Synodalität lernen heißt: aufeinander hören. – Perspektiven des Kirchenrechts

Der Begriff „Synodalität“ ist zu einem Leitbegriff im Pontifikat von Papst Franziskus geworden. Seit dem programmatischen Apostolischen Schreiben „Evangelii gaudium“ vom 24. November 2013 werden Gewohnheiten, Stile, Zeitpläne und Sprachgebrauch einer ernsthaften Prüfung unterzogen, ob sie wirklich der Evangelisierung in der heutigen Welt dienen oder nur Selbstbewahrung sind. Das Institut für Kirchenrecht und Religionsrecht hat sich in den letzten Semestern von verschiedenen Seiten mit „Synodalität“ befasst und möchte dabei in drei unterschiedlichen Beiträgen interessierten LeserInnen einen Zugang zu diesem Leitbegriff vom Blickpunkt des Kirchenrechts bieten.

Studierende des Kirchenrechts haben sich im WS 2022 in einer Lehrveranstaltung unter dem Titel: „Synodalität im Kirchenrecht – Seminar zum synodalen Prozess der Weltkirche“ ausgiebig mit dem Prozess der Synodalisierung befasst. Themen waren dabei: Begriff und historische Entwicklung von Synodalität, die historische Entwicklung der päpstlichen Unfehlbarkeit und ihr Verhältnis zur Synodalität, sowie Synodalität auf Ebene des Bistums und der Pfarrei, in den katholischen Ostkirchen und in den Religioseninstituten. Da aktuell, wurde eben auch auf die Entwicklungen des synodalen Weges in Deutschland sowie auf die Weltsynode 2021–2024 eingegangen. Abschließend hielt im Rahmen dieser Lehrveranstaltung Prof. Dr. Myriam Wijlens, Inhaberin des Lehrstuhls für Kirchenrecht der Katholisch-Theologischen Fakultät an der Universität Erfurt, am 12. Dezember 2022 an der Universität Wien einen Gastvortrag zum Thema „Zuhören und Unterscheiden. Katholizität in der weltweiten Synode 2021–2024“.

Ein Bericht von Sr. Romana-Maria Paleček fasst diesen Vortrag treffend zusammen, wobei vor allem auf die nationalen Synthesen der diözesanen Phase eingegangen wird, die laut Prof. Wijlens überraschend eine einzigartige Übereinstimmung sowohl bezüglich der Hoffnungen und positi­ven Erfahrungen als auch angesichts der zur Sprache gebrachten Fragen und offenen Probleme der Kirche weltweit zeigen würden.
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Harald Tripp zeigt in seinem Beitrag unter dem Titel „Kirchenrecht zwischen Bischofsamt und Synodalität“ auf, dass sich die Konzentration auf die Beziehung zwischen Kollegialität und Primat unter anderem dazu geführt hätte, dass Syn­odalität vorwiegend mit der Tätigkeit der im Konzil versammelten Bischöfe identifiziert wird. Dies sei aber heu­te teilkirchlich zu bestimmen, worauf im Artikel näher eingegangen wird. Zudem unterstreicht der Autor die regionale Ebene durch die Subsidiarität im Verträgen, die schon unter Papst Johannes Paul II. auf der Ebene der Konkordatspolitik konkret umgesetzt wurde, indem er verschiedenen Bischofskonferenzen die Aufgabe zugewiesen hatte, Regelungen zur Umsetzung der festge­legten Konkordate zu erlassen und sogar weitere Vereinbarungen mit dem Staat auf lokalkirchlicher Ebene zu treffen. Auf Ebene der Gesamtkirche wäre nach einer stärkeren Beteiligung der Partikularkirche bei den Bischofsernennungen sowie des Einsatzes von Laien in den Aufgaben und Diensten der Kirche, wie durch die jüngste Kurienreform angeregt, zu setzen. Der Verfasser regt einen Gedanken nach einer neuen Grundrechtsordnung in der Kirche an, die Rechtsordnung der katholischen Ostkirchen, sollten dabei vertieft werden, da sie dem Kanonisten und Theologen eine bereichernde Perspektive öffnen, die die Kodifizierung nicht zweier, sondern sogar mehrerer lokaler Codices garantieren könnte, die notwendig wären, um die synodale Dimension der Organisation in der Vielfalt der Partikularkirchen zu unterstreichen.
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Im dritten Beitrag befasst sich Felix Ouedraogou befasst sich in seiner Dissertation am Institut für Kirchenrecht und Religionsrecht u. a. mit dem Thema der Mitwirkungsrechte in der Kirche. Unter dem Titel „Die Mitwirkung in der Kirche als Form der Partizipation nach dem CIC: Die Mitwirkungsrechte“ Überlegt er eine spezifische Form der Kooperation, nämlich die Mitwirkungsrechte im Rahmen der Partizipation im geltenden Kirchenrecht zu stärken. Im CIC gibt es etwa 250 Vorschriften verschiedener Art von Mitwirkungsrechten. Dies zeigt Oedraogou im Blick auf die Umsetzung der Mitwirkung im geltenden Gesetzbuch der Kirche in folgenden Bereichen auf: Vereinigungsrecht (c. 216 CIC), Schulrecht (c. 803 § 3 CIC), im Blick auf Publikationen (c. 831 § 1 CIC) und hinsichtlich Heiliger Orte (c. 1210 CIC), sowie auf die rechtsgültige Veräußerung kirchlicher Güter (c. 1291 CIC).
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Alle drei Beiträge zeigen auf ihre Art auf, dass das Ziel des Gesetzgebers das Wohl der kirchlichen Gemeinschaft (vgl. c. 1752 CIC) garantieren müsse. Die Sendung der Kirche könne auch im Blick auf den Leitbegriff „Synodalität“ nur fruchtbar sein, wenn es eine echte Gemeinschaft unter den Gläubigen gibt, die berufen und gesandt sind, den Auftrag Christi zu erfüllen. Jeder Getaufte ist ein Glied des Volkes Gottes und berufen, seiner Lebenssituation entsprechend daran mitzuwirken, die kirchliche Gemeinschaft (Communio) zu verwirklichen. Dazu will Synodalität in der Kirche beitragen und so verstanden ist sie unverzichtbar.

Der Themenblock über Synodalität und Perspektiven vom Blickpunkt des Kirchenrechts versteht sich als kleine Stimme zu einer sich stets rasch entwickelnden kirchlichen Wirklichkeit, die die Kirche durch das Zuhören als eine vom Geist Gottes geführte Weggemeinschaft versteht. Mögen diese Beiträge auch für einen breiteren interessierten Leserkreis dabei hilfreich sein, Synodalität zu reflektieren und für die Praxis und die Verbesserung der Rechtsordnung der Kirche fruchtbar zu machen!

Harald Tripp

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Synodalität und die Ebenen der Kirchenverfassung. Theologische und kanonistische Blicke auf das Bischofsamt

Einführung: Das Kirchenrecht zwischen Bischofsamt und Synodalität

Meine Thematik lässt sich insbesondere im zweiten Buch des CIC 1983 verorten. Heute sind wiederum im theologischen Diskurs Fragen zwischen Ekklesiologie und Kirchenrecht relevant, wenn diese Beziehung auch schwerfällig erscheinen mag.

Ekklesiologische Grundlagen

Communio und Synodalität

Aus Anlass des 50- jährigen Jubiläums der Bischofssynode betonte Papst Franziskus am 17. Oktober 2015, dass die Synodalität eine „grundlegende Dimension“ der Kirche wäre, und einen „Interpretationsrahmen zum richtigen Verstehen des hierarchisch strukturierten Dienstamtes in der Kirche“ böte. Diese Worte weisen eine beachtliche Analogie mit dem Denken einiger Theologen und Kanonisten auf, besonders mit dem Zugang des Schweizer Theologen und Kanonisten Eugenio Corecco (1931-1995)1. In Coreccos Überlegungen sind Communio und Synodalität nicht nur zwei Schlüsselbegriffe der Ekklesiologie, sondern zwei Dimensionen von „ontologischer Bedeutung“, die eng miteinander verwoben sind. Wechselseitige Immanenz von Gesamt- und Teilkirche nach LG 23 ist der Dreh- und Angelpunkt der gesamten Ekklesiologie Coreccos.

Bei Corecco geht sein Verständnis auf die Theologie von Hans Urs von Balthasar zurück, dessen Theologie auch seine kanonistische Sichtweise wesentlich beeinflusst hatte. Der Christ erhalte seinen Stand vor Gott, im Sinne eines gnadenhaften gottgeschenkten Zustandes. Schon jeder Getaufter ist ein Gerufener, denn durch die Taufe tritt er ein in die neue Seinsform des Christus Standes.2Die „zirkuläre Beziehung“ zwischen den verschiedenen Ständen bedeutet bei Balthasar wie bei Corecco, dass jeder Stand insofern ein solcher ist, als er „ein Abbild von etwas ist, das auch in den anderen Ständen des Lebens vorhanden ist“, so dass keiner von ihnen ohne den anderen existieren kann, sondern jeder die anderen ergänzt, um den Leib Christi wachsen zu lassen3.

Im Lichte dieser Prämissen kann man verstehen, dass die große Einschränkung des Zweiten Vatikanischen Konzils für Corecco darin bestand, sich auf die Beziehung zwischen Kollegialität und Primat zu konzentrieren, d.h. dem Verständnis von Synodalität mit der als Tätigkeit der am Konzil versammelten Bischöfe.

Das Bischofsamt

Die offensichtlich bedingte Dynamik des Konzils führte zur Bekräftigung der Sakramentalität des Bischofsamtes, die in Verbindung mit der Kollegialität die Probleme verschärfte. Die Konzentration auf die Beziehung zwischen Kollegialität und Primat hat unter anderem dazu geführt, dass die Synodalität mit der Tätigkeit der im Konzil versammelten Bischöfe identifiziert wird. Dies ist aber heute teilkirchlich zu bestimmen: Der künftige Bischof kommt aus einer Kirche, die apostolisch ist, weil sie in eine Communio ecclesiarum eingegliedert ist, und die daher in der Lage ist, den Hirten auszuwählen und vorzustellen, der mit dem vorgesehenen liturgischen Ritus ein solcher wird, ein Bischof, der in und aus der Gemeinschaft der Ortskirchen geboren ist.

Die Synodalität

Synodalität als Mitverantwortung

In der Wiederaufnahme des klassischen „quod omnes tangit debet ab omnibus approbari“ durch Papst Franziskus kann man die Aufforderung erkennen, die Logik der klerikalen Potestas endgültig zu überwinden, die sich falscher Ängste vor subsidiären Strömungen bedient und die Entwicklung des kirchlichen „Propriums“ torpediert, das mit der Taufe die Gläubigen in einen Status grundlegender Gleichheit versetzt.

Inzwischen ist in der 10. Auflage des CIC1983/Deutsche Ausgabe der Begriff „viri laici“ des c. 230 CIC, das so sehr dazu beigetragen hat, Frauen aus den kirchlichen Funktionen des Gottesdienstes und der Leitung zu verdrängen, gestrichen worden.

Synodalität als Repräsentation

Der Begriff „Repräsentation“ scheint rechtshistorisch komplex zu sein, eine wesentliche Bedeutung versteht Repräsentation als eine Art von Delegation, wie sie auch staatstheoretisch in der Gegenwart verstanden wird4. In der Kirche kann die Repräsentation von einer verfassungsgemäßen Voraussetzung nicht absehen, nämlich dem Wirken des Geistes, wonach jede Person oder Versammlung, die glaubhaft den Anspruch erhebt, die Kirche zu vertreten, in einer Weise handeln muss, die mit der Leitung des Geistes übereinstimmt .

Die Repräsentationsfähigkeit erwächst dem Bischof nicht aufgrund einer besonderen Gnade, sondern aus der Tatsache, dass er das sichtbare Prinzip und Fundament der Einheit in seiner Teilkirche ist (LG 23). Deshalb liegt der Ursprung der bischöflichen Befähigung in der Eignung des Bischofs, ein wahrer Dreh- und Angelpunkt der „Synodalität von und in der ihm anvertrauten Kirche“ zu sein, eine Befähigung, die sich im Zuhören dem Glaubenssinn (sensus fidei fidelium) der Gläubigen öffnet, ihn wahrnimmt und ihn fördert.

