGG zählen jene, welche den inneren Kern der kirchlichen Betätigung betreffen und in denen ohne Autonomie die Religionsgesellschaften in der Verkündung der von ihnen gelehrten Heilswahrheiten und der praktischen Ausübung ihrer Glaubenssätze eingeschränkt wären. Der sich daraus ergebende Bereich der inneren Angelegenheiten kann naturgemäß nicht erschöpfend aufgezählt werden (…). Im Hinblick auf die Weite der Autonomiegarantie des Art 15 StGG sind auch die Arbeitsverhältnisse derjenigen Personen, die mit inneren Angelegenheiten befasst sind, konsequenterweise Teil der inneren Angelegenheiten (…). Auch bei Dienstrechtsstreitigkeiten scheiden daher aus der Beurteilung durch das Gericht alle Vorfragen aus, welche etwa die Rechtsgültigkeit der Amtsenthebung, der Pensionierung, der Disziplinarstrafen, einer Versetzung oder die Änderung der kirchlichen Organisation und die damit verbundene Auflassung von Pfarren etc. betreffen.“

Mitarbeiter:innen des Bischofs: Laien und Kleriker, Arbeitnehmer:innen und Unterhaltsempfänger

Bei der Lektüre des Urteils ist es notwendig, drei innere Angelegenheiten etwas näher zu beleuchten. Selbst unter den christlichen (vor- und insb. nachreformatorischen) Kirchen gibt es deutliche Unterschiede bei der Wahl der Lebensform, des Arbeits- bzw. Tätigkeitsverhältnisses zum kirchlichen Arbeits- oder Unterhaltsgeber und den innerkirchlichen Gerichten, die solche Streitfragen zu lösen haben:

1. Innere Angelegenheit: Das religiöse Angebot der Lebensformen:

In den vorreformatorischen Kirchen herrscht bis heute eine Standestrennung vor, die Gläubige in zwei bis drei große Gruppen aufteilt: Die einen werden Laien genannt, die anderen sind aufgrund besonderer Gelübde in den Lebensstand der Kleriker und/oder der Ordensleute eingetreten. Alle sind durch die Taufe zu Mitgliedern der Kirche geworden. Im Laufe ihres religiösen Lebens entscheiden sie sich, einer bestimmten religiösen Standesgruppe anzugehören und besondere religiöse Tätigkeiten zu übernehmen. Meistens treten Männer durch Weihen in den Klerikerstand ein. Männer und Frauen versprechen dauerhaft, sich an eine Ordensgemeinschaft zu binden oder eine besondere religiöse Lebensform zu wählen und werden dadurch zu Ordensmitgliedern und Rätechristen. Im überwiegenden Fall leben Kleriker und Ordensangehörige zölibatär.

Die drei klassischen consilia evangelica finden sich im Matthäusevangelium: Mt 19,12 fordert die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen; Mt 19,12 fordert die Gütergemeinschaft im Ordensverband (Klostergemeinschaft) bzw. die Entsagung von übermäßigem Verlangen nach irdischen Gütern und Mt 20,26 fordert die Unterordnung in ein hierarchisches Gefüge im klösterlichen Verband oder gegenüber dem Bischof. Dies sind freiwillig übernommene Regeln für ein gelingendes religiöses Leben in einem besonderen religiösen Lebenstand. Diese zu regeln ist Kernaufgabe der inneren Angelegenheiten (in der Katholischen Kirche insb. c. 573 CIC, vgl. Meier, Gelübde, in: Meier, Kandler-Mayr, Kandler, 100 Begriffe aus dem Ordensrecht (2014),197–200).

2. Innere Angelegenheit: Das Anstellungs- bzw. Tätigkeitsverhältnis

Die überwiegende Anzahl der kirchlichen Mitarbeiter:innen steht heute in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis (etwa nach dem AngestelltenG) zu ihrem kirchlichen Dienstgeber. Im Regelfall sind diese der Gruppe der Laien innerhalb der jeweiligen Kirche zuzuordnen.

Ihr Gegenüber steht die besondere Personengruppe, die durch die Kirche (oder den Bischof) unterhalten werden. Sie empfangen keinen Lohn für ihre verrichtete Tätigkeit, sondern einen Unterhalt. Dieser Unterhalt wird Sustentation (vgl. Kowatsch, in 111-Begriffe, 317–320) genannt. Das Unterhaltsverhältnis ist kein Arbeitsverhältnis. Es wird innerhalb der meisten Kirchen als Inkardination (Ins-Herz-Schließen) bezeichnet. Die Verpflichtungen seitens des Unterhaltsgebers sind umfassender als bei einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis. Eine Kündigung gibt es nicht, der Ausschluss ist an strenge innerkirchliche Normen und Verfahren gebunden. Die Unterhaltshöhen variieren nach den Bedürfnissen der Inkardinierten (Unterhaltssumme, Ausbildung, Versicherungen, besondere Aufwände). Klassisch übernimmt der Inkardinationsträger auch die Versorgung im Alter und in Krankheit ohne zeitliche Begrenzung, denn er zahlt im Regelfall nicht in das staatliche Pensionssystem ein. Inkardiniert werden Kleriker von ihrem Bischof oder Ordensgeistliche von ihrem Ordensoberen. Sollte jemand den Inkardinationsverband verlassen, hat der kirchliche Unterhaltsgeber verschiedenen Pflichten nachzukommen, um derjenigen Person einen geregelten Start in der Arbeitswelt (inklusive Sozial- und Pensionssystem) außerhalb eines Inkardinationsverhältnis zu ermöglichen (§§ 4 (1) Z. 13, aber 5 (1) Z. 7 und § 314 ASVG, weiters Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 132 ArbVG Rz. 58).

Im betreffenden Fall ist der orthodoxe Priester (Pfarrer ist sein Verwendungszweck innerhalb der orthodoxen Kirche) inkardiniert und kein Arbeitnehmer in einem Dienstverhältnis nach staatlichem Recht. Er wird von seinem Bischof unterhalten und übt die Seelsorge – eine typische innere Angelegenheit von Kirchen und Religionsgesellschaften – als geistlicher Amtsträger im Auftrag des Bischofs aus. Nicht jeder Priester ist Pfarrer, aber jeder Pfarrer ist Priester. Beide sind jedoch Inkardinierte und unterstehen der religiösen Autorität, die zumeist Bischof genannt wird, der sie unterhält. Sie sind aber nicht durch einen Arbeitsvertrag an die religiöse Autorität gebunden.

3. Innere Angelegenheit: Die kirchenrechtliche Beurteilung von Streitigkeiten zwischen Inkardinierten und Inkardinationsbischof

Betont werden muss, dass Mobbing (bzw. Diskriminierung) zwischenmenschlich in keinem Arbeits- und keinem Inkardinationsverhältnis tolerabel ist. Im Arbeitsrecht ist dafür § 1 (1) Z. 1 GlBG einschlägig. Es gilt für „Arbeitsverhältnisse aller Art, die auf privatrechtlichem Vertrag beruhen“. Neben dieser Bestimmung sind Regeln der Moral, der Sitte oder religiöse Normen (grundlegend für Christen die Goldene Regel nach Mt 7,12 „Was Du nicht willst, das man Dir tut, …“) besonders für kirchliche Autoritäten Handlungsleitlinien, Gebote und religiös Verbindliches, gegen das ihre Verantwortungsträger:innen nicht verstoßen sollten. Nach § 17 (1) Z. 6 GlBG ist eine Belästigung (Mobbing) ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgesetz und wird als Diskriminierung betrachtet. Nach § 21 (2) Z. 1–3 GlBG liegt eine Diskriminierung nach § 17 auch vor, wenn die „Würde der betroffenen Person verletzt oder dies bezweckt“ wird oder der Arbeitgeber eine Verhaltensweise setzt, „die für die betroffene Person unerwünscht, unangebracht oder anstößig ist und (…) die ein einschüchterndes, feindseliges, entwürdigendes, beleidigendes oder demütigendes Umfeld für die betroffene Person schafft oder dies bezweckt.“

Nun beruht jedoch das Verhältnis dieses inkardinierten Priesters, der von seinem Bischof mit der Seelsorge und Leitung der orthodoxen Pfarren beauftragt wurde, nicht einem privatrechtlichen Vertrag, sondern einem Verhältnis sui generis, das zu den inneren Angelegenheiten nach Art. 15 StGG zählt. Er ist inkardinierter Unterhaltsempfänger und übt die Tätigkeit des Pfarrers aus, auf welche das GlBG nicht zutrifft. Dies ist die Quintessenz des OGH-Erkenntnisses.

Exkurs: Mobbing und Diskriminierung von kirchlichen Mitarbeiter:innen im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis

Angenommen es würde sich beim vorliegenden Sachverhalt um einen kirchlichen Mitarbeiter mit privatrechtlichem Anstellungsverhältnis handeln, wären einige Sondernormen des GlBG zu beachten: § 20 (1–2) GlBG enthält Ausnahmen in Bezug auf Merkmale der Religion und die geforderte Lebensform:

§ 20 (1) leg. cit: „Bei Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals“ nach „§ 17 genannten Diskriminierungsgründe steht, liegt keine Diskriminierung vor, wenn das betreffende Merkmal auf Grund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung darstellt (…). (2) Eine Diskriminierung auf Grund der Religion oder Weltanschauung liegt in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen (…), deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, nicht vor, wenn die Religion (…) dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“

Auch kirchliche Angestellte in privatrechtlichen Anstellungsverhältnissen (bsp.weise nach dem AngG) unterliegen den betreffenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen des GlBG nicht vollumfänglich. Gegen „Belästigungen“ iSv § 21 (1–4) GlBG können kirchliche Mitarbeiter:innen im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis den staatlichen Rechtsweg einschlagen. Sie ist eine Diskriminierung nach § 17 GlBG. Jedoch sind nicht alle in § 17 BlBG festgehaltenen Diskriminierungstatbestände auf Mitarbeiter:innen von Kirchen und Religionsgesellschaften anzuwenden.

Durch § 20 (1) GlBG ist es zulässig „wegen eines Merkmals (…)“ Arbeitnehmer:innen anders zu behandeln und ihn sie vom (rechtlichen) Vorwurf der Diskriminierung insbesondere im Hinblick auf ihren beruflichen Aufstieg und ihre Anstellung und Entlassung (§ 17 (1) Z. 1,5 und 7 GlBG) anders zu behandeln. Religionsgesellschaften (darunter diese orthodoxe Kirche) sind dabei als Tendenzbetriebe Arbeitgeber, die von ihren Arbeitnehmer:innen besondere Loyalitätspflichten und auch eine bestimmte private Lebensform fordern dürfen, wenn die „Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation“ darstellt. Hierzu sind beispielsweise Religionslehrer:innen oder leitende Angestellte der kirchlichen Verwaltung – u. a. auch Chefärzt:innen in kirchlichen Krankenhäuser (vgl. Fall Egenberger in Deutschland) – zu nennen. Der kirchliche Arbeitgeber ist ebenso frei, die Arbeitnehmer:innen mit unterschiedlich strengen Loyalitätspflichten zu beurteilen.

Fazit

Auf diese Details der Diskriminierungsbestimmungen gemäß GlBG nimmt der OGH bereits keine Rücksicht in seiner Entscheidung, weil er die Beurteilung des Umgangs zwischen Über- und Untergeordneten im Inkardinationsverband als innere Angelegenheit nicht beurteilt, wertet oder kontrolliert. Die Beschwerde des orthodoxen Pfarrers richtet sich „in Wahrheit gegen die inhaltliche Begründetheit“. Die „Äußerungen und Handlungen des Bischofs in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner priesterlichen Tätigkeit“ sind nicht zu beanstanden, da sie „zu diesem innerkirchlichen Bereich“ gehören. Für solche Streitigkeiten haben die meisten Kirchen innerkirchliche Gerichte und Schiedsinstanzen eingerichtet.

Auch der Vorbehalt nach Art. 15 StGG, wonach jede religiöse Autorität bei der Regelung der inneren Angelegenheiten den „allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen“ ist, und daher dem GlBG unterworfen sei, greift nicht. Der Staat kann die Regelungsfreiheit der inneren Angelegenheiten (Art. 9 EMRK/Art. 15 StGG) durch die allgemeinen Staatsgesetze nicht beliebig einschränken. Ansonsten würde eine Fülle von Einzelgesetzesbestimmungen die verfassungsgesetzlich gewährte Autonomie in den inneren Angelegenheiten unterlaufen. Gerade im GlBG nimmt er auf den autonomen Kern der inneren Angelegenheiten Rücksicht, zu diesem gehört die Übertragung eines geistliches Amtes (Pfarramt) und die Aufnahme oder Beendigung in den Inkardinationsverband (Aufnahme in den Klerikerstand/Priesterweihe), aber auch das privatrechtliche Arbeitsverhältnis kirchlicher Mitarbeiter:innen (ohne Inkardination, ohne Weihe). Er trifft Ausnahmebestimmungen zugunsten der verfassungsrechtlich geschützten inneren Angelegenheiten.

Das österreichische Religionsrecht vor Gericht. Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache C‑372/21 vom 2. Februar 2023

Von Andreas Kowatsch.