Blättert man im Inhaltsverzeichnis des aktuellen CIC 1983 nach den Wörtern „Repräsentation“ und „Mitverantwortung“, findet man wenig.

Die Ebenen der Synodalität

Lokale Ebene

Von der lokalen Ebene auszugehen, ist eine logische Konsequenz der in quibus et ex quibus definierten und zusammengefassten Ekklesiologie; sie ist die erste und grundlegende Ebene, auf der das „gemeinsame Priestertum“ aufgerufen ist, seinen ganzen Reichtum zum Ausdruck zu bringen5.

Strukturen von Synodalität in der Beziehung Bischofsamt-Priestertum

Priesterrat und das Konsultorenkollegium stehen hier im Blickpunkt.

Hinsichtlich des ausschließlich beratenden Charakters des Priesterrates wird der Inhalt von c. 500 § 2 CIC herangezogen, um den Rat auf den spezifischen Raum konsultativer Beratung zu verweisen: „Consilium presbyterale gaudet voto tantum consultivo; Episcopus dioecesanus illud audiat in negotiis maioris momenti, eius autem consensu eget solummodo in casibus iure expresse definitis“. Mit dem Begriff audiat drückt man nicht einen bloßen Wunsch, eine Aufforderung, sondern eine Verpflichtung mit rechtlicher Bedeutung aus.

Was ist heute zu tun?

Erstens scheint die Beibehaltung zweifacher Strukturen nicht mehr angemessen. Die Probleme mit dem Priesterrat haben zu einer missbräuchlichen Stärkung des Konsultorenkollegiums als Gremium geführt, das faktisch an die Stelle des Priesterrates trat, jedoch mit der Folge, dass ein Gremium eingesetzt wurde, das kein presbyterium repraesentans ist. Ein neuer Ansatz böte eine bessere Lösung: Man findet ihn in der jüngeren Gesetzgebung in einem Dekret der Bischofskongregation der zu gründenden Apostolischen Personaladministration zum Hl. Johannes Maria Vianney Animarum bonum vom 18 Jänner 2002, welcher dann in der von Papst Benedikt XVI. veröffentlichten Apostolischen Konstitution Anglicanorum coetibus im Jahre 2009 übernommen wurde. Andreas Kowatsch hat in seiner Habilitationsschrift darauf verwiesen6, dass das Personalordinariat stärker als andere Teilkirchen des lateinischen Rechtskreises von synodalen Elementen geprägt“ sei. Gemäß Art. X § 1 AC wurde ein einziges Gremium für die Zusammenarbeit bei der Leitung einiger neu eingerichteter Strukturen geschaffen: der Leitungsrat, consilium regiminis, in dem die Zuständigkeiten des Priesterrates und des Konsultorenkollegiums zusammengefasst sind.

Seine Rechtsnatur ist durch die drei Kennzeichen festgemacht, an denen die theologische Reflexion über die Mitverantwortung, zum Ausdruck kommen soll: Konsens, Beratung und entscheidendes Stimmrecht. Die Einzigartigkeit dieses Gremiums könnte die Lösung für die chronische Unzufriedenheit sein, die in der Kirche in Bezug auf die Beteiligungsstrukturen und Mitverantwortung weit verbreitet ist.

Ausdrucksformen von Synodalität und gemeinsamer Mitverantwortung

Das Beispiel, das wir hier im Rahmen unserer Ausführungen kurz ansprechen, betrifft natürlich das Organ der Mitverantwortung auf der Grundlage der Taufe, sowohl auf Gemeinde- als auch auf Diözesanebene: den Pastoralrat. Die Gesetzgebung im geltenden CIC 1983, getreu dem konziliaren Diktat, legte keine Verbindlichkeit fest und war zweifellos dürftig und wenig einflussreich. Auch hier könnte die rezente Gesetzgebung für die Anglikaner Hilfestellung bieten: Der für die Diözese lediglich fakultativ vorgesehene Pastoralrat (vgl. cc. 511-514 CIC) ist im Personalordinariat verpflichtend vorgesehen. Mit der Rücksichtnahme auf das anglikanische Erbe werden Wirklichkeiten behutsam neu bestimmt und im Lichte der katholischen Tradition interpretiert und ausgerichtet, worauf Christoph Ohly in einem Beitrag verwiesen hat7.

Es ist notwendig, der repräsentativen und nicht bloß rein beratenden Funktion eine neue Bedeutung und einen neuen Wert zuzuweisen, indem Verfahren eingeführt werden, die eine Teilhabe fördern und dabei eine Haltung des Hörens entwickeln und danach suchen, was der Geist der Kirche in der Phase der Entscheidungsfindung sagt.8.

Regionale Ebene

Bischofskonferenz als „Instanz der Zwischenebene“ von Gesamt- und Teilkirchen

Die in der Regel nationalen Bischofskonferenzen sind Einrichtungen zwischen der Universalkirche und den Partikularkirchen. Viele sehen die Bischofskonferenzen durch das Konzil „zu kollegialen hierarchischen Mittelinstanzen auf der Ebene zwischen dem Heiligen Stuhl und dem Einzelbistum“ ausgebaut. Papst Franziskus hat nun aber in Evangelii gaudium angekündigt, über eine Neuausrichtung des Papsttums nachzudenken, weil eine übertriebene Zentralisierung der Kirche nicht helfe, sondern ihr Leben und ihre missionarische Dynamik verkompliziere (EG 32). Das Vorwort Nr. 7 in Praedicate Evangelium sagt:

„Die Entstehung der Bischofskonferenzen in der lateinischen Kirche stellt eine der jüngsten Formen dar, in denen die communio Episcoporum im Dienste der communio Ecclesiarum, die auf der communio fidelium gründet, zum Ausdruck gekommen ist. Unbeschadet der Gewalt, die dem Bischof als Hirten der ihm anvertrauten Teilkirche zukommt, sind daher die Bischofskonferenzen, einschließlich ihrer regionalen und kontinentalen Zusammenschlüsse, zusammen mit den jeweiligen orientalischen hierarchischen Strukturen gegenwärtig eine der bedeutendsten Modalitäten, um der kirchlichen Gemeinschaft in den verschiedenen Gebieten zusammen mit dem Papst, dem Garanten der Glaubenseinheit und der Gemeinschaft, Ausdruck zu verleihen und zu dienen“.

Daher werden sie nicht, worauf Gianfranco Ghirlanda verwiesen hatte, als „zwischengeschaltete hierarchische Strukturen betrachtet, sondern als Einrichtungen der Subsidiarität9“.

Heilsame Dezentralisierung I: Umsetzung der Konkordatspolitik im Blick auf die Bischofskonferenzen unter Papst Johannes Paul II.

Johannes Paul II. setzte Subsidiarität auf der Ebene der Konkordatspolitik konkret um, indem er verschiedenen Bischofskonferenzen die Aufgabe zuweist, Regelungen zur Umsetzung der festgelegten Konkordate zu erlassen und sogar weitere Vereinbarungen mit dem Staat zu treffen10.

Auf diese Weise ist eine neue Art von Konkordat entstanden, das als Rahmenkonkordat bezeichnet werden kann, da es sich darauf beschränkt, die wesentlichen Grundsätze festzulegen, und alle weiteren und notwendigen Spezifizierungen späteren Vereinbarungen überlässt, für die das kirchliche Gremium, das am besten geeignet ist, mit den staatlichen Behörden zu verhandeln, häufig die nationale Bischofskonferenz ist.

An der Erteilung der Approbation im Sinne einer Recognitio ist zuerst das Staatssekretariat beteiligt. Es handelt sich nämlich nicht um die Zuweisung einer Vertretungsfunktion (Bischofskonferenz als verlängerter Arm des Hl Stuhls), sondern um die Übertragung einer spezifischen Befugnis, die die Konferenzen in eigener und voller Verantwortung ausüben können und müssen. Ein säkularer Jurist könnte von Devolution sprechen11. Peter Szabo hatte 2019 die Streichung bzw. einen Ersatz für die recognitio angeregt mit dem Verweis auf die Rechtslage in den katholischen Ostkirchen, wo, „die übergeordnete Gesetzgebungstätigkeit der östlichen Bischofssynoden völlig frei von höherer Kontrolle“ sei12.

Wenn man bei der Übersetzung liturgischer Texte in die Muttersprache die Approbation nunmehr mit Magnum Principium in die Hände der Bischofskonferenzen gelegt hat, so scheint dies bei der Umsetzung eines Konkordates in Teilverträgen jedoch immer noch sinnvoll, das Staatssekretariat, Zweite Sektion Beziehung zu den Staaten aufgrund der Einheitlichkeit der Vereinbarung und des Konkordates und damit der Rechtssicherheit einzubinden13. Dennoch tragen Vereinbarungen durch Bischöfe zur Dezentralisierung im Sinne einer gelebten Subsidiarität bei.

Heilsame Dezentralisierung II: Bischofskonferenzen bei Papst Franziskus

Astrid Kaptijn hat in der Zeitschrift Communio jüngst vorgeschlagen, dass die Bischofskonferenzen als „partielle Verwirklichungen des Bischofskollegiums mit diözesanen und überdiözesanen Aufgaben betrachtet werden, die in der Bischofsweihe wurzeln14“. .Die Überlegungen von Papst Franziskus zeigten nach Kaptijn die Bedeutung von drei Dimensionen in der Kirche: Primat, bischöfliche Kollegialität und Synodalität. Es bedarf einer Integration aller spezifischen Zuschreibungen15. Auch ein Blick in die Apostolische Konstitution Praedicate Evangelium legt diesen Zusammenhang nahe. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass der c. 447 CIC, auf den in Nr. 9 der Präambel AK Praedicate Evangelium inhaltlich Bezug genommen wird, ausdrücklich besagt, dass die Bischöfe in der Bischofskonferenz „gemeinsam“ (coniunctim und nicht collegialiter) nur „einige pastorale Funktionen“ (munera quaedam pastoralia) ausüben, also nicht alle. Gianfranco Ghirlanda betonte dazu bei der Präsentation des Dokuments, dass „gemeinsam“ gesagt würde, um den Eindruck zu vermeiden, dass die kollegiale Gewalt der Bischöfe in den Konferenzen ausgeübt wird, die nur von ihnen ausgeübt werden kann, wenn das gesamte Kollegium einberufen ist.

Gesamtkirchliche Ebene

Unter gesamtkirchlicher Ebene verstehen wir hier die Formen der Synodalität auf der Ebene höchsten Autorität. Die gegenwärtigen Schwierigkeiten in ihrer Entwicklung gehen auf die Erfahrungen zurück, die auf dem Konzil bei der Suche nach der schwierigen Harmonisierung von Primat und Bischofsamt gemacht wurden, ja sie sind die Fortsetzung dieser Schwierigkeiten, die sich nie beruhigt haben16.

Das Ökumenische Konzil

Die Option, die Gesetzgebung über das Ökumenische Konzil in das Kapitel De Collegio Episcoporum des CIC aufzunehmen, scheint das Ergebnis einer theologischen Reflexion zu sein, die noch nicht ausgereift war und stark von den auf dem Konzil entstandenen Spaltungen beeinflusst wurde. Die Grenzen waren offenkundig, und ein großer Teil der Theologen zögerte nicht, seine Vorbehalte zum Ausdruck zu bringen, und zwar sowohl gegenüber der typisch universalistischen und hierarchischen Grundstruktur als auch gegenüber der spezifischen Formulierung des Kanons, bei der anstelle des Kollegiums die Sorge um die Wahrung der Vorrechte des „Oberhaupts“ in den Vordergrund trat. Die neue Kodifizierung hat das Ökumenische Konzil als feierlichen Ausdruck der bischöflichen Kollegialität betrachtet und nicht dazu beigetragen, die konziliare Dimension, die zur Kirche gehört und in der Kirche ist, hervorzuheben.

Die Bischofsernennung

Historische Daten zeigen, dass der Vorbehalt und die Bestätigung des Grundsatzes der freien Ernennung von Bischöfen durch den Papst erst Ende des 18. Jahrhunderts erfolgt ist. Tatsächlich wäre eine stärkere Beteiligung der Ortskirche zweifellos im Sinne der Tradition und wäre alles andere als die Einführung einer neuen Praxis, sondern die Wiedereinführung einer traditionellen Praxis in einer der veränderten Situation angemessenen Weise17.

In Wirklichkeit stärkt c. 377/CIC die absolute Freiheit des Papstes hinsichtlich der Bischofsernennungen. Der allgegenwärtigen Forderung nach einer stärkeren Beteiligung der Partikularkirche, die auch einige zaghafte positive Antworten findet, steht jedoch die Praxis des „Aufdrückens „, wie Walter Kasper es formuliert hat gegenüber oder sogar die paradoxe Praxis, die weltlichen Instanzen außerhalb der Kirche ein Ernennungsrecht bei Bischöfen zusichert (vgl. China).

Was könnte sich ändern? Der Bischof von Rom könnte bei der Bischofsernennung auf ein Vorrecht verzichten, das nicht zu seinem Amt gehört, und es zum Beispiel den Bischofskonferenzen oder der Kirchenprovinz anvertrauen, wobei er sich Formen der Approbation und der Gemeinschaft in Analogie zu den Ostkirchen vorbehält. Hier wären de lege ferenda neue Wege zu beschreiten.

Im Sommer 2022 gab es in einigen Kreisen beträchtliche Aufregung, als Papst Franziskus drei Frauen zu Mitgliedern des vatikanischen Dikasteriums für Bischöfe ernannte, das dem Papst Empfehlungen für Bischofsernennungen in weiten Teilen des lateinischen Katholizismus gibt. Ob diese Neuerung in der letzten Phase eines langen, komplexen Prozesses einen signifikanten Unterschied machen wird, bleibt abzuwarten; angesichts der kurialen Vorsicht und Zurückhaltung habe ich meine Zweifel. Aber wir werden sehen.

Katholische Laien können hilfreich sein, wenn es darum geht, potenzielle Bischöfe mit diesem apostolischen Eifer und mit den persönlichen Qualitäten und Fähigkeiten zu finden, die für eine Führungspersönlichkeit erforderlich sind, der andere gerne folgen. Eine ernsthafte Konsultation mit engagierten (und diskreten) Laien auf lokaler Ebene trägt also dazu bei, zu verhindern, dass der Episkopat zu einem sich selbst erhaltenden Club wird – oder schlimmer noch, zu einer höheren klerikalen Kaste. Apostolische Nuntien sollten auch gut genug informiert sein, um katholische Laien zu kennen, denen man zutrauen kann, die Eignung eines Priesters für das Bischofsamt ehrlich, unideologisch und unpolitisch zu beurteilen.

Die Römische Kurie

Papst Franziskus Änderungen, die er in seiner apostolischen Konstitution Praedicate Evangelium („Verkündet das Evangelium“) vom 19. März 2022 dargelegt hat, sind die einschneidendsten Veränderungen in der Kirchenleitung seit Papst Paul VI., worauf jüngst der Jesuit Thomas Reese im National Catholic Reporter verwiesen hatte (15. Juli 2022).

Er hat fast alle vatikanischen Ämter für Laien geöffnet, einschließlich der Leiter der Dikasterien (früher Kongregationen genannt). Das bedeutet, dass sogar das Dikasterium für die Bischöfe, das Kandidaten für das Bischofsamt in aller Welt vorschlägt, nun von einer Nonne geleitet werden kann. Die Leiterin des Dikasteriums für die Glaubenslehre könnte eine Theologin sein. Sogar der Staatssekretär, der höchste vatikanische Beamte unter dem Papst, könnte eine Laienperson sein. Mit anderen Worten: Die Kurie ist Personal, nicht Teil der Befehlskette. Sie ist eher ein öffentlicher Dienst als eine Regierungselite. Sie erfolgt kraft der vom Papst empfangenen Vollmacht, der gewöhnlichen stellvertretenden Vollmacht; in diesem Sinne sind die Grundsätze und Kriterien, Nr. 5, und Art. 15 der Apostolischen Konstitution Praedicate Evangelium zu verstehen. Sie kommen, um die Frage der Möglichkeit der Laien zu regeln, Ämter zu empfangen, die mit der Ausübung der Leitungsgewalt in der Kirche verbunden sind, sofern sie nicht den Empfang der heiligen Weihen voraussetzen, und bekräftigen indirekt, dass die Leitungsgewalt in der Kirche nicht aus dem Sakrament der heiligen Weihen, sondern aus der kanonischen Sendung stammt, da sonst nicht möglich wäre, was in der Apostolischen Konstitution selbst vorgesehen ist.

Dies wird von manchen gegenwärtig als revolutionär gesehen, jedenfalls kann ein Paradigmenwechsel vermutet werden. Dieser bewegt das Papsttum weg von seinem monarchischen Modell, in dem der Papst König ist und die Kardinäle und Bischöfe Quasi-Fürsten sind, hin zu einem kollegialen Modell, das vom Zweiten Vatikanischen Konzil entwickelt wurde. Franziskus will so das Potenzial der Bischofskonferenzen stärken und stärker vertiefen, als es Johannes Paul und Benedikt taten.

Die Bischofssynode

Die gewählte Art des Gesetzgebungsaktes, die Apostolische Konstitution Episcopalis communio vom 15. September 2018, brachte bedeutende Neuerungen mit sich, aber strukturell hat sich nichts geändert hat.

Autoren sind der Meinung, dass vorher geklärt werden muss, welcher Weg eingeschlagen werden soll, ob man mit dem spezifischen Charakter eines bischöflichen Organs (Bischofssynode) fortfahren will oder ob man im Gegenteil einen neuen Weg mit der Gestaltung einer Art „Kirchensynode“ gehen will18. Die jüngsten Synodenereignisse im Blick auf die Weltsynode 2021-2024 scheinen sich eher dieser zweiten Perspektive zuzuwenden19. Gemäß c. 337 § 3 CIC ergibt sich die Legitimation aus dem stets kollegialen Charakter des Rechtsakts, an dem die Gesamtheit durch ein repräsentatives Benennungsverfahren teilnimmt, das in seinen verschiedenen Phasen sowohl in Bezug auf die Themen als auch auf den Inhalt darauf achten muss, keinen der anspruchsberechtigten teilnehmenden Bischöfe auszuschließen.

Die Synodalität im kirchlichen Recht: Bräuchte es ein erneuertes „Grundgesetz“?

Ich komme zum Schluss: Das Bischofsamt ist in Diskussion, ist angefragt, nicht zuletzt im deutschen Diskussionszusammenhang, wo es bei der Bündelung der Macht im Bischofsamt und die mangelnde Transparenz und Kontrolle der Machtausübung als Problem gesehen werden und man beim synodalen Weg in Deutschland in deutlicher Abweichung vom Konzil und auch vom Kirchenrecht die Denkfigur der „freiwilligen Selbstbindung“ eingeführt hat. Schnell ist man heute, wie Kardinal Schönborn treffend im Juni 2022 in einem Interview mit der Zeitschrift Communio festgehalten hat, „vom Missbrauchsthema bei den Kirchenverfassungsfragen20“, Wohin geht nun die Reise?

Die Forderungen nach einer Dezentralisierung der Gesetzgebung in einer Zeit, die durch eine „Ent-kodifizierung“ gekennzeichnet ist, werden im kirchlichen Bereich zunehmend wahrgenommen, wobei die Tendenz besteht, eine Vervielfältigung der Codices unter Wahrung der Besonderheiten der kirchlichen Traditionen in einzelnen größeren Regionen und Gebieten anzudenken. (so z.B. der Erzbischof von Görz und ausgewiesene Kanonist Roberto M. Raedelli21). Es handelt sich um eine Anwendung von Gesetzgebungstechniken, in deren Rahmen sich auch das Subsidiaritätsprinzip, das in der kanonischen Ordnung richtig angewandt wird, entfalten würde22.

Die ekklesiologische Reflexion steht offenbar vor dem Ende der hierarchisch-pyramidalen Ekklesiologie. Die wiederentdeckte und sich neu etablierte Pneumatologie verlangt nach Michael Böhnke in seinem fundamentalen Wurf „Kirche in der Glaubenskrise. Eine pneumatologische Ekklesiologie“ von der Kanonistik das Wirken des Heiligen Geistes, der am Ursprung der Strukturierung des Volkes Gottes steht, mit juristischer Bedeutung zu gestalten. Die Institution bzw. die institutionelle Dimension der Kirche verweist auf das Wirken des Heiligen Geistes, der sie immer wieder „einrichtet“23.

Die Synodalität war auch von Corecco als „ontologische Dimension der kirchlichen Verfassung“ betrachtet und definiert worden, aber diese lehrmäßige Position verwies diese Dimension in die Sphäre des Weihesakramentes. Heute wird durch Papst Franziskus „die Synodalität als konstitutive Dimension der Kirche bekräftigt“, ja sie „bezeichnet in erster Linie den besonderen Stil, der das Leben und die Sendung der Kirche kennzeichnet24. Damit die Synodalität in angemessener Weise in besonderen Normen entwickelt werden kann, die den verschiedenen Bedürfnissen der lokalen Kontexte der Kirchen entsprechen, ist es notwendig, der konstitutiven Dimension der Synodalität ihren „juristischen Platz im Leben“ zu geben, der auch an die Gesetzgebungstechnik der Zeit angepasst ist.

Die juristische Übersetzung der oben genannten ekklesiologischen Elemente würde daher in einer „Grundrechtsordnung“ ihre heute am besten geeignete Formalisierung im Rahmen der üblicherweise verwendeten juristischen Sprache und Instrumente finden.

Der Vergleich mit der Rechtsordnung der katholischen Ostkirchen, sollten dabei vertieft werden, da sie dem Kanonisten und Theologen eine bereichernde Perspektive öffnen, die die Kodifizierung nicht zweier, sondern all jener lokaler Codices ermöglicht und garantiert, die notwendig sind, um die synodale Dimension der Organisation in der Vielfalt der Partikularkirchen zu unterstützen.

Harald Tripp
Referat beim Studientag „Synodalität aus der Perspektive theologischer Disziplin“ der österr. Sektion der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie (ET) in Salzburg am 19. September 2022

DOI: 10.25365/phaidra.384

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1Vgl. dazu Eugenio CORECCO, Das Wesen der Synodalität, in: Ordinatio fidei. Schriften zum kanonischen Recht, Paderborn, 1994, 380-401.

2Siehe dazu Karl WALLNER, Exemplarisches Laientum. Zur Theologie des Laien-Standes nach Hans Urs von Balthasar, in:Wolfgang BUCHMÜLLER OCist / P. Johannes Paul CHAVANNE OCist (Hg.), Cor ad Cor loquitur-Das Herz spricht zum Herzen, Festschrift für Abt Maximilian Heim OCist, 326. Für diesen Teil besonders H. U. VON BALTHASAR, Christlicher Stand, Einsiedeln 1977.

3Nach Balthasar nimmt der Laie auf verschiedenen Ebenen an derselben Amtlichkeit teil wie der Kleriker. Nicht insofern, als er gleiche Autorität genießt, sondern „in dem Sinne, dass er innerhalb des Verwaltungsbereichs der Hierarchie bestimmte Rechte ausüben und bestimmte Handlungen vornehmen kann, die ihm entweder von Rechts wegen als Christ zustehen oder ihm von der Hierarchie ordnungsgemäß übertragen werden“.

4H. HOFFMANN, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, Berlin 1974.

5Vgl. dazu auch Wilhelm REES, Gemeinsam auf dem Weg. Geschichte, Bestimmungen der römisch-katholischen Kirche und Überlegungen zur Weiterentwicklung von Synodalität, in: Liborius LUMMA, Wilhelm REES, Andreas VONACH (Hg.), Religiöse Autoritäten, Innsbruck 2022, 201-240.

6Andreas KOWATSCH, Personale teilkirchliche Gemeinschaften, St. Ottilien 2019, besonders 417 u. 453.

7Christoph OHLY, Personaladministration und Personalordinariat: Neue verfassungsrechtliche Strukturen im Hinblick auf die Entwicklung eines ökumenischen Kirchenrechts, in: Wilhelm REES (Hg.), Ökumene: Kirchenrechtliche Aspekte, Wien 2014, 105-120.