DOI: 10.25365/phaidra.395

1. Einführung

Besonderheiten des Europarechts

Mit der Mitgliedschaft in der EU ist die Verpflichtung der Staaten verbunden, alle Maßnahmen zu unterlassen, durch die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährdet werden könnte (vgl. Art. 4 Abs. 3 EU-V). Bereits seit den frühen 1960er-Jahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwei Wirkungen des Gemeinschaftsrechts (jetzt: Unionsrechts) herausgearbeitet, die die Wirksamkeit dieser „supranationalen“ Rechtsordnung gewährleisten sollen. Die „unmittelbaren Anwendbarkeit“ des Unionsrechts bedeutet, dass unter bestimmten Voraussetzungen (etwa im Fall einer Verordnung oder einer nicht ausreichend oder fristgerecht ins nationale Recht umgesetzten Richtlinie) das Unionsrecht unmittelbar für die Bürger:innen Rechte begründet. Im klassischen Völkerrecht haben im Normalfall nur die Staaten gegeneinander Rechtsansprüche. Die zweite Wirkung ist der „Anwendungsvorrang“, den die Rechtsakte der Union, die deren Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassen haben, gegenüber dem gesamten nationalen Recht genießen. Auch nationales Verfassungsrecht darf im Konfliktfall mit gegenteiligem Unionsrecht nicht angewendet werden. Für die Wirksamkeit des Beitritts Österreichs im Jahr 1996 war vor allem deshalb auch zwingend eine Volksabstimmung durchzuführen, da der Vorrang des Europarechts, das (immer noch) eine geringere demokratische Legitimation als das nationale Recht hat, zu einer sogenannten „Gesamtänderung“ des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes (vgl. Art. 44 Abs. 3 B-VG) geführt hat. In einigen Staaten vertreten Lehre und Rechtsprechung die Ansicht, dass der Anwendungsvorrang dann nicht gilt, wenn die EU völlig außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt haben sollte („ultra vires“) oder EU-Recht die „nationale Verfassungsidentität“ in erheblicher Weise gefährden würde (vgl. Art. 4 Abs. 2 EU-V).

Ein „EU-Religionsrecht“?

Mit der Frage der Verfassungsidentität hängt auch das System der rechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften zusammen. Die EU verfügt über keine Kompetenz, ein eigenes Religionsverfassungsrecht zu normieren. Allerdings betreffen mittlerweile sehr viele Bereiche, in denen die Union kompetent ist, Rechtsnormen zu erlassen, indirekt die Rechtsstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten. Das arbeitsrechtliche Antidiskriminierungsrecht würde das grundrechtlich gesicherte Selbstbestimmungsrecht (vgl. Art. 9 EMRK, Art. 10 der Charta der Grundrecht der EU-GRC) völlig aushöhlen, wenn die Religionsgemeinschaften bei der Auswahl ihrer Mitarbeiter:innen nicht nach der Religionszugehörigkeit differenzieren dürften. Sehr eng gefasste Ausnahmebestimmungen verhindern, dass dies geschieht, sichern aber auch einen möglichst weitgehenden Diskriminierungsschutz. Ein anderes Beispiel ist das Datenschutzrecht, das in den letzten Jahren immer dichter geregelt worden ist. Ohne bestimmte Ausnahmen zugunsten der Religionsgemeinschaften würden bestimmte nationale Systeme der Kirchenfinanzierung (z. B. die im deutschen Grundgesetz garantierte Kirchensteuer) zusammenbrechen. Auch hier sind die Ausnahmen aber sehr eng gefasst. Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich durch die vielfältigen Auswirkungen von Normen, die an sich mit den Religionen nichts zu tun haben, eine Art „EU-Religionsrecht“ entwickelt hat.

Um das Bewusstsein für diese Entwicklung zu schärfen, haben Religionsvertreter anlässlich der Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam 1997 erreichen können, dass diesem eine Erklärung über den Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten angefügt wurde. Diese politische Erklärung wurde dann anlässlich der großen Reform der EU durch den Vertrag von Lissabon 2007 (in Kraft getreten 2009) in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) als dessen Artikel 17 aufgenommen und ist damit Bestandteil des sogenannten „Primärrechts“. An dieser höchsten Rechtsschicht müssen sich alle anderen Normen der EU messen lassen. In diesem Artikel bekennt sich die Union zu einem institutionalisierten ständigen Dialog mit den Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften. Für die Frage der Abgrenzung von staatlichen und europäischen Kompetenzen wichtig sind die Absätze 1 und 2. Absatz 1 lautet: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“[1]

Da sowohl von einer „Achtung des Status“ die Rede ist, als auch die Verpflichtung, diesen „nicht zu beeinträchtigen“, festgehalten wird, sichert Art. 17 AEUV die nationalen religionsrechtlichen Systeme primärrechtlich ab. Nicht jede Auswirkung auf staatliche Normen, die die Religionen betreffen, ist dadurch aber verboten. Eine solche Lesart würde den Zielen des Europarechts diametral entgegenstehen. Verboten sind aber Rechtsakte, die das Staat-Kirche-Verhältnis in einem Staat erheblich verschieben würden. Dazu fehlt der EU die Kompetenz. Die Frage, ob ein Gemeinwesen auf einer ausgrenzend-laizistischen Verhältnisbestimmung zu den Religionen aufbaut oder ob wie in Österreich ein verfassungsrechtliches Konzept einer kooperativen Hereinnahme vor allem der anerkannten Religionsgesellschaften in die staatliche Öffentlichkeit vorherrscht, ist Teil der nationalen Verfassungsidentität und ausschließlich von den Mitgliedstaaten zu bestimmen. Sogar die vorherrschende Stellung einer Staatskirche (wie in Griechenland, Malta oder Dänemark) ist mit den Grundprinzipien der EU vereinbar.

2. Das Vorabentscheidungsverfahren C-372/21

Was war geschehen?

Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten ist in Deutschland der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen worden. Anders als in Österreich beruht dieser Status nicht auf einer gesetzlichen Anerkennung, die an strenge Kriterien geknüpft ist. Ausreichend ist, dass eine Religionsgemeinschaft durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten kann (so Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Reichsverfassung von 1919; durch Art. 140 GG wurden die „Kirchenartikel“ der WRV Bestandteile des GG). Das Bundesverfassungsgericht verlangt Rechtstreue als weiteres, ungeschriebenes Kriterium.

In Österreich genießen die „gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften“ (KuR) ebenfalls öffentlich-rechtlichen Status, wobei im Einzelfall die damit verbundenen Rechte umstritten sind. Um den Status einer KuR zu erlangen, normiert das Anerkennungsrecht (im AnerkG von 1874 und in § 11 BekGG) strenge Voraussetzungen. So muss eine positive Grundeinstellung gegenüber dem Staat und der Gesellschaft vorhanden sein. Die Gemeinschaft muss bereits eine längere Zeit in Österreich bestehen, über eine Mindestanzahl von Gläubigen (2 Promille der österreichischen Bevölkerung) verfügen und muss sich eine Verfassung geben, die dem Staat gegenüber verbindlich die vertretungsbefugten Personen erkennen lässt und die Abgrenzung von anderen KuR erlaubt. In Österreich ist die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten seit 1998 eine staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft, nicht aber eine KuR.

Die deutschen Adventisten haben gegen die Bildungsdirektion für Vorarlberg geklagt, weil diese den Antrag auf Subventionierung einer als kombinierten Grund- und Mittelschule[2] geführten Bildungseinrichtung, die von dieser Religionsgemeinschaft als „konfessionelle Schule“ anerkannt und von ihr unterstützt wird, abgewiesen hatte. Die Schule wird von einem österreichischen Verein betrieben.

Gem. § 17 Abs. 1 PrivatschulG hat der Staat den KuR „für die mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten konfessionellen Privatschulen“ Subventionen zum Personalaufwand zu gewähren. Abs. 2 bestimmt, dass unter einer konfessionellen Privatschule eine von einer KuR unmittelbar oder durch eine ihrer Einrichtungen erhaltenen Schule zu verstehen ist. Wenn eine Schule von Vereinen, Stiftungen und Fonds erhalten werden, kann die zuständige religionsgesellschaftliche Oberbehörde diese Schule als konfessionelle Privatschule anerkennen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes können demnach nur die anerkannten KuR Subventionen für den Personalaufwand ihrer konfessionellen Privatschulen erhalten.

Die Siebenten-Tags-Adventisten sahen darin eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit als einer der Grundfreiheiten des Unionsrechts (vgl. Art. 56 AUEV) und erhoben Klage vor dem österreichischen Bundesverwaltungsgericht. Dieses wies die Klage ab, da das Unionsrecht Österreich nicht verpflichte, eine zuvor in einem anderen Mitgliedstaat anerkannte Kirche oder Religionsgesellschaft anzuerkennen. Auch eine solche Religionsgemeinschaft müsse daher nach dem österreichischen Recht als KuR anerkannt sein, um sich auf § 17 PrivatschulG berufen zu können.[3] Dagegen erhoben die Adventisten Revision an den VwGH. Dieser unterbrach sein Verfahren und stellte an den EuGH ein Ersuchen um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV.[4] Das Vorabentscheidungsverfahren ist eines der wichtigsten Instrumente, um das EU-Recht mit den nationalen Rechtsordnungen zu koordinieren. Um die Einheitlichkeit des Europarechts zu sichern, entscheidet allein der EuGH über strittige Auslegungen der Verträge. Letztinstanzliche nationale Gerichte sind verpflichtet, den EuGH um Vorabentscheidung anzurufen, wenn die Klärung Frage für das jeweilige Verfahren erforderlich ist. Unterinstanzliche Gerichte sind dazu berechtigt.

Der VwGH erläuterte in seinem Ersuchen, warum ausschließlich die KuR für konfessionelle Privatschulen Subventionierungen des Personals erhalten können: KuR seien Körperschaften des öffentlichen Rechts, die über besondere Rechte verfügten und Aufgaben, u. a. im Bereich der Bildung, erfüllten, wodurch sie am staatlichen öffentlichen Leben teilnähmen.[5] Die Union müsse aufgrund Art. 17 AUEV hinsichtlich der Beziehungen zwischen einem Mitgliedstaat und den Religionsgemeinschaften neutral bleiben. Konfessionelle Privatschulen der KuR, die in Österreich hinreichend vertreten sind, ergänzen das öffentliche Schulwesen. Den Eltern soll die Wahl einer Erziehung, die ihrer religiösen Auffassung entspricht, erleichtert werden.[6]

Die Lösung der Frage hing nicht nur davon ab, ob das Unionsrecht überhaupt anwendbar ist, wenn es sich um eine Frage der grundlegenden religionsrechtlichen Normen (wie dem österreichischen Anerkennungsrecht) handelt. Die Tätigkeit der privaten Bildungseinrichtung musste auch eine wirtschaftlich relevante Erbringung von Dienstleistungen darstellen.[7] Würden die Subventionen gewährt werden, erfolgte die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln, sodass dann keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr vorläge.

Die Entscheidung des EuGH

Nachdem der Generalanwalt seine Stellungnahme abgegeben hatte,[8] erging am 2. Februar 2023 das Urteil. Die dritte Kammer des EuGH führt aus, dass Art. 17 Abs. 1 AEUV die EU in der Frage, wie die Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften gestalten, neutral bleiben müsse. Dadurch würden aber religiöse Tätigkeiten nicht grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich des Unionsrechts herausgenommen. Dies gelte insbesondere dann, wenn die Tätigkeit in der Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt auf einem bestimmten Markt bestehe, wie es bei privat finanzierten Bildungseinrichtungen regelmäßig der Fall ist.[9]

Die Schule, für die die Adventisten Subventionen beantragt hat, wird nicht durch öffentliche Mittel finanziert. Sie übt daher wirtschaftliche Tätigkeiten aus. Für die Anwendbarkeit des Unionsrechts sei es unerheblich, so der EuGH, dass eine zukünftige Subventionierung dazu führen würde, dass keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr vorläge. Da die Bildungseinrichtung nicht direkt von den deutschen Adventisten, sondern von einem österreichischen Verein betrieben wird, handle es sich jedoch nicht um eine Frage der Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 AEUV, sondern betrifft mit der in Art. 49 AUEV garantierten Niederlassungsfreiheit eine andere europäische Grundfreiheit.[10] Zudem gelte der Grundsatz des Verbots der Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Dieser verbiete nicht nur offensichtliche Diskriminierungen, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung.[11]

Wendet man diese grundsätzlichen Gedanken auf den Sachverhalt an, dann steht fest, dass der Antrag auf Subventionierung einer konfessionellen Privatschule nur den in Österreich bestehenden und nach dem österreichischen Recht gesetzlich anerkannten KuR offensteht, wodurch die Niederlassungsfreiheit eingeschränkt wird. Zudem erschweren die Voraussetzungen für die gesetzliche Anerkennung, dass bislang nicht in Österreich wirkende Religionsgemeinschaften überhaupt anerkannt werden könnten. Jedenfalls fällt dies in Österreich bereits ansässigen Gemeinschaften ungleich leichter: „Diese Voraussetzungen sind also geeignet, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Kirchen und Religionsgesellschaften zu benachteiligen, die in Österreich ansässige private Bildungseinrichtungen als konfessionelle Schulen anerkennen und unterstützen.“[12]

Das grundsätzliche Verbot, die Niederlassungsfreiheit einzuschränken, wird allerdings von einigen Ausnahmen durchbrochen. So gelten die entsprechenden Bestimmungen nicht für Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (vgl. Art. 51 AEUV). So können Richter:innen sich beispielsweise nicht unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat auf das Richteramt bewerben. Staatliche Sonderregelungen für Ausländer sind nicht absolut verboten. Sie müssen allerdings aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein (vgl. Art. 52 AEUV). Dies ist auch dann der Fall, wenn ein zwingender Grund des Allgemeininteresses eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt, solange die unterscheidenden Maßnahmen verhältnismäßig sind. Diese müssen geeignet sein, „die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist.“[13]

Daher hatte der Gerichtshof zu prüfen, ob im konkreten Fall die unterschiedliche Behandlung von nach dem österreichischen Recht anerkannten KuR und anderen Religionsgemeinschaften gerechtfertigt ist. Innerstaatlich ist es ständige Rechtsprechung des VfGH, dass gegen unterschiedliche Kategorien der rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, da die österreichische Verfassung in Art. 15 StGG diese Unterscheidung enthalte.[14]

Die Subventionierung von anerkannten KuR im Bildungsbereich (ebenso wie im Gesundheitsbereich) hängt damit zusammen, dass diese zum Wohlergehen von Menschen beitragen. Mit dem öffentlich-rechtlichen Status sind auch Pflichten verbunden, zu denen nach herrschender Auffassung auch die Erteilung des Religionsunterrichts zählt.[15] Den Eltern es tatsächlich zu ermöglichen, eine Erziehung ihrer Kinder zu wählen, die ihren religiösen Überzeugungen entspricht, kann ein legitimes Ziel sein, das der nationale Gesetzgeber verfolgt. Maßnahmen zur Sicherstellung eines hohen Ausbildungsstandards können, so der EuGH unter Verweis auf seine eigene Judikatur, einen „zwingenden Grund des Allgemeininteresses“ bilden.[16] Ob dies im konkreten Fall erfüllt ist, muss der VwGH entscheiden, da nicht der EuGH, sondern die nationalen Gerichte für die Interpretation und die Anwendung des nationalen Rechts zuständig sind. Da diese Beurteilung aber im Licht der unionsrechtlichen Vorgaben erfolgen muss, sieht sich der EuGH ermächtigt, den nationalen Gerichten bestimmte Hinweise zu geben.