8INTERNATIONALE THEOLOGISCHE KOMMISSION, Die Synodalität in Leben und Sendung der Kirche, Rom 2018, Nr. 67-68.

9Gianfranco GHIRLANDA, La Cost. Ap. Praedicte Evangelium sulla Curia Romana, in: Periodica 111 (2022) 355-420, 377 f.

10Siehe insbesondere die Abkommen mit Spanien im Jahr 1979 über Bildung, Kultur und Wirtschaft sowie 1980 über Steuern7, mit Italien im Jahr 1984, mit Malta zwischen 1989 und 1998, mit Polen im Jahr 1993, mit Ungarn im Jahr 1994 und 1997, und mit Kroatien ab 1996, Slowakei und Slowenien. Vgl. dazu Giuseppe DALLA TORRE, Die Konkordatstätigkeit Johannes Pauls II., in: Ludger MÜLLER/Libero GEROSA (Hg.), Johannes Paul II.-Gesetzgeber der Kirche, Paderborn 2017, 71-89, hier74 ff.

11Devolution meint in der Staatsrechtslehre die Übertragung administrativer Funktionen in einem Einheitsstaat an regionale Körperschaften.

12Siehe dazu Peter SZABO, Episcopal Conferences, Particular Councils, and the Renewal of Inter-Diocesan „Deliberative Synodality, in: Studia canonica 53, 2019, 265-296, hier 279 ff.

13In der Praxis handelt es sich um die Erteilung eines Nulla osta, die es dem Heiligen Stuhl ermöglicht, im Voraus zu überprüfen, dass sie nichts enthalten, was dem Wohl der Kirche und insbesondere der Einheit des Glaubens, der Gemeinschaft und der Rechtskultur zuwiderläuft oder widerspricht.

14 Siehe dazu Astrid KAPTIJN, Bischofskonferenzen in einer synodalen Kirche, in: IKaZ 51 (2022) 419-430, 423.

15 Der päpstliche Primat ist ein aktiver Teil der bischöflichen Kollegialität, jedoch mit einer besonderen Rolle. Die bischöfliche Kollegialität drückt sich in einer synodalen Kirche aus und bedarf ihrer Vervollständigung, an der alle Gläubigen aktiv teilnehmen.

16 Vgl. dazu Wilhelm REES, Gemeinsam auf dem Weg, 215 f.

17 Siehe dazu Richard POTZ, Bischofsernennungen, in: Gisbert GRESHAKE, Zur Frage der Bischofsernennungen in der römisch-katholischen Kirche, Freiburg 1991, 17-50, hier 37f.

18 Vgl. dazu etwa Wilhelm REES, Gemeinsam auf dem Weg, 228 ff.

19 Vgl. dazu besonders Myriam WIJLENS, „Die Kirche Gottes ist zu einer Synode einberufen“-Theologische und kirchenrechtliche Herausforderungen zur Synode 2021-2023, in: Paul M. ZULEHNER u.a., Synodalisierung, Ostfildern 2022, 433-461, hier 443 f.

20 Siehe dazu Christoph Kardinal Schönborn über theologische Grundlagen, Chancen und Risiken von Synodalität. Ein Gespräch mit Jan-Heiner Tück, in: IKaZ 51 (2022) 317-330, hier 323.

21 Siehe dazu Carlo Maria REDAELLI, Il Codice e la Chiesa. Attualità e futuro di una relazione, in: QDE XXX (2017), 207.

22 Die Technik der Kodifizierung selbst sollte nicht aufgegeben werden, wohl aber der Wert, der dem Instrument des Kodex beigemessen wird, wie dies bei den beiden derzeit in der Kirche geltenden Kodizes der Fall ist. Es wird immer dringlicher, auf die Bequemlichkeit einer Vielzahl möglicher Kodifizierungen zu reagieren, die die Besonderheiten der einzelnen Ortskirchen getreuer und kohärenter umsetzen. Aber gerade diese bewundernswerte Vielfalt verlangt nach einer gemeinsamen Grundlage, die in ihren juristischen Elementen das Minimum und damit die grundlegenden Elemente des Kircheseins zum Ausdruck bringt. All dies wird als Ergebnis einer schwierigen Arbeit betrachtet, einer Anstrengung, den theologischen Reichtum in die juristische Sprache zu übersetzen, wobei das Konzil im Zweifelsfall der Interpretationsschlüssel bleibt.

23 Siehe dazu Michael BÖHNKE, Kirche in der Glaubenskrise. Eine pneumatologische Ekklesiologie, Freiburg 2013, 250 f.

24 Siehe dazu Wilhelm REES, Synodalität. Möglichkeiten der Weiterentwicklung aus katholisch-kirchenrechtlicher Perspektive, in: Paul M. ZULEHNER u.a., Synodalisierung, Ostfildern 2022, 413-430, 416 f.

Rezension zu: Enes Karić, Richard Potz, Denise Quistrop (eds.), State and Religions in Bosnia and Herzegovina and Austria: A Legal Framework for Islam in a European Context (Wien: Verlag Österreich, 2019, 141+xvi pp.). ISBN: 978-3-7046-7985-7

Die Publikation geht als Sammelband auf eine Konferenz zurück, welche bereits vor sechs Jahren am 28. und 29. September 2016 in Sarajevo stattgefunden hat. Die Tagung knüpft an die Diskussionen über islamische Glaubensgemeinschaften an, die nach der Veröffentlichung des novellierten Islamgesetzes in Österreich im Jahr 2015 entstanden sind und die auch in der religionsrechtlichen Auseinandersetzung und der gesellschaftlichen Diskussion an Bedeutung gewonnen haben.

An Aktualität hat dieser Sammelband nichts verloren, zumal er erst 2019, drei Jahre nach dem Symposium, publiziert worden ist. Das Buch, das aus vier Hauptkapiteln besteht, ist eine Sammlung von 14 Vorträgen, die auf der Konferenz gehalten wurden.

Bosnien-Herzegowina, das als Land seine multikulturelle Struktur über Jahrhunderte hinweg beibehalten hat, war nach dem Zerfall Jugoslawiens Schauplatz eines blutigen Krieges zwischen den religiösen und ethnischen Gruppen. Das mit dem Dayton-Abkommen von 1995 eingeführte System, das den Krieg beendete, spiegelt die scharfe Trennung zwischen religiösen und ethnischen Gruppen in der Verwaltungsstruktur des Landes wider.

Das vorliegende Buch versucht, die Probleme der islamischen Glaubensgemeinschaft im Kontext der Beziehungen zwischen Religion und Staat im Rahmen der strukturellen Merkmale von Bosnien-Herzegowina und Österreich darzustellen und Lösungsvorschläge für diese Herausforderungen zu präsentieren.

Nach den Vorworten der Herausgeber und den Einleitungsworten religiöser Autoritäten beim Symposium werden in den ersten beiden Kapiteln die historische Entwicklung und die strukturellen Merkmale der islamischen Gesellschaften im Rahmen der jeweiligen Situation in beiden Ländern erörtert. Im dritten und vierten Teil werden die Situation der Muslime und der Religionsgemeinschaften im europäischen Kontext und die Prognosen für die Zukunft der islamischen Glaubensgemeinschaften in den europäischen Ländern unter einem eher allgemeinen Gesichtspunkt erörtert.

Die bosnische Historikerin Amila Kasumovic konzentriert sich in ihrem Beitrag auf die Fragen und Probleme, die durch die erste Begegnung zwischen den beiden Ländern aufgeworfen wurden. Nach dem Osmanisch-Russischen Krieg, der für das Osmanische Reich eine der größten Niederlagen des 19. Jahrhunderts darstellte, ermächtigte der 1878 unterzeichnete Vertrag von Berlin Österreich-Ungarn, Bosnien-Herzegowina zu annektieren und zu verwalten. Die Übergabe der jahrhundertelangen osmanischen Verwaltung an Österreich-Ungarn leitete einen soziokulturellen und wirtschaftlichen Transformationsprozess ein, der die gesamte bosnische Gesellschaft betraf. Die Politik der neuen Regierung in der Region führte zu einer Veränderung der Organisationsstruktur aller religiösen Gruppen. Im Einklang mit dieser Politik wurden die administrativen und religiösen Angelegenheiten der orthodoxen Kirche und der islamischen Gemeinschaft nach dem Vorbild der katholischen Kirche umstrukturiert. Für Österreich-Ungarn war die Besetzung Bosnien-Herzegowinas das erste Mal, dass es mit einer großen muslimischen Gruppe konfrontiert wurde. Das erste Islamgesetz vom 15. Juli 1912 betreffend die Anerkennung der Anhänger des Islams nach hanefitischem Ritus als Religionsgesellschaft (1912) ist das Ergebnis dieses Prozesses. Obwohl es in den folgenden Jahren viele Veränderungen in den Staaten und Verwaltungsstrukturen gab, vertritt Kasumovic die Ansicht, dass die Entwicklungen, die die rechtliche und administrative Infrastruktur der islamischen Glaubensgemeinschaften in beiden Regionen bildeten, im Wesentlichen das Ergebnis dieser Zeit waren. Kasumovićs Einschätzungen zeigen, dass es eine große Meinungsvielfalt unter den Intellektuellen mit positiven und negativen Überzeugungen gab und seine Ausführungen beschränken sich auf den Zusammenhang im Blick auf territoriale Fragen, die Sprache sowie die Verwaltungsdisziplin und Bildung, da gerade diese Elemente bei der Bildung der nationalen Identität wirksam sind.

Der Wiener Rechtshistoriker Thomas Simon analysiert in seinem eher kurz gefassten Textbeitrag die Umwandlung Österreichs in einen Rechtsstaat im 19. Jahrhundert, wobei er sich besonders auf die Regierungszeit von Kaiser Franz Joseph I. (1848-1916) konzentriert, und argumentiert, dass der Konstitutionalismus dieser Zeit als eine unterentwickelte Form des parlamentarischen Systems zu betrachten wäre. Erst als das Debakel der Kriegsniederlage 1859 und die außenpolitischen Auswirkungen ihn zwangen, zumindest Teilen des Bürgertums einige Zugeständnisse zu machen, erlaubte er, wenn auch sehr zögerlich und allmählich, Ansätze zu konstitutionellem Denken. Zudem kam von Anfang an nur eine vom Kaiser selbst verordnete Verfassung in Frage, um jede Annäherung an die Idee der Volkssouveränität zu vermeiden. Franz Josef lehnte es auch entschieden ab, in irgendeiner Weise an die Tradition der Revolution von 1848 anzuknüpfen – die vom Kaiser selbst auferlegte so genannte „Märzverfassung“ von 1849 wurde nach Meinung Simons als Ausgangspunkt verworfen. Und auch in der Krise von 1859 wäre der Kaiser nicht bereit gewesen, eine Verfassung zu erlassen, die umfassend und abschließend in einer einheitlichen Verfassungsurkunde enthalten gewesen wäre, wie es bei den Verfassungen im Zusammenhang mit der Revolution von 1848/49 der Fall war. Vielmehr hätte er mit äußerster Vorsicht, ja Ängstlichkeit, den Weg der Verabschiedung einzelner Gesetze beschritten.