In diesem Sinn hebt der EuGH folgende Merkmale des österreichischen Religionsrechts hervor:

  1. Die Anerkennung als KuR setzt eine gewisse Größe voraus, die es erlaubt, dass Tätigkeiten entfaltet werden, die sich nicht allein auf die eigenen Mitglieder beschränken.
  2. Wenn der Staat Schulen subventioniert, muss sichergestellt sein, dass diese „einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ansprechen, der dieses Bildungsangebot wählen kann, das das von den öffentlichen Schulen angebotene ergänzt.“[17]

Die Beschränkung des § 17 PrivatschulG scheint dem EuGH daher „nicht unangemessen“ zu sein, um es den Eltern zu ermöglichen, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder im Rahmen eines qualitativ hochwertigen interkonfessionellen Unterrichts zu wählen.[18]

Auswirkungen auf das österreichische Anerkennungsrecht?

Für das österreichische Religionsrecht am interessantesten sind die abschließenden Überlegungen des EuGH. Da Art. 17 Abs. 1 AEUV die EU verpflichtet, den Status der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten zu achten und nicht zu beeinträchtigen, und da in Art. 17 AEUV die Neutralität der Union gegenüber den religionsverfassungsrechtlichen Grundentscheidungen der Mitgliedstaaten ausgedrückt ist, kann die Niederlassungsfreiheit nicht dazu führen, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Status einer Religionsgemeinschaft anzuerkennen, den diese nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten genießen.

Art. 11 BekGG enthält alternative Voraussetzungen im Blick auf die verlangte Dauer der Ansässigkeit einer Religionsgemeinschaft in Österreich, um als KuR anerkannt zu werden. Diese Voraussetzungen, die in der österreichischen Lehre im Einzelnen durchaus nicht unumstritten sind, gehen nicht über das zur Erreichung des legitimen Ziels, nämlich es den Eltern zu ermöglichen, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder zu wählen, Erforderliche hinaus.[19]

Art. 17 Abs. 1 AUEV bewirkt zwar nicht, dass in der konkreten Situation, die dem Verfahren vor dem VwGH zugrunde liegt, das Unionsrecht nicht anwendbar wäre. Die Verpflichtung der Union, den nationalen Rechtsstatus der Religionsgemeinschaften zu achten und diesen nicht zu beeinträchtigen, zieht dem Handeln der Unionsorgane im Rahmen ihrer Zuständigkeiten keine prinzipielle Grenze. Art. 17 Abs. 1 AEUV kann aber die Grundlage für Ausnahmebestimmungen von ansonsten verpflichtenden Vorschriften sein. Berührt ein unionsrechtlich zu beurteilender Sachverhalt den Status der Religionsgemeinschaften in einem Mitgliedsstaat, sind die entsprechenden Normen des Unionsrechts auch im Licht des Art. 17 AUEVU zu interpretieren. Dadurch ist trotz des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Unionsrechts auch ein gewisser Spielraum eröffnet, wie dieses mit dem jeweiligen nationalen Religionsrecht koordiniert werden kann, ohne den Anwendungsvorrang zu hinterfragen. Aus der Sicht der Religionsrechtswissenschaft zu begrüßen ist, dass der EuGH in diesem Urteil mehr als bislang anerkennt, dass Art. 17 AEUV im Gegensatz zur „Amsterdamer Kirchenerklärung“ nunmehr ein vollgültiger Bestandteil des Primärrecht ist.


Anmerkungen

[1]  Abs. 2 wendet dieselbe Bestimmung auf nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaften an. Für diese sieht das österreichische Recht bislang keine besondere Rechtsform vor.

[2]  So in Nr. 12 des Schlussantrags des Generalanwalts.

[3]  Nr. 9. Die nachfolgend zitierten Nummern beziehen sich auf das EuGH-Urteil.

[4]  Die Frage lautete im Detail: „1. Fällt eine Situation, in der eine in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union anerkannte und ansässige Religionsgesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat um Subventionierung einer von ihr als konfessionell anerkannten, von einem nach dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats eingetragenen Verein in diesem anderen Mitgliedstaat betriebenen Privatschule ansucht, unter Berücksichtigung von Art. 17 AEUV in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, insbesondere von Art. 56 AEUV? Für den Fall der Bejahung der ersten Frage: 2. Ist Art. 56 AEUV dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche als eine Voraussetzung für die Subventionierung von konfessionellen Privatschulen die Anerkennung des Antragstellers als Kirche oder Religionsgesellschaft nach nationalem Recht vorsieht?“

[5]  Nr. 11.

[6]  Nr. 16.

[7]  Dass Privatschulen auch wirtschaftlich relevante Dienstleistungen erbringen, hatte der EuGH bereits in einem anderen Verfahren (C‑622/16 P bis C‑624/16 P, Rn. 105) festgestellt.

[8]  Diese ist veröffentlicht auf: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=A9ADCEEA2282A6B226C7C8EECA3673A1?text=&docid=262447&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=5059329

[9]  Nr. 18–20. Demgegenüber ist Unterricht an einer öffentlichen Bildungseinrichtung, die zumindest überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, keine wirtschaftliche Tätigkeit (Nr. 21).

[10] Nr. 26. Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind prinzipiell verboten. Nicht erst die Unterbindung, sondern jede Maßnahme, die eine geplante Niederlassung erschwert, fällt unter das Verbot. Die Niederlassungsfreiheit gilt auch für Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften, sofern ein Unternehmen in einem EU-Staat seinen Sitz hat.

[11] Nr. 29.

[12] Nr. 31.

[13] Nr. 33.

[14] Vgl. schon VfSlg 9185/1981.

[15] Der EuGH verweist hier (Nr. 35) auf die Erläuterungen zur Änderung des BekGG. Vgl. ErlBRV 1256/XXIV. GP, 4.

[16] Nr. 36 mit Verweis auf Urteile C‑153/02, Rn. 46, und C‑386/04, Rn. 45.

[17] Nr. 40.

[18] Nr. 41.

[19] Nr. 42f. Befremdlich ist allerdings das Argument, dass der österreichische Gesetzgeber deswegen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit der nationalen Regelung verfolgten Ziels erforderlich ist, weil der Nachweis, 2 Promille der Bevölkerung als Mitglieder zu umfassen, nicht nur durch eine offizielle Volkszählung, sondern auch in anderer geeigneter Form erbracht werden kann.

Thema: Islam und Alevitentum in Österreich

Mit dieser Veröffentlichung legen die Mitglieder des Instituts für Kirchenrecht und Religionsrecht Interessierten ein virtuelles Treffen von vier maßgeblichen Vertretern des Islam und Alevitentums vor: zwei Glaubensgemeinschaften (Islamische Glaubensgemeinschaft (IGGÖ) und Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (ALEVI)) sowie zwei Bekenntnisgemeinschaften (Alt-Alevitische Glaubensgemeinschaft (AAGÖ) und Frei-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (FAGÖ)). Die Mitarbeiter des Instituts für Kirchenrecht und Religionsrecht hatten außerdem die Möglichkeit zu einem Austausch mit der Islamisch-Schiitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich. Von der Veröffentlichung wurde jedoch auf Bitte der Islamischen-Schiitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich abgesehen.

Nach einer überblicksmäßigen Einordnung in den Status quo laut geltender Rechtslage durch Prof. Dr. Andreas Kowatsch werden in den Kurzinterviews jeweils die Frage nach der Vertretung eines Teils der muslimischen bzw. alevitischen Gemeinschaft, Fragen der Verfassung, Anerkennung sowie die Bedeutung der einzelnen Gemeinschaften auf Hintergrund des Ausschließlichkeitsrechtes besprochen.

Die Interviews stellen die persönliche Meinung der einzelnen Interviewpartner dar. Intention der Mitarbeiter des Institutes war im Hinblick auf Information und Austausch die Möglichkeit zu bieten, an diesem virtuellen Round Table zwar einzeln, aber so doch für die eigene Glaubensgemeinschaft sprechend diese vorzustellen und aktuelle Herausforderungen anzusprechen.


Foto: Alt-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich

Hüseyin Akmaz, Mürschid (Oberhaupt) der Alt-Aleviten in Österreich, kam 1978 nach Wien, hat Datentechnik studiert und wirkt seit 35 Jahren als IT-Techniker. Neben langjähriger Tätigkeit im Kurdischen Dachverband betreute er die Gründung der Alt-Alevitischen Glaubensgemeinschaft, die als Bekenntnisgemeinschaft staatlich 2013 eingerichtet wurde. Im Interview mit Univ.-Ass. Dr. Harald Tripp vertieft er die Charakteristik altalevitischen Glaubens im Unterschied zum Islam, erzählt von der Gründung der Bekenntnisgemeinschaft, von Organisation, Religionslehre sowie der erschwerten Situation der Religionsausübung in der Türkei, wobei eine Hauptforderung der Aleviten die Anerkennung der Cem-Häuser als Ort der Religionsausübung und damit eine Gleichstellung mit den Moscheen ist.


Foto: Frei-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich

Imet Mehmedi, albanisch-mazedonischer Abstammung, selbst für Jahre als Imam tätig und daher mit der islamischen Sichtweise vertraut, ist selbst kein Mitglied der Frei-Alevitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (FAGÖ), war aber als Jurist von Anfang an in die wesentlichen Verhandlungen mit dem Kultusamt einbezogen. Auf Empfehlung der stellvertretenden Bundesvorsitzenden der FAGÖ, Frau Hatice Sahin Ilter, spricht er in seinen Ausführungen über die grundsätzlich drei Gruppierungen der Aleviten, den Anerkennungsprozess der FAGÖ als Bekenntnisgemeinschaft, die Lehre sowie die innere Verfassung der Frei-Aleviten.


Foto: Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich

Riza Sari, seit 47 Jahren in Österreich, ist stellvertretender Vorsitzender und Pressesprecher der Alevi. Er arbeitet als Beamter bei der Stadt Wien und ist ehrenamtlich in seiner Glaubensgemeinschaft seit 2013 tätig. Die Anerkennung in Österreich ist für Alevi einzigartig und stellt für die 60.000-80.000 Mitglieder in Österreich eine in der Welt rechtliche Besonderheit dar. In seinem Interview mit Univ.-Ass. Dr. Harald Tripp spricht Riza Sari über die Schwierigkeiten am Weg zur Anerkennung, die rechtlichen Schritte vor dem Verfassungsgerichtshof um aufzuzeigen, dass der Islam nicht eine Einheitsreligion sei, sondern verschiedene Facetten aufweise. Die Art und Weise der Anerkennung habe Vor-wie Nachteile, so könnten auch aus politischen Institutionen religiöse Institutionen entstehen, wie man es bei den Frei-Aleviten jüngst wahrnehmen könne. Anerkennung in Differenz kennzeichne hier aber das Religionsrecht in Österreich und Unterschiedlichkeit könne wohl auch ein Mehrwert sein. Weiters erklärt Riza Sari, wie eine Vereinsstruktur nach und nach auch in ihrer Verfassung und in ihren Ämtern entstanden und warum die EMRK in den Statuten erwähnt worden sei.


Foto: Taha Babadostu / IGGÖ

Ümit Vural ist Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich, vertritt nicht nur die rund 500.000 Mitglieder der Islamischen Glaubensgemeinschaft, sondern ist selbst Jurist, seit Ende der Achtziger Jahre in Österreich. Er vertieft im Interview mit Univ. Ass. Dr. Harald Tripp den ursprünglich gesetzlichen Auftrag der IGGÖ nach dem Islamgesetz 1912, spricht von 2015 als einem Jahr großer Herausforderungen durch Migration aus Krisenländern wie Syrien, sowie der Angst vor Terrorismus und der Sorge um demographische Veränderung, die die Entstehung und Umsetzung des Islamgesetzes 2015 begleitet haben. Im Interview spricht er über gegenwärtige sowie über die vier Verfassungsänderungen innerhalb der IGGÖ seit 2015 und den gegenwärtigen Dialog mit den zuständigen Stellen. Er erklärt, warum die IGGÖ sich für das Kopftuch einsetzt und warum es den Religionsdialog braucht.