Dzevada Šuško, tätig in der islamischen Glaubensgemeinschaft in Sarajevo, befasst sich wider Erwarten eher mit der Zeit nach dem Vertrag von Dayton als mit der Entstehung der islamischen Community während der österreichisch-ungarischen Zeit. Šuško erörtert zunächst das „Gesetz über die Religionsfreiheit und die Rechtsstellung der Kirchen und Religionsgemeinschaften in Bosnien und Herzegowina“ vom 28. Januar 2004, das den grundlegenden rechtlichen Rahmen für die Regelung der Beziehungen zwischen Religionsgemeinschaften und Staat im heutigen Bosnien und Herzegowina bildet, sowie die nachfolgenden gesetzlichen Regelungen. In diesem Zusammenhang verweist sie auf die zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche und dem Staat Bosnien und Herzegowina unterzeichneten Abkommen zur Religionsfreiheit. Sie geht davon aus, dass die in der Region lebenden Katholiken, Orthodoxen und Muslime mit ähnlichen Problemen konfrontiert sind und dass die einzige Möglichkeit, Lösungen für die aufgetretenen Probleme zu finden, darin besteht, die religiösen Freiheiten aller drei Gemeinschaften auf ähnliche Weise zu garantieren. Es wäre nach Šuško auch wichtig, dass die Rechtsvorschriften mit der EMRK in Einklang gebracht und entsprechend angewendet würden, um die Religionsfreiheit angemessen zu gewährleisten. Projekte und Bildungsprogramme, die darauf abzielten, das Bewusstsein für die islamische Religionsausübung zu schärfen und verbale und physische Angriffe gegen Muslime und das Eigentum der islamischen Gemeinschaft zu verurteilen und zu verhindern, sollten nützlich sein, um der schwerwiegenden Diskriminierung von Muslimen, die im Alltag vorkommt, zu begegnen. Deshalb sollten alle beteiligten Parteien entschlossen und im Geiste der Gleichheit aller Bürger und des Schutzes ihrer Menschenrechte alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, um den Frieden in Bosnien und Herzegowina zu stabilisieren.

Der zweite Teil des Sammelbandes ist der Organisationsstruktur des Islam in Bosnien-Herzegowina und Österreich heute gewidmet. Enes Karić, Professor für Koranstudien an der Universität in Sarajevo, versucht eine Antwort auf die Frage zu finden, wie der Islam einen Platz in pluralistischen Gesellschaften und säkularen Staaten im Sinne der Europäischen Union finden kann, und zwar zunächst anhand der Ansichten berühmter Persönlichkeiten aus der islamischen Gemeinschaft, die zu diesem Thema veröffentlicht haben (z. B. Ali Abduraziq, Taha Hussein). Dann stellt er die Frage, wie der Islam in einer solchen Welt interpretiert werden kann, in der die wichtigsten Faktoren, die die Machtbeziehungen und Entscheidungsprozesse in den Gesellschaften beeinflussen, zu nicht-religiösen Bereichen gehören. Karić argumentiert, dass Muslime in Europa heute dazu erzogen werden müssten, zu akzeptieren, dass alle Menschen unabhängig von ihrer religiösen, weltanschaulichen oder ideologischen Zugehörigkeit an den Gesellschafts- und Lebensbereichen teilhaben, die vom säkularen Staat und der säkularen Gesellschaft geregelt werden. Glaubens- und Religionsgemeinschaften in säkularen Gesellschaften und Staaten könnten seiner Auffassung nach viele Entwicklungen in „säkularen Bereichen des Seins“ kritisieren. Da sie sich jedoch in einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft bewegten, müssten die Religionsgemeinschaften in ihrer Reaktion auf den Frieden und die Würde des öffentlichen Diskurses Rücksicht nehmen. Karic betont, dass die Muslime in Europa wissen und lernen sollten, dass in säkularen und pluralistischen Gesellschaften religiöse Grundsätze nur für diejenigen Menschen moralische Gültigkeit hätten, die sie als moralische Grundsätze akzeptierten. Mit anderen Worten: Das Festhalten an religiösen Grundsätzen als moralische Prinzipien ist eine der Stimmen eines gläubigen Gewissens.

Nach dieser theoretischen Grundlegung folgen drei kürzere Beiträge über das österreichische Islamgesetz und die Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich und Bosnien-Herzegowina. Im ersten Text hebt Professorin Katharina Pabel von der WU Wien, den Ursprung, den Hintergrund und den Inhalt des Islamgesetzes aus 2015 hervor. Aufgrund der globalen Entwicklung zu Beginn des Jahres 2015 stieß laut Meinung Pabels die Fertigstellung des Gesetzgebungsverfahrens auf Hindernisse, und die Beziehungen zwischen den muslimischen Glaubensgemeinschaften und den europäischen Ländern wurden allgemein schwieriger. Auch in Österreich gab es einige Spannungen zwischen den bestehenden muslimischen Gemeinschaften, was zu Kritik an Details des novellierten Gesetzes führte. Die Autorin weist darauf hin, dass der Schwerpunkt des Islamgesetzes nicht auf der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit liegt. Vielmehr ziele es darauf ab, einen Rahmen für die Beziehungen zwischen den verschiedenen muslimischen Gemeinschaften und dem Staat zu schaffen, sowohl in rechtlicher Hinsicht als auch durch einen kooperativen Ansatz.

Der Jurist und Universitätslektor in Wien, Metin Akyürek, handelt über Bekanntes, wenn er den Inhalt der Verfassung, Struktur und Institutionen der IGGÖ, nachdem er eine kurze Information über ihren rechtlichen Status vom Blickpunkt des österreichischen Religionsrechts gegeben hat, darlegt. Hilmo Neimarlija, Soziologe und Jurist der islamischen Glaubensgemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, geht in seinem Beitrag kurz auf die Entwicklung der Verfassung der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Bosnien und Herzegowina seit der ersten vom Königreich Jugoslawien im Jahr 1930 veröffentlichten Verfassung ein und gibt allgemeine Informationen über die Verfassung aus 1997. Von außen betrachtet wäre seiner Meinung nach die Islamische Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina ein Nebenschauplatz, ein ausgeklügelter Prozess geregelter religiöser Praxis, religiöser Aktivitäten und vom Glauben inspirierter Beziehungen und Meinungen, in denen die bosnischen Muslime ihre Zugehörigkeit zum Islam auf organisierte Weise zum Ausdruck brächten.

Der dritte Teil der Publikation mit dem Titel „Der europäische Kontext“ befasst sich mit dem allgemeinen Kontext des Umfelds der Muslime in Europa im Allgemeinen und in Bosnien im Besonderen. Die Texte behandeln das Thema im Allgemeinen im Rahmen der gesetzlichen Regelungen in der Europäischen Union. Im ersten Text erörtert David Friggieri, zum Zeitpunkt des Symposiums bei der EU als Koordinator tätig, die Art und Weise, wie die Religion in den grundlegenden Rechtstexten der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte behandelt wird. Friggeri stellt sich die Frage, wie Ereignisse, die direkt mit Religion und Politik zu tun haben (Karikaturenkrise in Dänemark, der Arabische Frühling usw.), den Wandel der Außenpolitik der Europäischen Union beeinflussen können. Ziel wäre es dabei nach Meinung Friggeries, die politisch-religiöse Landschaft in Ländern und Szenarien zu beherrschen, in denen eine religiöse Komponente eine Rolle spielt. Das außenpolitische Ziel der EU sei es nicht, die Rolle der Religion zu erleichtern oder zu verstärken, sondern die Welt, wie sie ist, besser zu verstehen und einem Schlüsselfaktor der großen Veränderungen, die um uns herum stattfinden, nicht zuletzt in unserer unmittelbaren Nachbarschaft, die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen.

Die beiden anderen Texte des Kapitels, Hanna Suchockas Erörterung der Religion in einem säkularen Staat und Stefan Hammers Erörterung der Werte der europäischen politischen Ordnung und der Rolle der Religionsgemeinschaften, bieten einen theoretischen Rahmen für die Art und Weise, in der religiöse Angelegenheiten im individuellen und öffentlichen Bereich im Kontext der Religionsfreiheit und der verfassungsrechtlichen und zivilgesellschaftlichen Werte durchgeführt werden können.

Es lohne sich nach Meinung Suchokas vom Rat der Europäischen Union, sich bewusst zu machen, wie wichtig es für das heutige Europa, das sich oft im Griff des Laizismus befände, wäre, nicht auf das Prinzip der Laizität zu verzichten. Nur das Prinzip der Laizität ebne seiner Meinung nach den Weg für den interreligiösen Dialog und schaffe die Voraussetzungen für das Zusammenleben der Religionen. Was die Religionsgemeinschaften selbst betrifft, so zeige in diesem Sinne nach Meinung Hammers, Religionsphilosoph an der Universität Wien, die Geschichte, dass die Konfrontation mit einem säkularen institutionellen und gesellschaftlichen Umfeld längerfristig religiöse Reflexionsprozesse auslösen könne, die schließlich zur Anerkennung säkularer Grundsätze führten. Eines der besten Beispiele in dieser Hinsicht wäre die theologische Entwicklung, die innerhalb der katholischen Kirche stattgefunden habe. Noch vor wenigen Jahrzehnten wären die Werte, die jetzt in Artikel 2 EUV verankert sind, für die offizielle katholische Lehre größtenteils inakzeptabel gewesen. Die epochale Wende, die durch das Vatikanische Konzil in den sechziger Jahren herbeigeführt wurde, führte nicht zu einer bloßen Anpassung an die säkularen Prinzipien der individuellen Religions- und Meinungsfreiheit, sondern zu einer genuin religiösen, theologischen Fundierung dieser Grundfreiheiten.

Beim Lesen des letzten Kapitels unter dem Titel „The future of Islam in Europe“ gewinnt man den Eindruck, dass es sich um den wichtigsten Beitrag im Buch handeln würde. Dina El Omari vom Zentrum für islamische Theologie der Universität in Münster stellt darin die Ergebnisse ihrer Untersuchung über die Ansichten der Muslime in Deutschland über die Demokratie und die Konfliktbereiche zwischen den Muslimen und der deutschen Gesellschaft vor. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Mehrheit der in Deutschland lebenden Muslime ein Islam- und Koranverständnis hat, das mit den Werten und der Struktur der deutschen Demokratie vereinbar wäre, dass aber eine kleine Minderheit, die als radikal bezeichnet werden kann, nicht in der Lage sei, eine ähnliche Harmonie im Lebensalltag herzustellen. Die einzige Möglichkeit, dem entgegenzuwirken, wäre ihrer Meinung nach die flächendeckende Einführung des Religionsunterrichts, die Ausbildung von Klerikern an deutschen Universitäten sowie ein erfolgreiches Integrationsprogramm.

Der Text von Khalid El-Abdoui, der islamische Theologie an der Universität Innsbruck lehrt, stellt hingegen Initiativen für die Ausbildung von Lehrkräften für islamische Theologie und islamische Religionsstudien an europäischen Universitäten vor. Die Debatte um die Einrichtung von Zentren für das Studium der islamischen Theologie in Österreich und in Europa im Allgemeinen im letzten Jahrzehnt habe einige Dinge deutlich und transparent gemacht. Eine wesentliche Tatsache, auf die El-Abdoui hinweisen möchte, ist die Vielfalt der Definitionen und Vorstellungen muslimischer Akteure, wenn es um folgende Fragen geht: Was ist mit islamischer Theologie gemeint, was kann sie leisten und was kann sie den modernen europäischen Universitäten bieten? Angesichts der Tatsache, dass die Frage der Ausbildung lokaler islamischer Theologen in den kommenden Jahren vor allem in Europa einen größeren Platz auf der Tagesordnung einnehmen sollte, hätte man erwartet, dass der Autor in diesem Kapitel die Bildungspolitik im Detail analysiert, hingegen werden bloß Empfehlungen ausgesprochen, dass sich die in diesen Einrichtungen zu vermittelnde Bildung vom traditionellen Unterricht in den Koranschulen unterscheiden und von kritischem Denken sowie modernen und wissenschaftlichen Bildungsparadigmen gespeist werden sollte.

Fikret Karcićs Text am Ende des Kapitels, in dem der Jurist an der Universität in Sarajevo seine persönlichen Ansichten über die Anwendbarkeit des islamischen Rechts im europäischen Kontext zum Ausdruck bringt, ist zwar kurz, aber vielleicht der wertvollste Teil des Buches, da er zur wichtigsten Frage führt. Bekanntlich führten die zunehmende Arbeitsmigration in europäische Staaten, darunter auch Österreich, nach dem Zweiten Weltkrieg und die bei dieser Gelegenheit gebildeten Minderheitengruppen, von denen die meisten Muslime waren, die sich im Laufe der Zeit niederließen, dazu, dass sich neben den Bosniern eine wachsende muslimische Gruppe herausbildete, die als die einheimischen Muslime Europas betrachtet werden kann. Diese Situation bringt die Notwendigkeit einer Umstrukturierung der rechtlichen, administrativen und sogar sozialen Regelungen in der Region unter Berücksichtigung des Islam auf die Tagesordnung. Es ist zweifellos nicht einfach, diese Prozesse zu verfolgen, die von vielen Faktoren beeinflusst werden. Mit dem Dayton-Abkommen von 1995 habe sich die Region, die in kurzen Zeiträumen starke Veränderungen in der Regierungsführung erfahren hat, schließlich zu einer Struktur entwickelt, die aus zwei Entitäten besteht, der Föderation Bosnien und Herzegowina und der Republika Srpska. Diese Situation in Verbindung mit der Möglichkeit, dass religiöse und ethnische Gruppen, die seit Jahrhunderten in der Region leben und manchmal in Konflikt miteinander stehen, unvorhersehbare Rollen einnehmen könnten, die sich auf die Dynamik des gesellschaftlichen Lebens auswirkten, mache Bosnien-Herzegowina zu einer sehr schwierig zu untersuchenden Fallstudie. Im Einklang mit der Definition des Islam als Religion und der Scharia als islamisches Normensystem sowie dem Recht auf Religions- und Glaubensfreiheit als legitimem Rahmen für das Bekenntnis zum Islam sollten die Muslime in Europa folgende Einrichtungen aufbauen: religiöse Gebäude (Moscheen, Schulen und Stiftungen); islamische Gelehrte (ulama); Einrichtungen für die islamische Rechtsauslegung (ifta) und Einrichtungen für die außergerichtliche Streitbeilegung (tahkim), sofern die Religionsgemeinschaften nach den Gesetzen der europäischen Länder in der Lage sind, diese Funktion auszuüben. Die Frage nach der Relevanz der Scharia für Muslime in Europa lasse sich nach Meinung Karcics lösen, indem man den Islam als Religion und die Bereiche seiner Anwendbarkeit als akzeptierte Bestandteile dieser Freiheit – Anbetung, Lehre, Praxis und Befolgung – definierte. Die Grundlage für ein solches Verständnis könne in historischen Präzedenzfällen für die Stellung religiöser Minderheiten in Europa gefunden werden. Darüber hinaus könnten die Erfahrungen muslimischer Gemeinschaften im Laufe der Geschichte (Abessinier, Tataren und Bosnier) als wichtige Inspirationsquelle genutzt werden.

Im Ergebnis: Die Lektüre dieses Sammelbandes zeigt auf, dass die europäischen Gesellschaften vielfältig geworden sind und in Zukunft noch vielfältiger werden. Menschliche Mobilität, in unterschiedlichem Ausmaß und aus verschiedenen Gründen, wird ein inhärentes Merkmal des 21. Jahrhunderts sein, sowohl auf europäischer als auch auf globaler Ebene. Die Staaten sind aufgerufen, vielfältige Gesellschaften zu organisieren, um Frieden und den vollen Genuss der individuellen Rechte für alle Bürger zu gewährleisten. Dem Leser wird ein Abriss der rechtlichen Rahmenbedingungen und Strukturen geboten, die sich für die interkulturelle und interreligiöse Harmonie als nützlich erwiesen haben. Bosnien und Herzegowina und Österreich haben eine gemeinsame Geschichte der säkularen Neutralität des Staates gegenüber der Religion, wobei sie gleichermaßen gute Beziehungen zu allen im Staat vertretenen Religionen unterhalten. Innerhalb der Europäischen Union werden derzeit wichtige Fragen im Zusammenhang mit Werten und kultureller und religiöser Vielfalt diskutiert. Die vorliegende Publikation leistet einen unverzichtbaren Beitrag zu diesem europäischen Gespräch und kann sich dabei auf die gemeinsame Geschichte unserer beiden Länder stützen. Die Beiträge in dem Tagungsband verdeutlichen, dass integrative Gesellschaften auf der Grundlage von Grundwerten wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Achtung der Grundrechte aufgebaut werden müssen. Religions- und Glaubensfreiheit sowie das Recht auf Gleichheit und Nichtdiskriminierung sind dabei wichtige Elemente in diesem Zusammenhang. Er geht im Speziellen der Frage nach, ob Bosnien und Herzegowina und Österreich als Modelle für einen rechtlichen Rahmen für den Islam in einem europäischen Kontext dienen könnten. Der Leser wird durch die vielfältigen Beiträge angeleitet, diese Frage nach eingehender Lektüre wohl selbst beantworten zu können. Jedenfalls bietet der Sammelband ein unverzichtbares Sammelwerk zum Verstehen des Islam in einem europäischen Umfeld.


Titelbild: Verlag Österreich

Tagungsbericht: Seggauer Gespräch zu Staat und Kirche (21.-22.04.2022) zum Thema „Kategoriale Seelsorge“

Die verschiedenen Formen kategorialer Seelsorger standen im Fokus der achten Seggauer Gespräche von 21. bis 22. April 2022 im südsteirischen Schloss Seggau. 2006 wurden die Seggauer Gespräche vom damaligen Grazer Diözesanbischof Egon Kapellari initiiert und bieten ein Forum zum interdisziplinären Gespräch und zum Austausch zwischen Wissenschaft und Praxis. Theologische, kirchenrechtliche und religionsrechtliche Probleme sowie Fragen aus der Praxis werden dabei fächerübergreifend behandelt. Träger dieser Kooperationsveranstaltung sind die Diözese Graz-Seckau, die Erzdiözese Salzburg, die Evangelische Superintendentur A.B. Steiermark, das Institut für Philosophie an der Grazer Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz sowie das Institut für Europarecht und Internationales Recht der Wirtschaftsuniversität Wien.

Bei dem zweitägigen Symposium unter der wissenschaftlichen Leitung von Verfassungsgerichtshofpräsident Univ.-Prof. Christoph Grabenwarter, Univ.-Prof. Reinhold Esterbauer (Institut für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät) sowie Univ.-Prof.in Katharina Pabel (Institut für Europarecht und Internationales Recht WU Wien) stand demnach insbesondere die Seelsorge für Soldaten, Kranke, Studierende und Gefangene im Zentrum der Vorträge. Unter den etwa 70 Teilnehmenden waren u.a. der Salzburger Erzbischof Franz Lackner und der Grazer Diözesanbischof Wilhelm Krautwaschl. Krautwaschl dankte den kategorialen Seelsorgenden für ihr Engagement. Sie hätten in Zeiten der Corona-Krise und des Kriegs in der Ukraine besondere Leistungen vollbracht.

Durch Seelsorge im Österreichischen Bundesheer solle, so der Ordinariatskanzler des Österreichischen Militärordinariats, Militärerzdekan Harald Tripp, der das Eröffnungsreferat in Vertretung des österreichischen Militärbischofs Dr. Werner Freistetter hielt, die Religionsausübung auch unter Umständen sichergestellt werden, die dem einzelnen die Grundrechtsausübung unmöglich machen oder doch wesentlich erschweren, so Tripp. Wichtig sei, so Tripp, dass der Militärseelsorger selbst nie die Spannung vergessen dürfe, in der er stehe: „Er repräsentiert eine Kirche, deren Sendung universal ist und für die Menschen unabhängig ihrer ethnischen oder nationalen Zugehörigkeit gleich sind.“ Für die konkrete Seelsorge ergebe sich im Blick auf den Datenschutz ein Problem hinsichtlich des Charakters der Normierung, da eigentlich nicht die Erhebung selbst, sondern die Art der Einwilligung hinsichtlich der Erfassung und Bearbeitung einschließlich der Weitergabe an die Militärseelsorge für die Erfassung ihrer tatsächlichen Zahl der religiös zu betreuenden Personen im Blick auf eine Pastoral „im Ereignis“ hinderlich oder nachteilig sein könnte. Letztlich blieben auch einige offene Fragen hinsichtlich der Weitergabe der Daten an Dritte und gewisser Rechtsfolgen im Blick auf die Religionsausübung (z.B. Karfreitag). Das Österreichische Bundesheer biete „einen spannungsreichen Raum, um darin sein Christsein, sein Seelsorgersein zu verwirklichen“, so der Kanzler des Militärordinariats. Weitere religionsrechtliche Aspekte vertiefte Tripp im Blick auf die Bereiche der Entlohnung der griechisch-orientalischen, der muslimischen und jüdischen Militärseelsorger. Diese erhielten den hierfür erforderlichen Aufwand vom Bundesministerium für Landesverteidigung pauschal abgegolten. Für Tripp entspreche dieses „Outsourcing“ gerade im Bereich der Kirchen und Religionsgesellschaften sehr klar der Idee eines deutlich säkularen Staates.

Die Seelsorge in Krankenhäusern ist durch die Corona-Pandemie in den vergangenen Jahren vor Herausforderungen gestellt worden. „Bei uns geht es oft um die Grenzen des Lebens; um Therapieänderungen, um Therapieabbrüche, um vorgeburtliche Sterbefälle“, berichteten Detlev Schwarz, Koordinator der Krankenhausseelsorge der Erzdiözese Salzburg und Maria Berghofer, die diözesane Koordinatorin für die Krankenhausseelsorge in Graz. Waren die Krankenhausseelsorger früher noch für den sakramentalen Dienst zuständig wie die Taufe, Beichte, Krankensalbung oder das „Viaticum“, die letzte Kommunion, so sei man heute Berater und Gesprächspartner. Die Kirche erlebe hier immer mehr die Schnelllebigkeit der Zeit als Gemeinschaft an den Rändern des Lebens. In Zukunft ginge es darum, die „ethische Kompetenz in den Bereichen der Grenzen des Lebens“ zu schärfen, den „freien Zutritt der geistlichen Amtsträger zu ermöglichen“ und im Blick auf die neueren Herausforderungen durch den Datenschutz den „Modus im Blick auf den uneingeschränkten Zugang zu Patientenlisten bei Patientenanfragen“ neu zu denken sowie die Ehrenamtlichkeit in diesem kategorialen Bereich besser einzubinden und abzusichern.

Die deutsche evangelische Pfarrerin Christine Ostrick berichtete über ihre Tätigkeit in der größten Haftanstalt Deutschlands – jener in Berlin-Tegel mit 800 Insassen. Dort, wo die Behörde Straftäter sehe, sehe sie geliebte Kinder Gottes und versuche, „durch einen respektvollen Umgang einen positiven Blick zu bewahren und hilfreich zu sein, ohne jemanden auszuschließen oder sich mit jemandem zu verbrüdern“. Als Gefängnisseelsorgerin fühle sie sich erwünscht und verschmäht zugleich, aber „wenn man zwischen den Stühlen sitze“ wäre man da genau richtig. Wichtig wäre ihr „die Betonung und deutlichere Absicherung eines uneingeschränkten Rechts auf Seelsorge in den Haftanstalten“ auch in Zukunft.

Der Hochschulseelsorger und Dominikanerpater Max Cappabianca aus Berlin verwies auf drei Grundlagen, die allen Bereichen der kategorialen Seelsorge gemein sind: die Persönlichkeit der SeelsorgerInnen, die Präsenz bei den Menschen und die gute Beziehung zu ihnen. Damit stehe und falle die gelungene Seelsorge. Wenn diese gelinge, dann komme es „zum Kollateralnutzen für die Gesellschaft“, denn die Betreuten sind zufriedener, zuversichtlicher, werden schneller gesund und fühlten sich wohler.