Islam und Alevitentum in Österreich

Ein religionsrechtlicher Überblick zur Interviewserie von rechtundreligion.at mit den Spitzenvertretern jener Religionsgemeinschaften, die nach dem österreichischen Recht dem Islam und/oder dem Alevitentum zugeordnet werden.

Die Annexion von Bosnien und Herzegowina durch Österreich im Jahr 1908 löste Bemühungen aus, eine gesetzliche Anerkennung der bosnischen Muslime zu finden und so eine materielle Gleichstellung mit den Angehörigen der anderen zum damaligen Zeitpunkt anerkannten Religionsgesellschaften herzustellen. 1912 wurde das Islamgesetz 1912 erlassen, das erst 103 Jahre später durch das Islamgesetz 2015 ersetzt wurde. Der Wortlaut des IslamG 1912 hatte die Anerkennung aufgrund der historischen Verbindung mit Bosnien-Herzegowina auf die Anhänger der hanafitischen Rechtsschule beschränkt. Im Zuge der Einwanderung tausender Muslime nach Österreich in den 1960er-Jahren verstärkten sich Bemühungen einer institutionellen Anerkennung des Islam. Erst 1979 wurde die erste Kultusgemeine aufgrund des IslamG 1912 errichtet und die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) durch die „genehmigende Kenntnisnahme“ ihrer Verfassung durch das staatliche Kultusamt – eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Besonderheit des österreichischen Religionsrechts – als Religionsgesellschaft anerkannt. Da das IslamG 1912 aber nach wie vor nur für die Anhänger der hanafitischen Rechtsschule galt, waren – neben internen Fragen und wohl auch aufgrund einer mittlerweile vielfältigen nationalen Herkunft der Muslime in Österreich – Konflikte vorprogrammiert.

In einem richtungsweisenden Erkenntnis hob der VfGH im Jahr 1987 (VfGH, 10.12.1987, G146/87, G147/87, VfSlg. 11574) die Wortfolge „nach hanafitischem Ritus“ als verfassungswidrig auf, sodass die bis dahin einzig bestehende Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich – durchaus in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Selbstverständnis – die institutionelle Vertretung aller in Österreich lebenden Muslime übernahm. Für den Staat brachte das Vorhandensein eines einzigen Ansprechpartners durchaus auch pragmatische Vorteile mit sich. Solange Anspruch und Wirklichkeit nicht auseinanderfallen, ist dies auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu beeinspruchen. Sobald jedoch innerhalb einer religiösen Tradition einzelne Gruppierungen ihrem eigenen Selbstverständnis nach den Anspruch auf eine religiös-konfessionelle Eigenständigkeit innerhalb ihrer religiösen Großüberlieferung beanspruchen, obliegt es nicht dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat zu entscheiden, ob es innerhalb einer Religion bloß eine oder mehrere „Konfessionen“ geben darf. Wie das Christentum ist auch der Islam in sich polyphon und vielgestaltig. Innerhalb der Großüberlieferungen der Sunniten und der Schiiten haben sich unterschiedliche Rechtsschulen entwickelt. Dazu kommen Phänomene am Rande der islamischen Tradition, die religionswissenschaftlich nur in Teilaspekten dem Islam zugeordnet werden können.

Die durch das Erkenntnis des VfGH 1987 resultierende Rechtslage bedingte Alleinvertretung durch die IGGÖ konnte nicht verhindern, dass neben nach außen getragenen internen Konflikten und unter dem Mantel der Religionszugehörigkeit nicht immer bewältigten sozio-ethnischen Spannungen die Diskussionen über die Möglichkeit einer rechtlichen Selbstständigkeit weiterer religiöser Gruppierungen innerhalb des Islam sukzessive lauter wurden.

(Islamisch-) Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich

Bemühungen des Kulturvereins der Aleviten in Wien auf staatliche. Eintragung nach dem Bekenntnisgemeinschaftengesetz (BekGG) im Jahr 2009 scheiterten mit dem Hinweis, dass das IslamG 1912 keine zusätzlichen islamischen Glaubensgemeinschaften zulasse. 2010 erklärte jedoch der VfGH im „Alevitenerkenntnis“ (VfGH 01.12.2010, B1214/09 VfSlg. 19240), dass diese Rechtsansicht verfassungswidrig sei. Nicht nur enthalte das IslamG kein Verbot der Anerkennung von mehr als bloß einer sich auf den Islam berufenen Glaubensgemeinschaft, eine solche Ansicht widerspreche zudem dem Recht auf freie Religionsausübung gem. Art. 9 EMRK.

Damit war die Grundlage gelegt, dass 2010 die Islamisch Alevitische Glaubensgemeinschaft als religiöse Bekenntnisgemeinschaft registriert werden konnte. Eine weitere Voraussetzung war die Übermittlung von Statuten und eine Darstellung der Lehre, um sicherzustellen, dass es sich um eine von der schon bestehenden Religionsgemeinschaft unterscheidbare Gruppierung handelt. Dies ist eine Konsequenz aus dem sog. „Ausschließlichkeitsrecht“, das den anerkannten Religionsgesellschaften verbürgt, gegenüber dem Staat und im staatlichen Recht die alleinige institutionelle Vertretung der Angehörigen eines bestimmten Religionsbekenntnisses zu sein. Auch wenn dieses institutionelle Recht in einer gewissen Spannung zur individuellen Religionsfreiheit steht, kommt in ihm der kooperative Charakter des österreichischen Religionsrechts zum Ausdruck.

2013 erreichte die Islamischen Alevitischen Glaubensgemeinschaft die Anerkennung als Religionsgesellschaft i.S.d. Art 15 StGG mit den damit verbundenen Rechten und Pflichten (u.a. Erteilung von Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen).

Der verschlungene Weg zur Eintragung der Frei-Alevitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (FAGÖ)

§ 4 BekGG normiert eine Reihe von Voraussetzungen für die Statuten, um die staatliche Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft zu erlangen. Um die erwähnte Unterscheidbarkeit von bereits bestehenden Gemeinschaften zu gewährleisten, werden dort bestimmte Anforderungen an den Namen der Religionsgemeinschaft gestellt (Abs. 1 Z. 1.) Darüber hinaus muss die eigene Religionslehre dargestellt werden (Z. 2), um die staatliche Behörde, die selbst über keine Kompetenzen verfügt, religiöse Debatten zu entscheiden, beurteilen kann, ob es ich um eine von bereits bestehenden Religionsgemeinschaften unterscheidbare Gruppierung handelt. Mit dieser Genehmigungsvoraussetzung versetzt das BekGG den religiös-weltanschaulich neutralen Staat freilich trotz allem in die Rolle, religiöse Lehren inhaltlich bewerten zu müssen.

Um die Eintragung als Bekenntnisgemeinschaft zu erlangen, mussten unterschiedliche alevitische Gruppierungen Einigkeit über die alevitische Lehre erzielen. Dabei kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen der Föderation der Aleviten-Gemeinden in Österreich und dem Kulturverein der Aleviten in Wien. Diese betrafen vor allem die Frage, ob das Alevitentum eine – in aus dem christlichen Kontext stammender Terminologie ausgedrückt – „Konfession“ des Islam oder eine vom Islam unabhängige Religion sei.

Die Föderation der Aleviten-Gemeinden in Österreich machte sich für die Eintragung als eine vom Islam unabhängige Religionsgemeinschaft stark, während der Kulturverein der Aleviten in Wien sich dem Islam zugehörig verstand. Für Außenstehende kompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, dass die Föderation eigentlich den Dachverband bildete, dem der Wiener Kulturverein angehörte.

Die Frage der Nähe und Distanz zum Islam kann eigentlich nur durch die Gläubigen selbst, nicht aber durch staatliche Hoheitsgewalt beantwortet werden. Durch die Anerkennung der Islamischen Alevitischen Glaubensgemeinschaft und ihrer späteren Anerkennung als Religionsgesellschaft wurden staatlicherseits aber Fakten geschaffen, mit denen die Anhänger der „nicht-islamischen“ Aleviten nicht leben konnten.

2015 trat das neue Islamgesetz in Kraft, welches das IslamG 1912 ersetzte. Das IslamG 2015 ist dadurch gekennzeichnet, dass es zugleich ein spezielles Anerkennungsgesetz für islamische Religionsgesellschaften bildet und die beiden bereits bestehenden Glaubensgemeinschaften (IGGÖ, Islamisch-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich) in einem besonderen Teil spezialgesetzlich anerkennt und religionsrechtliche Regelungen für diese trifft. Die Anerkennung weiterer Religionsgesellschaften, die nach dem eigenen Selbstverständnis islamisch sind, richtet sich daher in Zukunft nach dem IslamG, nicht nach dem AnerkennungsG 1874 (mit der zusätzlichen ins BekGG verirrten Norm des § 11 BekGG).

Islamische-Schiitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (Schia)

Dies betrifft vor allem die 2013 staatlich eingetragene Islamische-Schiitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (Schia), die nach eigenem Selbstverständnis zweifellos „islamisch“ ist und sich dennoch von der mehrheitlich sunnitisch geprägten IGGÖ nicht vertreten lassen wollte. Dass es auch innerhalb der IGGÖ schiitische Gruppen gibt, zeigt, wie komplex die islamische Vielfalt sich rechtlich darstellt. Mit der Eintragung der Schia jedenfalls erfolgte die zweite religionsrechtliche Anerkennung einer islamischen Glaubensgemeinschaft in der Logik des Alevitenerkentnisses des VfGH.

Nach der „neuerlichen“ Anerkennung überarbeiteten beide Islamischen Religionsgesellschaften ihre Verfassung. Die Islamisch-Alevitisch Glaubensgemeinschaft änderte ihren Namen, indem der Zusatz „Islamisch“ gestrichen wurde und nunmehr lautet: „Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich – ALEVI“. Auch wenn dadurch nach außen ein zusätzlicher Grad der Komplexität erreicht wurde, erfolgte keine Beeinspruchung seitens des Kultusamtes.

Ein erster Antrag der Föderation der Aleviten-Gemeinden in Österreich auf Eintragung als eine (nicht-islamische) alevitische Bekenntnisgemeinschaft war kurz nach mit dem Antrag des Kulturvereins gestellt worden. Zeitgleich mit der Eintragung der Islamischen Alevitischen Glaubensgemeinschaft wurde der Antrag der Föderation abgewiesen, da dieser sich inhaltlich nicht vom stattgegebenen Antrag des Kulturvereins unterschieden habe. Eine Beschwerde an den VwGH wurde eingestellt. Auch nach der Anerkennung der ALEVI als Religionsgesellschaft scheiterte die Föderation mit ihrem Begehren, als Bekenntnisgemeinschaft eingetragen zu werden, da die Statuten nicht ausreichend die Unterschiede der Lehre im Vergleich zur Lehre der ALEVI zum Ausdruck brächten (vgl. die beiden Entscheidungen VwGH, 05.11.2014, 2012/10/0005 und BVwG, 11.03.2016, W213 2113447-1). Die Föderation versuchte die Namensänderung der ALEVI zu beeinspruchen, was zu komplexen Fragen um die Parteistellung im Verwaltungsverfahren und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sowie über die Zuständigkeit des BVwG führte (vgl. ausführlich dazu: Stefan Hammer, Die Aleviten im österreichischen Religionsrecht – ein Kampf um Anerkennung. Der schwere Abschied vom Ausschließlichkeitsgrundsatz, in: öarr 2018, 1).

Noch im Jahr 2019 wies der VwGH in einem erneut angestrengten Verfahren die Revision der Föderation gegen eine Entscheidung des VwG Wien zurück (VwGH, 28.05.2019, Ra 2019/10/0049). Im selben Jahr ging die Föderation den Weg nach Strasbourg und brachte eine Beschwerde beim EGMR ein. 2020 stellte die Föderation einen neuerlichen Antrag auf Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft. Nach einer weiteren Modifizierung sollte die Eintragung als „Freie-Alevitische Bekenntnisgemeinschaft in Österreich“ erfolgen. Bevor der EGMR über Beschwerde urteilen konnte, gab das Kultusamt im März 2022 (GZ 2021-0.338.029, rechtskräftig mit 15.04.2022) den Anträgen schlussendlich statt, sodass die Frei-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (FAGÖ) als bislang letzte Bekenntnisgemeinschaft staatlich anerkannt wurde.

Alt-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (AAGÖ)

Das Alevitentum kennt, anders als etwa Judentum, Christentum und Islam, keinen unvordenklichen schriftlichen „Kanon“ und ist mehr als viele andere religiöse Bewegungen durch eine vielfältige und anhaltende mündliche Überlieferung geprägt. Unterschiedliche „Alevitentümer“ sind daher auch mit der Vielfalt unterschiedlicher mündlicher Erzähltraditionen verbunden. Ethnische und politische Faktoren spielen ebenso eine Rolle. Die politischen Verhältnisse in der Türkei, dem Stammland der meisten Aleviten bzw. ihrer Vorfahren und im Einwanderungsland spielen ebenfalls eine Rolle für die Herausbildung unterschiedlicher Gruppierungen. Die Entwicklung unterschiedlicher Identitäten scheint in den Einwanderungsländern verstärkt stattzufinden (so Friedmann Eißler „Was wäre in der Türkei aus uns geworden?“ Wie sich die Gemeinschaft der Aleviten in der europäischen Diaspora neu erfindet, in: HK 10/2020, 30-33),

Die „Alt-Aleviten“ grenzen sich bewusst vom Islam ab und sehen islamische Elemente in der eigenen Religion sehr kritisch. Eine gesetzliche Anerkennung würde sich daher nicht im Rahmen des IslamG 2015 bewegen. Die meisten Mitglieder sind kurdischer Abstammung. Da die Verbindung zur ALEVI eine ganz andere ist, als sie es zumindest ursprünglich bei den Frei-Aleviten war, war der Weg zur staatlichen Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft für die Alt-Aleviten wesentlich weniger steinig. Die Alt-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (AAGÖ) erlangte am 23. August 2013 die Rechtspersönlichkeit.