Am zweiten Studientag standen die rechtlichen Rahmenbedingungen der kategorialen Seelsorge in Deutschland und in Österreich im Blickpunkt der Tagung. Prof. Jörg Ennuschat aus Bochum sprach über die Grundlagen in der Weimarer Reichsverfassung, um danach die kirchenvertraglichen und staatlichen Rechtsgrundlagen sowie Fragen der Organisation und Finanzierung sowie verfassungsrechtliche, politische und kirchliche Kritik besonders im Blick auf die Militärseelsorge aufzuwerfen. Es bestünde gegenwärtig in Deutschland vor allem der Vorwurf, die gegenwärtige Situation der Militärseelsorge sei ein Verstoß gegen die Trennung von Staat und Kirche und gegen das Gebot der Nichtidentifikation. Zwar stelle Art. 141 Weimarer Reichsverfassung mit Blick auf das Trennungsgebot „eine Ausnahmenorm dar, die eng auszulegen sei und nur den Zutritt des Seelsorgepersonals gewähre“, nicht aber die aktive staatliche Förderung, Organisation und Finanzierung der Militärseelsorge. Laut Ennuschat enthalte das Grundgesetz „kein striktes Trennungsverbot, es belasse dem Staat vielmehr Gestaltungsspielräume“. Neu ist in Deutschland sei Errichtung der jüdischen Militärseelsorge und die Diskussion einer muslimischen Militärseelsorge, wobei es derzeit eine zentrale Ansprechstelle für den Umgang mit Vielfalt als Zwischenlösung gäbe, vielleicht auch in Zukunft muslimische Seelsorger auf Honorarbasis anzustellen. In seinen Ausführungen befasste sich Ennuschat weiters mit den Rechtsgrundlagen, der Organisation und mit der Finanzierung der Bundespolizeiseelsorge, der Gefängnis-, Krankenhaus- , und Hochschulseelsorge. In der Regel gäbe es bewährte rechtliche Rahmenbedingungen für die kategoriale Seelsorge in Deutschland, offene Fragen bestünden hinsichtlich der muslimischen Seelsorge insbesondere bei Bundeswehr und im Strafvollzug. Im deutschen Religionsverfassungsrecht bestünden im Blick auf die kategoriale Seelsorge häufig Verträge bzw. Vereinbarungen zwischen Staat und Kirche, teils detailliert wie bei Militär oder Bundespolizei, in den anderen Bereichen existierten diese eher rudimentär, selten würden nähere bundes- oder landesgesetzliche Regelungen durch ein Gesetz bestehen, zudem wohl selten in der kategorialen Seelsorge auch innerkirchliche Regelungen.

Stephan Hinghofer-Szalkay vom Institut für Rechtswissenschaftliche Grundlagen in Graz und Mitarbeiter des Kultusamtes im Bundeskanzleramt beleuchtete in seinen Ausführungen den verfassungs- und kultusrechtlichen Rahmen der kategorialen Seelsorge in Österreich. Während in Deutschland Art. 141 Weimarer Reichsverfassung in das „neue verfassungsrechtliche Biotop“ des Grundgesetzes transplantiert worden wäre, fand die kategoriale Seelsorge in der Verfassungsgesetzgebung der frühen Zweiten Republik kein entsprechendes Echo. Noch deutlicher würde dies an Hand des Österreich-Konvents: Der Ausschussbericht über einen Grundrechtskatalog weise, laut Hinghofer „keine Spuren einer möglichen Verankerung“ auf. Auch ohne eine derartige Verankerung sei kategoriale Seelsorge Ausdruck verfassungsrechtlicher Garantien der Religionsfreiheit. Im Bereich der Militärseelsorge erfolge eine „starke symbolische Dimension bei der Verschränkung staatlicher und kirchlich/ religionsgesellschaftlicher Symbole und Normen“. Sonderprobleme ergäben sich durch die Bezeichnung „Strenggläubige“ vor allem im islamischen und israelitischen Bereich hinsichtlich der Feststellung und des Entzugs und Mitgliedschaft bei Religionsgesellschaften. Hinghofer verwies darauf, dass „das Recht der kategorialen Seelsorge keine explizite Verankerung im österreichischen Verfassungsrecht“ finden würde, jedoch Ausdruck verfassungsrechtlich geschützter subjektiver Rechte sowie der Kooperation mit anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften sei. Die korporative und die individuelle Dimension der Seelsorge wären dabei untrennbar verbunden. Insbesondere in der Militärseelsorge spiegle sich zudem von jeher die Verfasstheit des politischen Gemeinwesens im Verhältnis zur Religion wider. Neuere Entwicklungen würden in Richtung einer „abnehmenden institutionellen Unterstützung des Staates gehen“, was in Paritätsverzerrungen resultiere. Auffallend sei das Abweichen vom Modell der Finanzierung der Militärseelsorge durch staatlich besoldetes Personal.

Zu erwähnen sei nach österreichischem Religionsrecht, dass sowohl in der Gefangenen- als auch der Militärseelsorge im Zweifel auf das konkrete Bedürfnis nach Seelsorge abgestellt würde, welches sich an der höchstpersönlichen Einstellung orientierte, nicht jedoch an der Mitgliedschaft nach staatlichem Recht. Umgekehrt würde nach Meinung Hinghofers aus der Entscheidung für die Mitgliedschaft zu einer Kirche oder Religionsgesellschaft nicht zwingend die Zustimmung zur Übermittlung jener Daten abgeleitet, welche diese für ein aktives Seelsorgeangebot benötigte.

Grundsätzlich bleibe das Recht kategorialer Seelsorge Gradmesser für das Verhältnis von Staat und Religion. Das Recht reagiere überall dort mit Bestimmungen zur kategorialen Seelsorge, wo „die Freiheit des autonomen individuellen Zugangs zur Seelsorge eingeschränkt ist – sei es durch Einschränkungen durch den Staat selbst etwa für Soldaten und Gefangene, sei es durch faktische Einschränkungen durch Krankheit oder Alter.“ Das Modell inklusiver Kooperation erlaube es daher in Österreich, den für freie Religionsausübung erforderlichen Raum zu schaffen, ohne dabei die Autonomie von Religionsgemeinschaften oder andere legitime Interessen unverhältnismäßig zu beeinträchtigen.

Sehr zu danken gilt allen OrganisatorInnen und ReferentInnen der Tagung sowie den TeilnehmerInnen für die anregenden und wertvollen sowie inspirierenden Gespräche und Diskussionen in den Pausen. Zu danken sei auch einigen AutorInnen für die Zusendung Ihrer Referate zur Abfassung dieses Tagungsberichtes. Es hat sich auch diesmal gezeigt: Wenn der Staat also die Ausübung religiöser Praxis durch organisatorische Maßnahmen oder finanzielle Mittel unterstützt, darf er dabei zweifellos nicht privilegieren oder diskriminieren, vielmehr fördert jedoch eine gesunde Kooperation „den Kollateralnutzen“ in gemeinsamen Bereichen von Staat und Kirche. Die Religionsfreiheit wird damit in diesen besonderen Bereichen bürgerlichen Lebens durch staatliches Recht verankert und als Freiheit allen BürgerInnen gewährleistet.


Fotos: Gerd Neuhold / Sonntagsblatt für Steiermark

Kategoriale Seelsorge in öffentlichen Institutionen: Ein Blick ins österreichische Religionsrecht

In vielen europäischen Staaten enthalten Rechtsordnungen einige besondere Bestimmungen im Blick auf die Ausübung der Religionsfreiheit von Personen, die sich in öffentlichen Einrichtungen befinden, die ihre Bewegungsfreiheit gesetzlich einschränken. Dazu gehören vor allem die Bereiche des Militärs, der Polizei, die Gefängnisse sowie Krankenhäuser und Pflegeheime. Man kann in diesen Bereichen also von funktionaler oder auch kategorialer Seelsorge sprechen, da es sich um Realisationsformen von Kirchen und Religionsgemeinschaften handelt, die sich deutlich von der durch ein Territorium bestimmten Glaubensgemeinschaft abheben. Kirchen und Religionsgemeinschaften sind also einem bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Lebens zugeordnet.

Gewährleistung der Religionsausübung

Unabhängig von der persönlichen und gesellschaftlichen Relevanz der religiösen Haltung oder Praxis einer Person, muss nach Potz „die Gewährleistung der Religionsausübung […] gerade auch unter Umständen gegeben sein, die dem Einzelnen die Grundrechtsausübung wesentlich erschweren“ (vgl. dazu R. Potz, Recht auf seelsorgliche Betreuung aus der Sicht der Patienten und der Religionsgemeinschaften, in: U. Körtner/S. Müller/M. Kletečka-Pulker/J. Inthorn(Hrsg), Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett (2009) 115).

Potz argumentiert, dass positive staatliche Maßnahmen daher in besonders prekären Lebensbereichen bzw. -situationen vorgesehen sein können oder sogar müssen. Wenn der Staat also die Ausübung religiöser Praxis durch organisatorische Maßnahmen oder finanzielle Mittel unterstützt, darf er dabei zweifellos nicht privilegieren oder diskriminieren, dies tut aber auch der strikten institutionellen Trennung von Staat und Kirche keinen Abbruch. In diesem Zusammenhang wird von „hereinnehmender Neutralität“ gesprochen: die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates zeigt sich gerade darin, dass sie Religion nicht ausgrenzt.

Dem religiös neutralen Staat ist es zwar verwehrt, sich religiös zu betätigen; durch die hereinnehmende Neutralität und seinem Bekenntnis dazu, wird er daher mit den Religionsgesellschaften zusammenarbeiten. Somit werden zu den gemeinsamen Angelegenheiten (res mixtae) von Staat und Kirche in der Lehre solche Angelegenheiten gezählt, bei denen ein Zusammenwirken von Staat und Kirche rechtlich notwendig ist, um von beiden Seiten verfolgte Zwecke durchzusetzen.

Militärseelsorge

Gemäß Art. 10 Abs. 1 BV-G liegt die Gesetzgebungs- und Vollzugskompetenz zur Umsetzung der Militärseelsorge bei der Republik Österreich. Das WG 2001 bestimmt in § 10, 38 und 38a die Grundlagen für das Fachpersonal der Militärseelsorger sowie deren Einstellung, Einzelheiten darüber werden in ausführenden Bestimmungen in Erlässen des Bundesministeriums für Landesverteidigung geregelt. Neben der pastoralen Betreuung haben die Seelsorger aller im Österreichischen Bundesheer vertretenen Religionsgesellschaften den Auftrag, Soldaten aller Dienstgrade und Funktionen im lebenskundlichen Unterricht (LKU) in den Grundlagen militärischer Ethik zu unterweisen. Das BMLV unterhält derzeit eine organisierte Militärseelsorge in hauptamtlicher und nebenamtlicher Gestalt für folgende Religionsgesellschaften: hauptamtlich für katholisch und evangelisch (seit 1955), nebenamtlich für orthodox (seit 2011), muslimisch (seit 2015), islamisch-alevitisch (seit 2016) und jüdisch (seit 2017). Die katholische und die evangelische Militärseelsorge wurden mit der Wiederrichtung des Österreichischen Bundesheeres institutionalisiert. (Vgl. dazu H. Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht (=MK CIC, Beiheft 6), Essen 1992, 580 ff.)

Für die katholische und evangelische Kirche kann in diesem Zusammenhang festgehalten werden, dass nach der kirchlichen Bestellung der Militärkapläne durch den Militärordinarius bzw. Militärsuperintendenten (vgl. Art. VIII ÖK Abs. 1-3 und § 17 Abs. 3 ProtestantenG) die staatliche Ernennung nach den staatsgesetzlichen Vorschriften, mithin die Ernennung bzw. Beförderung zu Offizieren des Militärseelsorgedienstes durch den Bundespräsidenten bzw. den gemäß Art 66 Abs 1 B-VG hierzu ermächtigten BMLV erfolgt. Die orthodoxen, muslimischen, islamisch-alevitischen und jüdischen Seelsorger gehören hingegen nicht zum Österreichischen Bundesheer im Sinne eines Anstellungsverhältnisses und werden auf einem sehr niedrigen Niveau für ihre pastorale Betreuung vergütet. Es wurde dazu bereits angemerkt, dass es sich dabei wohl um einen Verstoß gegen die Gleichbehandlung anderer Religionsgesellschaften im Sinne der Parität gemäß Art. 15 StGG 1867 handelt. (Vgl. dazu K. Trauner, Wandel von Staat und Kirche am Fallbeispiel Militärseelsorge, in: Österreichisches Archiv für Recht & Religion 59 (2012), 174–198, hier 191.)