Rezension zu: Enes Karić, Richard Potz, Denise Quistrop (eds.), State and Religions in Bosnia and Herzegovina and Austria: A Legal Framework for Islam in a European Context (Wien: Verlag Österreich, 2019, 141+xvi pp.). ISBN: 978-3-7046-7985-7

Die Publikation geht als Sammelband auf eine Konferenz zurück, welche bereits vor sechs Jahren am 28. und 29. September 2016 in Sarajevo stattgefunden hat. Die Tagung knüpft an die Diskussionen über islamische Glaubensgemeinschaften an, die nach der Veröffentlichung des novellierten Islamgesetzes in Österreich im Jahr 2015 entstanden sind und die auch in der religionsrechtlichen Auseinandersetzung und der gesellschaftlichen Diskussion an Bedeutung gewonnen haben.

An Aktualität hat dieser Sammelband nichts verloren, zumal er erst 2019, drei Jahre nach dem Symposium, publiziert worden ist. Das Buch, das aus vier Hauptkapiteln besteht, ist eine Sammlung von 14 Vorträgen, die auf der Konferenz gehalten wurden.

Bosnien-Herzegowina, das als Land seine multikulturelle Struktur über Jahrhunderte hinweg beibehalten hat, war nach dem Zerfall Jugoslawiens Schauplatz eines blutigen Krieges zwischen den religiösen und ethnischen Gruppen. Das mit dem Dayton-Abkommen von 1995 eingeführte System, das den Krieg beendete, spiegelt die scharfe Trennung zwischen religiösen und ethnischen Gruppen in der Verwaltungsstruktur des Landes wider.

Das vorliegende Buch versucht, die Probleme der islamischen Glaubensgemeinschaft im Kontext der Beziehungen zwischen Religion und Staat im Rahmen der strukturellen Merkmale von Bosnien-Herzegowina und Österreich darzustellen und Lösungsvorschläge für diese Herausforderungen zu präsentieren.

Nach den Vorworten der Herausgeber und den Einleitungsworten religiöser Autoritäten beim Symposium werden in den ersten beiden Kapiteln die historische Entwicklung und die strukturellen Merkmale der islamischen Gesellschaften im Rahmen der jeweiligen Situation in beiden Ländern erörtert. Im dritten und vierten Teil werden die Situation der Muslime und der Religionsgemeinschaften im europäischen Kontext und die Prognosen für die Zukunft der islamischen Glaubensgemeinschaften in den europäischen Ländern unter einem eher allgemeinen Gesichtspunkt erörtert.

Die bosnische Historikerin Amila Kasumovic konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die Fragen und Probleme, die durch die erste Begegnung zwischen den beiden Ländern aufgeworfen wurden. Nach dem Osmanisch-Russischen Krieg, der für das Osmanische Reich eine der größten Niederlagen des 19. Jahrhunderts darstellte, ermächtigte der 1878 unterzeichnete Vertrag von Berlin Österreich-Ungarn, Bosnien-Herzegowina zu annektieren und zu verwalten. Die Übergabe der jahrhundertelangen osmanischen Verwaltung an Österreich-Ungarn leitete einen soziokulturellen und wirtschaftlichen Transformationsprozess ein, der die gesamte bosnische Gesellschaft betraf. Die Politik der neuen Regierung in der Region führte zu einer Veränderung der Organisationsstruktur aller religiösen Gruppen. Im Einklang mit dieser Politik wurden die administrativen und religiösen Angelegenheiten der orthodoxen Kirche und der islamischen Gemeinschaft nach dem Vorbild der katholischen Kirche umstrukturiert. Für Österreich-Ungarn war die Besetzung Bosnien-Herzegowinas das erste Mal, dass es mit einer großen muslimischen Gruppe konfrontiert wurde. Das erste Islamgesetz vom 15. Juli 1912 betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft (1912) ist das Ergebnis dieses Prozesses. Obwohl es in den folgenden Jahren viele Veränderungen in den Staaten und Verwaltungsstrukturen gab, vertritt Kasumovic die Ansicht, dass die Entwicklungen, die die rechtliche und administrative Infrastruktur der islamischen Glaubensgemeinschaften in beiden Regionen bildeten, im Wesentlichen das Ergebnis dieser Zeit waren. Kasumovićs Einschätzungen zeigen, dass es eine große Meinungsvielfalt unter den Intellektuellen mit positiven und negativen Überzeugungen gab und seine Ausführungen beschränken sich auf den Zusammenhang im Blick auf territoriale Fragen, die Sprache sowie die Verwaltungsdisziplin und Bildung, da gerade diese Elemente bei der Bildung der nationalen Identität wirksam sind.

Der Wiener Rechtshistoriker Thomas Simon analysiert in seinem eher kurz gefassten Textbeitrag die Umwandlung Österreichs in einen Rechtsstaat im 19. Jahrhundert, wobei er sich besonders auf die Regierungszeit von Kaiser Franz Joseph I. (1848-1916) konzentriert, und argumentiert, dass der Konstitutionalismus dieser Zeit als eine unterentwickelte Form des parlamentarischen Systems zu betrachten wäre. Erst als das Debakel der Kriegsniederlage 1859 und die außenpolitischen Auswirkungen ihn zwangen, zumindest Teilen des Bürgertums einige Zugeständnisse zu machen, erlaubte er, wenn auch sehr zögerlich und allmählich, Ansätze zu konstitutionellem Denken. Zudem kam von Anfang an nur eine vom Kaiser selbst verordnete Verfassung in Frage, um jede Annäherung an die Idee der Volkssouveränität zu vermeiden. Franz Josef lehnte es auch entschieden ab, in irgendeiner Weise an die Tradition der Revolution von 1848 anzuknüpfen – die vom Kaiser selbst auferlegte so genannte „Märzverfassung“ von 1849 wurde nach Meinung Simons als Ausgangspunkt verworfen. Und auch in der Krise von 1859 wäre der Kaiser nicht bereit gewesen, eine Verfassung zu erlassen, die umfassend und abschließend in einer einheitlichen Verfassungsurkunde enthalten gewesen wäre, wie es bei den Verfassungen im Zusammenhang mit der Revolution von 1848/49 der Fall war. Vielmehr hätte er mit äußerster Vorsicht, ja Ängstlichkeit, den Weg der Verabschiedung einzelner Gesetze beschritten.

Dzevada Šuško, tätig in der islamischen Glaubensgemeinschaft in Sarajevo, befasst sich wider Erwarten eher mit der Zeit nach dem Vertrag von Dayton als mit der Entstehung der islamischen Community während der österreichisch-ungarischen Zeit. Šuško erörtert zunächst das „Gesetz über die Religionsfreiheit und die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Bosnien und Herzegowina“ vom 28. Januar 2004, das den grundlegenden rechtlichen Rahmen für die Regelung der Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften und Staat im heutigen Bosnien und Herzegowina bildet, sowie die nachfolgenden gesetzlichen Regelungen. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche und dem Staat Bosnien und Herzegowina unterzeichneten Abkommen zur Religionsfreiheit. Sie geht davon aus, dass die in der Region lebenden Katholiken, Orthodoxen und Muslime mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind und dass die einzige Möglichkeit, Lösungen für die aufgetretenen Probleme zu finden, darin besteht, die religiösen Freiheiten aller drei Gemeinschaften auf ähnliche Weise zu garantieren. Es wäre nach Šuško auch wichtig, dass die Rechtsvorschriften mit der EMRK in Einklang gebracht und entsprechend angewendet würden, um die Religionsfreiheit angemessen zu gewährleisten. Projekte und Bildungsprogramme, die darauf abzielten, das Bewusstsein für die islamische Religionsausübung zu schärfen und verbale und physische Angriffe gegen Muslime und das Eigentum der islamischen Gemeinschaft zu verurteilen und zu verhindern, sollten nützlich sein, um der schwerwiegenden Diskriminierung von Muslimen, die im Alltag vorkommt, zu begegnen. Deshalb sollten alle beteiligten Parteien entschlossen und im Geiste der Gleichheit aller Bürger und des Schutzes ihrer Menschenrechte alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um den Frieden in Bosnien und Herzegowina zu stabilisieren.

Der zweite Teil des Sammelbandes ist der Organisationsstruktur des Islam in Bosnien-Herzegowina und Österreich heute gewidmet. Enes Karić, Professor für Koranstudien an der Universität in Sarajevo, versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, wie der Islam einen Platz in pluralistischen Gesellschaften und säkularen Staaten im Sinne der Europäischen Union finden kann, und zwar zunächst anhand der Ansichten berühmter Persönlichkeiten aus der islamischen Gemeinschaft, die zu diesem Thema veröffentlicht haben (z. B. Ali Abduraziq, Taha Hussein). Dann stellt er die Frage, wie der Islam in einer solchen Welt interpretiert werden kann, in der die wichtigsten Faktoren, die die Machtbeziehungen und Entscheidungsprozesse in den Gesellschaften beeinflussen, zu nicht-religiösen Bereichen gehören. Karić argumentiert, dass Muslime in Europa heute dazu erzogen werden müssten, zu akzeptieren, dass alle Menschen unabhängig von ihrer religiösen, weltanschaulichen oder ideologischen Zugehörigkeit an den Gesellschafts- und Lebensbereichen teilhaben, die vom säkularen Staat und der säkularen Gesellschaft geregelt werden. Glaubens- und Religionsgemeinschaften in säkularen Gesellschaften und Staaten könnten seiner Auffassung nach viele Entwicklungen in „säkularen Bereichen des Seins“ kritisieren. Da sie sich jedoch in einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft bewegten, müssten die Religionsgemeinschaften in ihrer Reaktion auf den Frieden und die Würde des öffentlichen Diskurses Rücksicht nehmen. Karic betont, dass die Muslime in Europa wissen und lernen sollten, dass in säkularen und pluralistischen Gesellschaften religiöse Grundsätze nur für diejenigen Menschen moralische Gültigkeit hätten, die sie als moralische Grundsätze akzeptierten. Mit anderen Worten: Das Festhalten an religiösen Grundsätzen als moralische Prinzipien ist eine der Stimmen eines gläubigen Gewissens.

Nach dieser theoretischen Grundlegung folgen drei kürzere Beiträge über das österreichische Islamgesetz und die Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich und Bosnien-Herzegowina. Im ersten Text hebt Professorin Katharina Pabel von der WU Wien, den Ursprung, den Hintergrund und den Inhalt des Islamgesetzes aus 2015 hervor. Aufgrund der globalen Entwicklung zu Beginn des Jahres 2015 stieß laut Meinung Pabels die Fertigstellung des Gesetzgebungsverfahrens auf Hindernisse, und die Beziehungen zwischen den muslimischen Glaubensgemeinschaften und den europäischen Ländern wurden allgemein schwieriger. Auch in Österreich gab es einige Spannungen zwischen den bestehenden muslimischen Gemeinschaften, was zu Kritik an Details des novellierten Gesetzes führte. Die Autorin weist darauf hin, dass der Schwerpunkt des Islamgesetzes nicht auf der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit liegt. Vielmehr ziele es darauf ab, einen Rahmen für die Beziehungen zwischen den verschiedenen muslimischen Gemeinschaften und dem Staat zu schaffen, sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch durch einen kooperativen Ansatz.

Der Jurist und Universitätslektor in Wien, Metin Akyürek, handelt über Bekanntes, wenn er den Inhalt der Verfassung, Struktur und Institutionen der IGGÖ, nachdem er eine kurze Information über ihren rechtlichen Status vom Blickpunkt des österreichischen Religionsrechts gegeben hat, darlegt. Hilmo Neimarlija, Soziologe und Jurist der islamischen Glaubensgemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, geht in seinem Beitrag kurz auf die Entwicklung der Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Bosnien und Herzegowina seit der ersten vom Königreich Jugoslawien im Jahr 1930 veröffentlichten Verfassung ein und gibt allgemeine Informationen über die Verfassung aus 1997. Von außen betrachtet wäre seiner Meinung nach die Islamische Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina ein Nebenschauplatz, ein ausgeklügelter Prozess geregelter religiöser Praxis, religiöser Aktivitäten und vom Glauben inspirierter Beziehungen und Meinungen, in denen die bosnischen Muslime ihre Zugehörigkeit zum Islam auf organisierte Weise zum Ausdruck brächten.

Der dritte Teil der Publikation mit dem Titel „Der europäische Kontext“ befasst sich mit dem allgemeinen Kontext des Umfelds der Muslime in Europa im Allgemeinen und in Bosnien im Besonderen. Die Texte behandeln das Thema im Allgemeinen im Rahmen der gesetzlichen Regelungen in der Europäischen Union. Im ersten Text erörtert David Friggieri, zum Zeitpunkt des Symposiums bei der EU als Koordinator tätig, die Art und Weise, wie die Religion in den grundlegenden Rechtstexten der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte behandelt wird. Friggeri stellt sich die Frage, wie Ereignisse, die direkt mit Religion und Politik zu tun haben (Karikaturenkrise in Dänemark, der Arabische Frühling usw.), den Wandel der Außenpolitik der Europäischen Union beeinflussen können. Ziel wäre es dabei nach Meinung Friggeries, die politisch-religiöse Landschaft in Ländern und Szenarien zu beherrschen, in denen eine religiöse Komponente eine Rolle spielt. Das außenpolitische Ziel der EU sei es nicht, die Rolle der Religion zu erleichtern oder zu verstärken, sondern die Welt, wie sie ist, besser zu verstehen und einem Schlüsselfaktor der großen Veränderungen, die um uns herum stattfinden, nicht zuletzt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.

Die beiden anderen Texte des Kapitels, Hanna Suchockas Erörterung der Religion in einem säkularen Staat und Stefan Hammers Erörterung der Werte der europäischen politischen Ordnung und der Rolle der Religionsgemeinschaften, bieten einen theoretischen Rahmen für die Art und Weise, in der religiöse Angelegenheiten im individuellen und öffentlichen Bereich im Kontext der Religionsfreiheit und der verfassungsrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Werte durchgeführt werden können.

Es lohne sich nach Meinung Suchokas vom Rat der Europäischen Union, sich bewusst zu machen, wie wichtig es für das heutige Europa, das sich oft im Griff des Laizismus befände, wäre, nicht auf das Prinzip der Laizität zu verzichten. Nur das Prinzip der Laizität ebne seiner Meinung nach den Weg für den interreligiösen Dialog und schaffe die Voraussetzungen für das Zusammenleben der Religionen. Was die Religionsgemeinschaften selbst betrifft, so zeige in diesem Sinne nach Meinung Hammers, Religionsphilosoph an der Universität Wien, die Geschichte, dass die Konfrontation mit einem säkularen institutionellen und gesellschaftlichen Umfeld längerfristig religiöse Reflexionsprozesse auslösen könne, die schließlich zur Anerkennung säkularer Grundsätze führten. Eines der besten Beispiele in dieser Hinsicht wäre die theologische Entwicklung, die innerhalb der katholischen Kirche stattgefunden habe. Noch vor wenigen Jahrzehnten wären die Werte, die jetzt in Artikel 2 EUV verankert sind, für die offizielle katholische Lehre größtenteils inakzeptabel gewesen. Die epochale Wende, die durch das Vatikanische Konzil in den sechziger Jahren herbeigeführt wurde, führte nicht zu einer bloßen Anpassung an die säkularen Prinzipien der individuellen Religions- und Meinungsfreiheit, sondern zu einer genuin religiösen, theologischen Fundierung dieser Grundfreiheiten.

Beim Lesen des letzten Kapitels unter dem Titel „The future of Islam in Europe“ gewinnt man den Eindruck, dass es sich um den wichtigsten Beitrag im Buch handeln würde. Dina El Omari vom Zentrum für islamische Theologie der Universität in Münster stellt darin die Ergebnisse ihrer Untersuchung über die Ansichten der Muslime in Deutschland über die Demokratie und die Konfliktbereiche zwischen den Muslimen und der deutschen Gesellschaft vor. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime ein Islam- und Koranverständnis hat, das mit den Werten und der Struktur der deutschen Demokratie vereinbar wäre, dass aber eine kleine Minderheit, die als radikal bezeichnet werden kann, nicht in der Lage sei, eine ähnliche Harmonie im Lebensalltag herzustellen. Die einzige Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, wäre ihrer Meinung nach die flächendeckende Einführung des Religionsunterrichts, die Ausbildung von Klerikern an deutschen Universitäten sowie ein erfolgreiches Integrationsprogramm.

Der Text von Khalid El-Abdoui, der islamische Theologie an der Universität Innsbruck lehrt, stellt hingegen Initiativen für die Ausbildung von Lehrkräften für islamische Theologie und islamische Religionsstudien an europäischen Universitäten vor. Die Debatte um die Einrichtung von Zentren für das Studium der islamischen Theologie in Österreich und in Europa im Allgemeinen im letzten Jahrzehnt habe einige Dinge deutlich und transparent gemacht. Eine wesentliche Tatsache, auf die El-Abdoui hinweisen möchte, ist die Vielfalt der Definitionen und Vorstellungen muslimischer Akteure, wenn es um folgende Fragen geht: Was ist mit islamischer Theologie gemeint, was kann sie leisten und was kann sie den modernen europäischen Universitäten bieten? Angesichts der Tatsache, dass die Frage der Ausbildung lokaler islamischer Theologen in den kommenden Jahren vor allem in Europa einen größeren Platz auf der Tagesordnung einnehmen sollte, hätte man erwartet, dass der Autor in diesem Kapitel die Bildungspolitik im Detail analysiert, hingegen werden bloß Empfehlungen ausgesprochen, dass sich die in diesen Einrichtungen zu vermittelnde Bildung vom traditionellen Unterricht in den Koranschulen unterscheiden und von kritischem Denken sowie modernen und wissenschaftlichen Bildungsparadigmen gespeist werden sollte.

Fikret Karcićs Text am Ende des Kapitels, in dem der Jurist an der Universität in Sarajevo seine persönlichen Ansichten über die Anwendbarkeit des islamischen Rechts im europäischen Kontext zum Ausdruck bringt, ist zwar kurz, aber vielleicht der wertvollste Teil des Buches, da er zur wichtigsten Frage führt. Bekanntlich führten die zunehmende Arbeitsmigration in europäische Staaten, darunter auch Österreich, nach dem Zweiten Weltkrieg und die bei dieser Gelegenheit gebildeten Minderheitengruppen, von denen die meisten Muslime waren, die sich im Laufe der Zeit niederließen, dazu, dass sich neben den Bosniern eine wachsende muslimische Gruppe herausbildete, die als die einheimischen Muslime Europas betrachtet werden kann. Diese Situation bringt die Notwendigkeit einer Umstrukturierung der rechtlichen, administrativen und sogar sozialen Regelungen in der Region unter Berücksichtigung des Islam auf die Tagesordnung. Es ist zweifellos nicht einfach, diese Prozesse zu verfolgen, die von vielen Faktoren beeinflusst werden. Mit dem Dayton-Abkommen von 1995 habe sich die Region, die in kurzen Zeiträumen starke Veränderungen in der Regierungsführung erfahren hat, schließlich zu einer Struktur entwickelt, die aus zwei Entitäten besteht, der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska. Diese Situation in Verbindung mit der Möglichkeit, dass religiöse und ethnische Gruppen, die seit Jahrhunderten in der Region leben und manchmal in Konflikt miteinander stehen, unvorhersehbare Rollen einnehmen könnten, die sich auf die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens auswirkten, mache Bosnien-Herzegowina zu einer sehr schwierig zu untersuchenden Fallstudie. Im Einklang mit der Definition des Islam als Religion und der Scharia als islamisches Normensystem sowie dem Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit als legitimem Rahmen für das Bekenntnis zum Islam sollten die Muslime in Europa folgende Einrichtungen aufbauen: religiöse Gebäude (Moscheen, Schulen und Stiftungen); islamische Gelehrte (ulama); Einrichtungen für die islamische Rechtsauslegung (ifta) und Einrichtungen für die außergerichtliche Streitbeilegung (tahkim), sofern die Religionsgemeinschaften nach den Gesetzen der europäischen Länder in der Lage sind, diese Funktion auszuüben. Die Frage nach der Relevanz der Scharia für Muslime in Europa lasse sich nach Meinung Karcics lösen, indem man den Islam als Religion und die Bereiche seiner Anwendbarkeit als akzeptierte Bestandteile dieser Freiheit – Anbetung, Lehre, Praxis und Befolgung – definierte. Die Grundlage für ein solches Verständnis könne in historischen Präzedenzfällen für die Stellung religiöser Minderheiten in Europa gefunden werden. Darüber hinaus könnten die Erfahrungen muslimischer Gemeinschaften im Laufe der Geschichte (Abessinier, Tataren und Bosnier) als wichtige Inspirationsquelle genutzt werden.

Im Ergebnis: Die Lektüre dieses Sammelbandes zeigt auf, dass die europäischen Gesellschaften vielfältig geworden sind und in Zukunft noch vielfältiger werden. Menschliche Mobilität, in unterschiedlichem Ausmaß und aus verschiedenen Gründen, wird ein inhärentes Merkmal des 21. Jahrhunderts sein, sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene. Die Staaten sind aufgerufen, vielfältige Gesellschaften zu organisieren, um Frieden und den vollen Genuss der individuellen Rechte für alle Bürger zu gewährleisten. Dem Leser wird ein Abriss der rechtlichen Rahmenbedingungen und Strukturen geboten, die sich für die interkulturelle und interreligiöse Harmonie als nützlich erwiesen haben. Bosnien und Herzegowina und Österreich haben eine gemeinsame Geschichte der säkularen Neutralität des Staates gegenüber der Religion, wobei sie gleichermaßen gute Beziehungen zu allen im Staat vertretenen Religionen unterhalten. Innerhalb der Europäischen Union werden derzeit wichtige Fragen im Zusammenhang mit Werten und kultureller und religiöser Vielfalt diskutiert. Die vorliegende Publikation leistet einen unverzichtbaren Beitrag zu diesem europäischen Gespräch und kann sich dabei auf die gemeinsame Geschichte unserer beiden Länder stützen. Die Beiträge in dem Tagungsband verdeutlichen, dass integrative Gesellschaften auf der Grundlage von Grundwerten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Grundrechte aufgebaut werden müssen. Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung sind dabei wichtige Elemente in diesem Zusammenhang. Er geht im Speziellen der Frage nach, ob Bosnien und Herzegowina und Österreich als Modelle für einen rechtlichen Rahmen für den Islam in einem europäischen Kontext dienen könnten. Der Leser wird durch die vielfältigen Beiträge angeleitet, diese Frage nach eingehender Lektüre wohl selbst beantworten zu können. Jedenfalls bietet der Sammelband ein unverzichtbares Sammelwerk zum Verstehen des Islam in einem europäischen Umfeld.


Titelbild: Verlag Österreich

Antrittsvorlesung von Univ.-Prof. Andreas Kowatsch zum Thema „Religionsfreiheit in Zeiten der Pandemie? Anmerkungen aus der Sicht des Religionsrechts und des Kirchenrechts“

am Mittwoch, den 12. Oktober 2022 im Großen Festsaal der Universität Wien

In seiner Antrittsvorlesung widmete sich Univ.-Prof. Andreas Kowatsch zuerst den gemeinsamen Anstrengungen von Staat und Kirche in der Pandemiebekämpfung und ging dann auf das Erkenntnis des  österreichischen Verfassungsgerichtshofes vom 30. Juni 2022 ein. Hier ortet Andreas Kowatsch einen „eindimensionalen Verlgeich“ zwischen Kunst, Kultur und Religion. Der VfGH maß in seinem Erkenntnis dem Art. 15 StGG keinerlei eigenständigen Wert bei. Das Erkenntnis suggeriert, dass die Religionsgesellschaften keine Coronaschutzmaßnahmen ergreifen mussten. In Wirklichkeit war auch die öffentliche Religionsausübung massiven Einschränkungen unterworfen.

„Die Religionsgesellschaften dürfen kritisch hinterfragen, ob sie tatsächlich immer bereit waren, die staatliche Erwartung, die Einhaltung der eigenen Maßnahmen konsequent auch gegenüber ihren Mitarbeitenden durchzusetzen, erfüllt haben. Der Verordnungsgeber darf sich fragen, ob die Bereichsausnahme für die Zusammenkünfte zur Religionsausübung nicht besser begründet hätte werden müssen. Der Normtext selbst hätte ausdrücken können, dass die Ausnahme nur gilt, wenn die Religionsgesellschaften auf der Grundlage von mit den zuständigen Staatsorganen erzielten Vereinbarungen eigenständige Maßnahme ergreifen. Insgesamt hat der österreichische Rechtsstaat die Belastungsprobe der Pandemie bislang gut bestanden.“

(c) Joseph Krpelan – der Knopfdrücker
Andreas Kowatschs Schlussworte bei seiner Antrittsvorlesung am 12. Oktober 2022

Die Antrittsvorlesung können Sie auf unserer Institutshomepage nachsehen.

Univ. Prof. Andreas Kowatsch im Gespräch „Flucht, Asyl und der Faktor Religion: Wo der weltanschaulich neutrale Rechtsstaat an seine Grenzen kommt“

Podcast „Diesseits von Eden“ vom 27. Juli 2022  

Initiiert durch unser Symposium zum Thema Den Glauben glaubhaft machen. Religiöse Konversion im Asylverfahren“ sprach Dr. Henning Klingen mit Univ. Prof. Andreas Kowatsch sowie Frau Professor Sabina Konrad, Leiterin des Grazer Instituts für Kanonisches Recht und dem Innsbrucker Dogmatiker Professor Willibald Sandler über die komplexe Frage, wie man mit Konversionen im Asylverfahren umzugehen hat. Denn religiöse Verfolgung zählt zu den zentralen Flucht- und Asylgründen. Doch wie soll, wie kann der weltanschaulich neutrale Rechtsstaat über religiöse Überzeugungen urteilen?

Unsere Tagung hat sich jetzt mit der Frage befasst: Wie gehe ich mit Menschen um, die am Weg ins neue Land, ins Flucht- oder auch erst im Fluchtland eine Transformation ihrer religiösen Identität erleben und konvertieren, sich von einer Religion, der Herkunftsregion, einer neuen Religion zuwenden und dadurch erst eben befürchten müssen, in ihrem Herkunftsland verfolgt zu werden.“

Andreas Kowatsch im Podcast „Diesseits von Eden“ (27. Juli 2022)

© Daniel Tibi

Sie können den Podcast hier in voller Länge nachhören!

Sommerlektüre: Kirchenfinanzierung in Österreich und in Deutschland

Zur Kirchenfinanzierung werden oftmals übereilt zwei Aussagen getätigt. Die Erste ist das geflügelte Wort bzw. der Stehsatz „Die Kirche und das liebe Geld …“ und beschreibt ein ambivalentes Verhältnis, dass eine verschleierte Finanzgebarung andeuten mag. Die zweite Aussage ist ein Ausschnitt aus dem Münzlogion mit dem viel zitierten Wort Jesu „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gott, was Gott ist!“ (Mt 22,21)1. Aber was und wie viel ist eigentlich das, was Gott geschuldet wird? Die finanziellen Mittel der kirchlichen Organisation, ihre Beschaffung, ihr Einsatz und die Botschaft des Evangeliums werden oftmals in ein Spannungsverhältnis gebracht, was auf den ersten Blick die Kirche und das Geld radikal spaltet. Zusätzlich ist dieses Thema eines, welches im modernen Zusammenspiel von Staat und Kirche Emotionen erregt und für Diskussionsbedarf sorgt. Angelehnt an den Ausspruch Jesu kann provokativ nicht nur die Frage gestellt werden, was Gott gegeben werden muss oder was dem Kaiser gegeben werden muss, sondern schuldet auch der Kaiser (also staatliche Macht) etwas Gott?

Im folgenden Interview befassen sich Prof. Matthias Pulte aus Mainz und Univ.-Prof. Andreas Kowatsch aus Wien mit der Thematik der Finanzierung von Kirchen und Religionsgesellschaften und gehen besonders auf die innerkirchlichen Regelungen der katholischen Kirche ein. Das Interview führte Univ.-Ass. Florian Pichler.


Foto: Sebastian Holzbrecher

Foto: Armin Hubner
Matthias Pulte lehrt seit 2010 Kanonisches Recht an der Johannes Gutenberg Universität Mainz.
2014 erschien sein Werk: Hense / Pulte (Hgg.), Grund und Grenzen staatlicher Religionsförderung unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses von Staat und Katholischer Kirche in Deutschland (Kirchen- und Staatskirchenrecht Bd. 17). ISBN 978-3-506-77882-6
Andreas Kowatsch ist seit 2019 Universitätsprofessor für Kirchenrecht und Religionsrecht an der Universität Wien. 2020 publizierte er als Herausgeber: Kowatsch (Hg.), Vom Ererbten und Anvertrauten Die kirchliche Vermögensverwaltung auf dem Prüfstand. ISBN: 978-3-8306-8126-7

Schuldet der Kaiser etwas Gott? Was beide Staaten historisch trennt und eint

Staatsleistungen2 an Kirchen werden in Deutschland heftiger kritisiert als in Österreich. Trotzdem lohnt es sich, den Blick in die BRD zu lenken und anschließend den Vergleich zu Österreich zu ziehen. Dabei wird sich herausstellen, dass dies gar nicht so einfach zu vergleichen ist. Wie so oft sind Finanzierungsmodelle historisch gewachsen …

Finanzierungssysteme mit Geschichte

Interviewpartner Matthias Pulte betont dabei die Subsistenzwirtschaft der mittelalterlichen Kirche in Mitteleuropa. Große Spenden und Schenkungen begründeten seit der Antike ein kirchliches Vermögen, das kirchlicher- und staatlicherseits mit einem Alienationsverbot belegt war. Amortisationsgesetze folgten auf diese im 14. Jahrhundert. Eine entscheidende Wende brachte § 68 des Reichsdeputationshauptschlusses3 von 1803, der zu einer Enteignung kirchlicher Güter führte. Es fehlte ab diesem Zeitpunkt an finanziellen Mitteln, um „die Kernbereiche von Caritas und Verkündigung abzudecken“, meint Matthias Pulte. Staatlicherseits wird anschließend die Initiative ergriffen, Steuerleistungen für diese Zwecke der Kirchen einzuheben. 1827 ist das erste dieser Steuergesetze im Lippischen nachzuweisen. Dieses und weitere Gesetze sind Folgen der zwei großen Enteignungen kirchlichen Besitzes in der Reformation und 1804. Der Staat schloss Rückübereignungen aus, sodass Entschädigungsleistungen festgesetzt und ausgezahlt wurden. Der bis heute übergeleitete Art. 138 (1) der Weimarer Reichsverfassung bestätigt diese historisch begründeten Staatsleistungen an Kirchen und Religionsgemeinschaften und verweist sie an die Landesgesetzgeber. Gegenwärtig stehen verschiedene Ablösevorschläge zur Debatte.

Das Alienationsverbot beschreibt das Verbot der Verweltlichung.
Kirchenvermögen durfte nicht an weltliche Autorität veräußert werden.
Kirchliches Vermögen wird deswegen auch als „Vermögen zur toten Hand“ bezeichnet.

Auch wenn sich die mittelalterliche Kirchenfinanzierung auf den Gebieten des heutigen Österreichs und Deutschlands deckt, gibt es zentrale historische Unterschiede: Zwar flossen Güter ebenso an die Manus morphoi (Tote Hand) und wurden dadurch dauerhaft Teil des Kirchenvermögens; eine entscheidende Wende für Österreich bedeutete aber das Jahr 1782 und seine Josephinistische Reform: Joseph II. (1765–1790 Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, 1780–1790 Alleinregent in den österreichischen Erblanden) griff durch seine kirchlichen Reformen stark in die Kirchenfinanzierung ein. Durch die vorrangige Enteignung von Klostervermögen stellte er kirchliches Gut zweckgebunden unter staatliche Aufsicht. Daraus sollten Pfarren und Priester finanziert werden. Unklar blieb, ob es nun staatliches oder kirchliches Vermögen sei, meint Andreas Kowatsch. Bis in die Zeit des Neoabsolutismus (1850er) verwalten staatliche Organe dieses kirchlich zweckgebundene Vermögen und ermöglichten dem Benefizialsystem ein Fortbestehen. Juristisch gesprochen „überlebte“ der Religionsfond das Ende der Habsburgermonarchie und finanzierte die katholische Kirche weiter. Andere Religionsgesellschaften (wie z.B. die Evangelische Kirche, die Altkatholische Kirche, oder die jüdische Kultusgemeinde) erwirtschafteten zu dieser Zeit ihre finanziellen Mittel über ein Umlagesystem. Dieses Umlagesystem wurde staatlicherseits den Religionsgesellschaften zugesichert und durch den Staat verwaltet. Damit hob der Staat für die übrigen Religionsgesellschaften einen Beitrag ein, weil sie nicht aus dem Religionsfond gespeist wurden. Dieses Recht wurde später auch der katholischen Kirche zugesprochen. Das war notwendig geworden, weil die Mittel des Religionsfonds zur Erfüllung seiner Zwecke nicht mehr ausreichten. Zusätzlich stützen Congrua-Ergänzungen mit staatlichem Geld jene zu kleinen Erträge aus dem Religionsfond. 1939 brachte der Einzug des Religionsfonds die „echte Säkularisation“ (Andreas Kowatsch) mit sich. Durch das Kirchenbeitragsgesetz 1938 soll eine Austrittswelle losgetreten werden. Unerwartet trat jedoch eine Solidarisierungswelle der Gläubigen mit ihrer Kirche auf. Gläubige bezahlten freiwillig ihren Beitrag. Trotz der Frage, ob nicht das Kirchenbeitragsgesetz nationalsozialistisches Gedankengut enthält, wurde es 1945 in das Rechtssystem der jungen zweiten Republik übergeleitet. Entscheidende Weichen stellte Art. 26 des Staatsvertrages4 1955. Er verpflichtete die Republik Österreich zur Restitution des enteigneten Vermögens. Im Vermögensvertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich wurde 1960 von Wiedergutmachungszahlungen in diesem Zusammenhang gesprochen. Teil dieser Rechtsmaterie ist eine Verpflichtung zur Valorisierung, sodass 2020 der siebente Zusatzvertrag zum vermögensrechtlichen Teil des Konkordats in Kraft trat.

Der Vermögensvertrag ist ein Vertrag zwischen dem Heiligen Stuhl und der Republik Österreich zur Regelung von vermögensrechtlichen Beziehungen (StF: BGBL. Nr. 195/1960 idF BGBl. III Nr. 36/2021) und ein völkerrechtlicher Vertrag. Sieben Zusatzverträge (BGBl. III Nr. 36/2021; der Letzte 2021) ergänzen diese Rechtsmaterie.

Als entscheidenden Unterschied zur bundesdeutschen Rechtslage merkt Andreas Kowatsch an, dass die Geldleistungen des Staates an die Kirchen und Religionsgesellschaften in Österreich im Bundesfinanzgesetz als Subventionen des Staates geführt werden. Dieser Wortwechsel lässt politische Diskussionen zu, wenn man der misslichen Formulierung der Subventionen folgt, die jedoch Entschädigungsleistungen aufgrund des Art. 26 des Staatsvertrags von Wien sind.

Kirchenbeitrag / Kirchensteuer

Umgangssprachlich betiteln Katholik:innen in Österreich ihre religiösen Solidaritätsbeiträge an die Katholische Kirche gerne als „Kirchensteuer“. Dies ist aber nicht korrekt, denn Steuern hebt nur der Staat ein. „Die Rechtsnatur dieses Kirchenbeitrages ist (im Unterschied zu Deutschland) keine Kirchensteuer. Der Kirchenbeitrag ist kein rein zivilrechtlicher Beitrag und trotzdem keine Steuer. Seine Höhe wird in der Kirchenbeitragsordnung als eine innere Angelegenheit festgelegt. Er ist eine zivilrechtlich einklagbare Umlage; aber mit der Besonderheit, dass er – anders als Vereinsbeiträge – erst dann einklagbar ist, wenn der Staat die Kirchenbeitragsordnung genehmigt hat. Dies ist ein staatskirchenrechtliches Hoheitselement unserer Rechtsordnung. Vereinsbeiträge müssten niemals vom Staat genehmigt werden.“ (Andreas Kowatsch) Er kann in Österreich bis zu einer Höchstsumme von 400,- Euro steuerlich berücksichtigt werden.

In der Bundesrepublik Deutschland hingegen sind die Geldleistungen an die Kirchen und Religionsgemeinschaften staatlich eingehoben und werden von diesem an die religiösen Autoritäten abgeführt. Der Staat behält sich 3–4% davon zurück, um den Verwaltungsaufwand zu decken. Matthias Pulte hält dies aber für unangemessen. „Was früher Mitarbeiter:innen händisch berechneten, erledigen heute digitale Systeme. Allerdings fiele der Personalaufwand für Kirchen und Religiosngemeinschaften höher als 3–4% der Steuereinnahmen aus, müssten sie selbst das Personal und Infrastruktur dafür bezahlen“ (Matthias Pulte).

Im Unterschied zu Österreich erhalten Kirchen und Religionsgemeinschaften in Deutschland
das Besteuerrungsrecht. Diese sind steuertechnisch vollabzugsfähig“
(Matthias Pulte)

In Österreich wird der Kirchenbeitrag der Katholischen Kirche von der diözesanen Kirchenbeitragsorganisation eingehoben. Die Höhe des Beitrags pro Katholik:in wird entweder durch Berechnung aufgrund eines Einkommensnachweises (Lohnzettel) oder durch Selbsteinschätzung der Gläubigen geleistet. Seriösen Schätzungen zur Folge würde eine Finanzierung durch eine staatliche Steuer mittels Nachweispflicht und Berechnung auf dieser Grundlage zu um 40 % höhere Gesamtsummen führen. Zusammen mit den 9 % der derzeitigen Ausgaben für Werbe-, Sach- und Personalkosten der diözesanen (kirchlichen) Kirchenbeitragsstellen für die Organisation des Beitragswesens ist dieser Differenzbetrag nicht unerheblich. Seriöse Pläne, den Kirchenbeitrag staatlich einheben zulassen gab es auch in Österreich, betont Andreas Kowatsch. Die Diözesanbischöfe stimmten jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg dagegen.

Wer in Österreich oder Deutschland nachweislich für religiöse Zwecke spendet,
kann dies steuerlich berücksichtigen.

Zusätzlich sind weitere Spenden an Kirchen oder Religionsgesellschaften von steuerlicher Relevanz: Wer in Deutschland an Kirchen oder Religionsgemeinschaften spendet, ist dort steuerlich voll abzugsberechtigt. Spendenprojekte außerhalb der Kirchensteuer sind dadurch ebenso staatlicherseits steuerlich begünstigt. In Österreich besteht für Kirchen und Religionsgesellschaften die Möglichkeit, Spendenaktionen durch eine Meldung an das Finanzministerium ebenso steuerlich begünstigen zu lassen. Dies geschah beispielsweise bei der Restaurierung der Riesenorgel im Stephansdom.

Verpflichtendes Erbe und Auftrag: Verwendung der Mittel

Berechtigt fragen heute katholische Gläubige und Beitragszahler:innen / Steuerzahler:innen nach den Verwendungszwecken ihrer Gelder. Ein Blick ins Kirchenrecht lässt aber klar durchblicken, dass es Zweckbindungen gibt. „Dreh- und Angelpunkt ihrer Finanzierung sind für die Katholische Kirche c. 222 und c. 1254 CIC. Der eine verpflichtet die Gläubigen, einen angemessenen Beitrag zu leisten, der andere beansprucht „Vermögen zur Verwirklichung der eigenen Zwecke zu erwerben, zu besitzen, zu verwalten und zu veräußern“ (Matthias Pulte). Einerseits werden damit seit der Urkirche drei Bereiche finanziert: die Feier des Gottesdienstes, der Unterhalt der Kleriker und die Unterstützung der Armen. (Vgl. dazu die Rezension zum Buch: Pulte, Das Vermögensrecht der katholischen Kirche (2019) in Recht und Religion.) Die Kleriker sind heute um jene Menschen zu erweitern, die Mitarbeiter:innen der Pastoral und der kirchlichen Verwaltung sind. Auch Pastoralassistent:innen oder seelsorgliche Mitarbeiter:innen erhalten somit ein kirchliches Gehalt.

O-Ton: Andreas Kowatsch zur Zweckbindung kirchlichen Vermögens

Mit der Feier des Gottesdienstes ist auch die Baulast verbunden. Die Baulast (Erhaltungskosten) für historische Kirchenbauten ist nicht zu unterschätzen. In Deutschland ist der Staat noch öfter als in Österreich verpflichtet, sich an diesen baulichen Erhaltungen / Restaurierungen zu beteiligen. Dies betrifft vor allem die negativen Staatsleistungen.

Positive und negative Staatsleistungen

Gelder, die aus dem Staatshaushalt an Kirchen und Religionsgemeinschaften fließen, sind in zwei Gruppen zu teilen, erklärt Matthias Pulte. Die positiven Staatsleistungen sind Geldleistungen des Staates, die aufgrund von Verpflichtungen des Staates gegenüber den Kirchen und Religionsgesellschaften gezahlt werden. Dazu zählen in Deutschland die Dotationen der Bischöfe und selten noch der Pfarrer. Diese Gelder werden pauschaliert und zweckgebunden als Fixum an die kirchliche Autorität gezahlt. Kritisch muss dorthin geblickt werden, wo die kirchliche Autorität diesen Zweck nicht mehr vollumfänglich ausführt. Andererseits sind negative Staatsleistungen für die Kirchen- und Religionsgesellschaften von Bedeutung: Die Befreiung von Grund- oder Grunderwerbssteuer sind nicht unerwähnt zu lassen. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich sind für den Gottesdienst gewidmete Räume von der Grundsteuer befreit. Für Gebäude in zentraler Stadtlage – wie Stephansdom und Kölner Dom – ist dies nicht unerheblich.

Spende, Abgabe und Steuer

Immer wieder werden Meinungen laut, dass große Geldsummen über kirchliche Wege ins Ausland fließen. Prinzipiell ist nach dem universalen Kirchenrecht keine globale Umverteilung vorgesehen. Vermögen kommt demjenigen zu, der es aufbringt, dem es gehört und dort soll es auch verwendet werden. Das bedeutet, dass die jeweiligen Teilkirchen (Ortskirchen / Diözesen) aufgerufen sind, sich selbst zu erhalten. Dabei darf jedoch der appellative Charakter des Subsidiaritätsprinzips nicht vernachlässigt werden. Solidarisch helfen Bistümer einander, wie auch die diözesan organisierte Caritas oder einzelne Diakonien anderernorts als im eigenen Gebiet helfen. Der Papst hat diesbezüglich jedoch kein Mitbestimmungsrecht. Dies ist den jeweiligen Diözesen überlassen. Ebenso gibt es keine römische Aufsicht über die einzelnen diözesanen Organisationen. Letztverantwortlicher ist der Diözesanbischof.

C. 222 §§ 1–2 CIC: „Die Gläubigen sind verpflichtet, für die Erfordernisse der Kirche Beiträge zu leisten, damit ihr die Mittel zur Verfügung stehen, die für den Gottesdienst, die Werke des Apostolats und der Caritas sowie für einen angemessenen Unterhalt der in ihrem Dienst Stehenden notwendig sind. Sie sind auch verpflichtet, die soziale Gerechtigkeit zu fördern und, des Gebotes des Herrn eingedenk, aus ihren eigenen Einkünften die Armen zu unterstützen.“

Spenden, die beispielsweise sonntags bei der Kollekte zusammengetragen werden, können von den Pfarren frei verwendet werden, betont Matthias Pulte. „Wenn keine bischöfliche oder päpstliche Zweckbindung vorgesehen ist, darf damit jedes Ziel verfolgt werden mit Ausnahme der Besoldung von Pfarrern und Mitarbeiter:innen “.

Schnittstelle Religionsunterricht: Staatliches Gehalt für die Lehrer:innen von kirchlichem Inhalt

Für viele erscheint es alltäglich, dass in Österreich und in Deutschland Religion an Schulen unterrichtet wird. Dieses Fach rückte in letzter Zeit dann in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit, wenn es in Zusammenhang mit der Frage nach dem neuen Pflichtfach Ethik diskutiert wurde. Durch die Bezahlung von Religionslehrer:innen leistet der Staat Personalsubventionen für inhaltlich kirchliche Zwecke, die formalrechtlich staatliche Aufgabe sind. Er finanziert damit auch indirekt die religionsunterrichtleistenden Kirchen und Religionsgesellschaften, darunter auch den Islam.

Der Religionsunterricht ist in Österreich – wie jedes andere Schulfach – Angelegenheit des Staates. Er lässt ihn aber von den Vertreter:innen der gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften frei besorgen. Unterschiedslos der Konfession oder Religion erhalten Lehrer:innen des Schulunterrichtsfaches ein staatliches Gehalt. Es spielt dabei ebenso keine Rolle, ob sie an einer kirchlichen Privatschule oder an einer öffentlichen staatlichen Schule unterrichten. Religionslehrer:innen erhalten wie alle übrigen Lehrer:innen für ihre Tätigkeit ein staatliches Gehalt.

Art. 7 GG: (1) Das gesamte Schulwesen steht unter der Aufsicht des Staates. (2) (…) (3) Der Religionsunterricht ist in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach. Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.

In Deutschland findet der Religionsunterricht als einziges Unterrichtsfach in Art. 7 (3) GG ausdrückliche Erwähnung im Grundgesetz. „Unbeschadet des staatlichen Aufsichtsrechtes wird der Religionsunterricht in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt.“ Lehrer öffentlicher Schulen werden damit unabhängig ihres unterrichteten Faches vom Staat besoldet; Lehrer privater Schulen werden unabhängig von ihrem Fach nicht staatlich bezahlt.

Sollte die kirchliche Autorität einzelnen Religions:lehrerinnen die Missio canonica (c. 805 CIC) entziehen, unterrichten sie nur noch ihr zweites (säkulares) Schulfach und erhalten weiterhin ein staatliches Gehalt. Das gilt auch für Österreich, solange ein zweites Fach unterrichtet werden darf.

Kooperationsrechtliche System haben einen höheren Output

Wenn eingangs von Überlegungen zur Ablöse von Staatsleistungen oder der Umwandlung von kooperativen rechtlichen Modellen der Zusammenarbeit von Staat und Religionsgemeinschaften in ein laizistischen Staat und Religionsgemeinschaften trennendes System für Deutschland gesprochen wurde, muss mitbedacht werden, was Kirchen und Religionsgemeinschaften tagtäglich an Unterstützung für Menschen in Not leisten. Caritas oder Diakonie beispielsweise könnten ohne Zuschüsse kaum ein solides Fundament bilden, um weitere Spenden zu rekurrieren und damit schlussendlich Menschen in Not zu helfen. Religionslehrer:innen tragen einen wichtigen Beitrag dazu bei, dass Menschen für ein soziales Miteinander sensibilisiert werden und sich solidarisieren.

Der kirchliche Output darf mit dem Böckenförde-Dilemma in Bezug gebracht werden:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen,
die er selbst nicht garantieren kann“

Zuletzt bieten Kirchen und Sakralbauten Räume, die dem Menschen Platz für Gottesdienste oder Platz für Gebete bieten, die unter einer holistischen Sichtweise Teil seiner Existenz und seiner Gesundheit sind. Sie zu erhalten dient in erster Linie dem religiösen Menschen, erst danach der Sicherung eines Kulturdenkmals. Laizistische Trennung würde zwar dem Staat Geld sparen, aber würde wesentlich mehr zerstören, was dem Menschen „lieb und heilig“ ist, als es möchte. Ein engmaschiges soziales Netz der Fürsorge und des Miteinanders würde spröde auseinanderbrechen und durchlässig werden. Den Output aus diesen kooperationsrechtlichen Systemen könnte der laizistische Staat, der Religion und Staat strikt voneinander trennt, allein nicht finanzieren. Es würde schlussendlich größere Probleme und Finanzierungsfragen in sozialen Fragen mit sich bringen. Matthias Pulte und Andreas Kowatsch sind sich dabei einig: Damit verbunden bleibt die Mahnung an die Kirchen und Religionsgemeinschaften, transparent und nachvollziehbar mit dem Geld der Gläubigen umzugehen und kritisch zu prüfen, wofür es verwendet wird.

Anmerkungen

1 „ἀπόδοτε οὖν τὰ Καίσαρος Καίσαρι καὶ τὰ τοῦ θεοῦ τῷ θεῷ.“ aus Mt 22, 15–22: „Damals kamen die Pharisäer zusammen und beschlossen, Jesus mit einer Frage eine Falle zu stellen. (…) Sag uns also: Ist es nach deiner Meinung erlaubt, dem Kaiser Steuer zu zahlen, oder nicht? Jesus aber erkannte ihre böse Absicht und sagte: Ihr Heuchler, warum stellt ihr mir eine Falle? Zeigt mir die Münze, mit der ihr eure Steuern bezahlt! Da hielten sie ihm einen Denar hin. Er fragte sie: Wessen Bild und Aufschrift ist das? Sie antworteten: Des Kaisers. Darauf sagte er zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und Gott, was Gott gehört! Als sie das hörten, waren sie sehr überrascht (…).“

2 Kritik bzw. die Forderung nach einem Ende der Staatsleistungen (in der BRD) erheben beispielsweise: Bundestagswahlprogramm DIE GRÜNE Bundestagswahlprogramm 2017, S. 121.

3 Text § 68 des Reichsdeputationshauptschlusses, online unter: http://www.documentarchiv.de/nzjh/rdhs1803.html [Abruf: 20.06.2022]: „Bei denjenigen geistlichen Ländern, welche nicht ganz oder größtentheils mit ihren Residenzen an einen weltlichen Herrn kommen, sondern unter mehrere vertheilt werden (…) , sind sowohl in Ansehung der standesmäßigen Unterhaltung der unter der gegenwärtigen Veränderung leidenden Personen, als wegen der Sicherstellung der Dienerschaften des Landes, auch kirchlichen, religiösen Verfassung und dergleichen, alle diejenigen Grundsätze in Anwendung zu bringen (…). Nur erfordert die Vertheilung der Sustentationssumme, und der Fonds (…) in diesen Landen nothwendig näher Bestimmung. Diesemnach fallen die (…) einzelnen (…) Lasten, z.B. die Unterhaltung eines mittelbaren Klosters, die Uebernahme der Beamten und Diener eines einzelnen Amtes (…), denjenigen neuen Herren allein zur Last, die solche erhalten (…). Zur Vertheilung unter sämmtliche neue Theilhaber eines solchen Landes bleiben also nur die auf das Ganze sich beziehenden Lasten übrig, wohin denn vorzüglich die Sustentationssumme des von der Regierung abtretenden geistlichen Landesherrn gehört. (…).

4 Art. 26 Staatsvertrag von Wien (= Staatsvertrag betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich StF: BGBl. Nr. 152/1955 idF BGBl. III Nr. 179/2002 idgF BGBl. I Nr. 2/2008.): „1. Soweit solche Maßnahmen noch nicht getroffen worden sind, verpflichtet sich Österreich in allen Fällen, in denen Vermögenschaften, gesetzliche Rechte oder Interessen in Österreich seit dem 13. März 1938 wegen der rassischen Abstammung oder der Religion des Eigentümers Gegenstand gewaltsamer Übertragung oder von Maßnahmen der Sequestrierung, Konfiskation oder Kontrolle gewesen sind, das angeführte Vermögen zurückzugeben und diese gesetzlichen Rechte und Interessen mit allem Zubehör wiederherzustellen. Wo eine Rückgabe oder Wiederherstellung nicht möglich ist, wird für auf Grund solcher Maßnahmen erlittene Verluste eine Entschädigung (…) gewährt (…). Siehe auch Bundesgesetz vom 20. Dezember 1955, womit Bestimmungen zur Durchführung des Artikels 26 des Staatsvertrages, BGBl. Nr. 152/1955, hinsichtlich kirchlicher Vermögensrechte getroffen werden. StF: BGBl. Nr. 269/1955 idF BGBl. Nr. 98/1988.

DOI: 10.25365/phaidra.348

Thema: Kategoriale Seelsorge

Nach coronabedingten Verschiebungen konnte das Seggauer Gespräch zu Staat und Kirche am 21. und 22. April 2022 auf Schloss Seggau in der Steiermark mittlerweile schon zum achten Mal stattfinden. Das Team des Instituts für Kirchenrecht und Religionsrecht hat das Thema der Tagung als Einladung verstanden, auf rechtundreligion.at ebenfalls zu einigen wichtigen Fragen zur „kategorialen Seelsorge“ aus religions- und kirchenrechtlicher Sicht Beiträge zu leisten und so in den Dialog zu treten. Diese thematische Andockung erfolgte in Absprache mit den Veranstaltern des Seggauer Gesprächs, denen wir dankbar sind, dass wir rechtundreligion.at im Rahmen der Tagung auch kurz vorstellen konnten. Zeitgleich mit dem Seggauer Gespräch erfolgte die Freischaltung unserer Beiträge über die (kategoriale) Seelsorge im Allgemeinen, die Krankenhaus- und die Militärseelsorge. Besonders freuen wir uns, dass Militärseelsorger aus vier verschiedenen Religionsgemeinschaften bereit waren, in Form von kurzen Videos ins Gespräch mit uns zu treten. In Vertretung des österreichischen Militärbischofs konnte Dr. Harald Tripp als Kanzler des Militärordinariates zudem selbst einen Vortrag auf Schloss Seggau halten. Aus seiner Feder stammt auch der hier veröffentlichte Tagungsbericht.

Unsere Beiträge zum Thema „Kategoriale Seelsorge“:


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