Polizeiseelsorge

Lange Zeit betrafen Regelungen und Normierungen der kategorialen Seelsorge nicht auf den Bereich der Polizeiseelsorge zu. Weder das ÖK 1933 noch das ProtestantenG 1961 widmeten sich inhaltlich dem Thema der seelsorglichen Betreuung des Polizeipersonals. Mit einem Dekret des Innenministers wurde am 17. November 1995 für die katholische Kirche eine Polizeiseelsorge errichtet Am 12. Dezember 2002 wurde durch den Vorsitzenden der Österreichischen Bischofskonferenz Christoph Kardinal Schönborn und dem Innenministerium eine Vereinbarung über die Polizeiseelsorge abgeschlossen. Darin wird auf die spezielle Situation von PolizeibeamtInnen eingegangen, die mit Gewalt, Aggression, Tod, Unfällen, Schwerverletzten, Opfern und Tätern sowie Menschen in Ausnahmesituationen belastet sind. (Vgl. dazu besonders K. Schwarz, Polizeiseelsorge—berufsfeldbezogene Supervision vor dem Hintergrund der Religionsfreiheit. Kultusrechtliche Anmerkungen aus österreichischer Perspektive, in: Österreichisches Archiv für Recht & Religion 55 (2008), 30–46, hier 30.)

Analog dazu unterzeichnete der Bischof der Evangelischen Kirche am 16. September 2006 einen ähnlichen Vertrag. Religionsrechtlich in Österreich von Bedeutung gerade deshalb, weil, wie Schwarz anmerken konnte, anerkannte Religionsgesellschaften neben dem Konkordat und seinen Ergänzungen erstmals (wenn auch nur privatrechtliche) Verträge über ihre Außenbeziehungen mit der Republik Österreich schließen können was zudem von den Vorschlägen des Verfassungskonvents 2004 angeregt wurde. Ein Organisationserlass des Innenministers vom 2. Jänner 2007 regelte aufgrund der fehlenden gesetzlichen Ermächtigung zum Abschluss öffentlich-rechtlicher Verträge in der Folge öffentlich-rechtliche Aspekte wie z. B. den Zugang zu den Liegenschaften oder die Uniformierung sowie den Personenkreis der Polizeiseelsorge, Legitimation und Uniformtrageberechtigung der Polizeiseelsorger, die Schwerpunkt ihrer Tätigkeit sowie eine mögliche Unterstützung von der Polizeiseelsorge insbesondere bei Dienstunfällen und Todesfällen.

Die SeelsorgerInnen der Polizei sind keine Beamten und die Kirchen werden nicht vergütet. In personeller Hinsicht ist die Polizeiseelsorge einerseits dadurch mit der Militärseelsorge verbunden, da der jeweilige Militärordinarius gleichzeitig auch Bereichsbischof für die Militärseelsorge ist, und die Innehabung der Vorstehung aber durch den Bundeskoordinator der Polizeiseelsorge Österreich wahrgenommen wird.

Krankenhausseelsorge

Das Bundesgesetz über Krankenanstalten und Kuranstalten (KAKuG) als Grundsatzbestimmung nach Art. 12 Abs 1 Z 2 BV-G ordnet den jeweiligen Landesgesetzgebern an, die Träger der Krankenanstalten zu verpflichten, „dass auf Wunsch des Pfleglings eine seelsorgerische Betreuung möglich ist“ (§ 5a Abs 1 Z 5 KAuKG). Die Länder haben demnach die seelsorgliche Betreuung neben anderen taxativ genannten Patientenrechten zu garantieren. Die einzelnen Bundesländer haben diese Bestimmung in ihre entsprechenden Gesetze umgesetzt.

Zum Schutz der seelsorglichen Tätigkeit und der pastoralen Vertraulichkeit ist sowohl in Art. XVIII ÖK 1933 als auch in § 11 Abs 1 ProtestantenG und § 7 Abs 1 OrthodoxenG sowie in § 3 Abs 1 OrientKG die sog. geistliche Amtsverschwiegenheit verankert, die weiter als das Beichtgeheimnis zu fassen ist. Die Begleitung von Kranken gehört nicht unmittelbar zur Kernaufgabe des Imams, da diese Aufgabe nach islamischer Tradition allen Gläubigen und besonders den Familienangehörigen aufgetragen ist. (vgl. Elsabagh/Elgendy, Spiritualität im Krankenhaus aus der Sicht der islamischen Seelsorge, in: U. Körtner/S. Müller/M. Kletečka-Pulker/J. Inthorn (Hrsg), Spiritualität, Religion und Kultur am Krankenbett (2009) 41.)

Für muslimische Gläubige ermöglicht der Krankenbesuch religiöse und traditionelle Identität. Der Imam seinerseits versteht sich als Vorbeter, Prediger und mahnt die Einhaltung der Gebote ein, ist aber nicht Gesprächspartner und Seelsorger, wie es von der (ökumenisch geprägten) christlichen Anstaltsseelsorge erwartet wird.

Im Gegensatz zu anderen Formen kategorialer Seelsorge in öffentlichen Institutionen werden in der Krankenhausseelsorge die Kosten von den Religionsgesellschaften selbst getragen, gelegentlich erhalten sie öffentliche Subventionen oder es wird ihnen die notwendige Infrastruktur zur Verfügung gestellt.

Gefangenenseelsorge

Die Kompetenz zur Gesetzgebung und Vollziehung des Strafvollzugs ist gem. Art. 10 Abs 1 Z 6 BV-G dem Bund zugewiesen. Dabei wird die Seelsorge in § 85 Strafvollzugsgesetz verankert, wobei nach Abs. 1 jeder Häftling das Recht besitzt, an den Gottesdiensten und anderen gemeinsamen religiösen Handlungen in seiner Justizanstalt teilzunehmen und vom dort zugelassenen Seelsorger betreut zu werden.

Die auf Grundlage eines Arbeitsvertrages angestellten SeelsorgerInnen werden vom Staat bezahlt und unterstehen der doppelten Aufsicht durch den Staat und ihre jeweiligen kirchlichen Behörden. Der Seelsorger ist zudem dem Bundesministerium für Justiz bzw. dem Präsidenten des zuständigen Gerichtshofes oder dem Leiter der Justizanstalt unterstellt, nebenamtlich bestellte Gefangenenseelsorger werden mittels eines Sondervertrages des BMJ mit der zuständigen religionsgemeinschaftlichen Autorität bestellt. Weitere praktische Fragen, die teils noch nicht entsprechend durch den Gesetzgeber normiert worden sind, betreffen das eingeschränkte Angebot für Häftlinge weiblichen Geschlechts, die Problematik einer Vielzahl von Sprachen und nicht zuletzt den Umgang mit nichtreligiösen Häftlingen.

Art. XVI ÖK gewährt den lokalen SeelsorgerInnen freien Zugang zu den Gefängnissen dort, wo keine eigene Anstaltsseelsorge auf Dauer errichtet worden ist. Dieses Außenrechtsverhältnis anerkannter Religionsgesellschaften findet sich nunmehr im österreichischen Religionsrecht im Hinblick auf die Garantie durch den Staat verwirklicht, die Seelsorge in Gefängnissen ausüben zu können, wie z.B. in § 19 Abs 1 des ProtestantenG, in § 8 Abs 1 Satz 2 des IsraelitenG sowie in § 11 Abs. 1 Satz 2 und § 18 Abs. 1 Satz 2 des IslamG 2015. § 7 Abs. 1 OrientalenG und § 3 Abs 1 OrthodoxenG fordern eine analoge Anwendung des § 19 ProtestantenG. (Siehe dazu E. Synek,Die „österreichische“ Orthodoxie: rechtliche Entwicklungen seit der Errichtung der Bischofskonferenz, in: Österreichisches Archiv für Recht & Religion 61 (2014), 310–338, hier 326.)

Aktuelle Herausforderungen im Datenschutz

Durch das Inkrafttreten der unmittelbar in allen Mitgliedstaaten anwendbaren Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) im Jahr 2018 wurde im Raum der Europäischen Union schließlich ein einheitliches Datenschutzniveau geschaffen. Vor dem Hintergrund der veränderten Bedeutung des Datenschutzes wurde die jahrelang geübte Praxis der Weitergabe von Daten in mehreren Bereichen der kategorialen Seelsorge (Krankenhaus, Militär) in Frage gestellt.

In den Bereichen der Kranken- und Militärseelsorge wie auch in anderen kategorialen Bereichen öffentlicher Institutionen gilt es daher mit Sorgfalt in Zukunft zu untersuchen, ob das Grundrecht auf Datenschutz, sowie das Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit von Personen, die in öffentlichen Institutionen kategorial seelsorglich betreut werden sowohl in seiner korporativen als auch in seiner individuellen Ausprägung geschützt ist. Vom religionsrechtlichen Standpunkt aus wäre daher näher zu analysieren, in welcher Form die Erhebung und Weitergabe von sensiblen Daten an Seelsorger unter Berücksichtigung und Abwägung des Grundrechtes auf Datenschutz mit dem Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit einen größtmöglichen Schutz beider Grundrechte ermöglicht.

Sicherung der Religionsausübung

Die rechtliche Normierung der kategorialen Seelsorge in öffentlichen Institutionen lässt sich für das österreichische Religionsrecht in einigen abschließenden Bemerkungen festmachen. Die verfassungsrechtlichen Bestimmungen enthalten in der Regel keine spezifischen Regelungen zur besonderen Seelsorge. Die Existenz der kategorialen Seelsorge lässt sich jedoch aus den verfassungsrechtlichen Bestimmungen zum Schutz der Religionsfreiheit im Allgemeinen ableiten. Die Seelsorge in den öffentlichen Institutionen wird häufig durch religionsrechtliche Vereinbarungen (Konkordat, Protestantengesetz etc..) in verschiedenen Rechtskreisen (Völkerrecht, Öffentliches Recht, Privatrecht) geregelt. Sie werden geschlossen zwischen dem Staat oder anderen öffentlichen oder privaten Einrichtungen auf der einen Seite und anerkannten Religionsgemeinschaften oder juristischen Personen auf der anderen Seite. Die Organisation der Seelsorge in öffentlichen Institutionen wird zudem je nach Sachbereich häufig in Ministerialerlässen und Rundschreiben der zuständigen Regierungsstelle festgelegt. Die Rechtsstellung der kategorialen Seelsorgeeinheiten wird letztlich auch durch die inneren Gesetze der Religionsgemeinschaften geregelt. Darin sind etwa die Rechte der Religionsgemeinschaften in Bezug auf die Ernennung oder Entlassung einer Person, die als Seelsorger dient, festgesetzt.

Durch Seelsorge in öffentlichen Institutionen soll die Religionsausübung auch unter Umständen sichergestellt werden, die dem einzelnen die Grundrechtsausübung unmöglich machen oder doch wesentlich erschweren. Sie ist daher auch im Sinne eines materialen Grundrechtsverständnisses unter dem Aspekt „staatlicher Schutzplichten“ zu sehen. (Vgl. dazu H. Kalb/R. Potz/B. Schinkele, Religionsrecht, Wien 2003, 265 ff.). Die Religionsfreiheit wird damit in diesen besonderen Bereichen bürgerlichen Lebens durch staatliches Recht verankert und als Freiheit allen BürgerInnen gewährleistet.


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Militärseelsorge im Österreichischen Bundesheer

Seelsorge ist auf „Verörtlichung“ angewiesen, um Menschen vor Ort – unabhängig von persönlicher Neigung, von Stand und Stellung – erreichen zu können und sie in den Glauben und das Leben der Kirche einzuführen. Hierin liegt der tiefere Sinn der Pfarrstruktur … Andererseits ist auch eine „Entörtlichung“ notwendig, wenn es darum geht, Menschen in besonderen Lebenssituationen zu erreichen und Projekte gemeinsam in Angriff zu nehmen, die die einzelne Pfarrei überschreiten oder auch überfordern würden. (vgl. dazu Peter KRÄMER, Krise und Kritik der Pfarrstruktur. Kirchenrechtliche Überlegungen zur Notwendigkeit einer Reform, in: AfkKR 175 (2006), S. 531 ff.)

Eine große Zahl von Menschen, vor allem Menschen am Beginn des Erwachsenenalters, haben heute, trotz des Empfangs der Taufe, keine Bindung mehr an ihre Pfarrei. Im Bundesheer finden sich getaufte und ungetaufte Menschen unter besonderen Umständen zusammen, sei es in den einzelnen Standorten, sei es vor allem bei Einsätzen im Ausland oder in Krisensituationen und Katastrophen (Notfallseelsorge). In diesen Situationen können tiefergehende, d. h. religiöse und ethische Fragen relevant und aktuell werden und kann sich ein (neuer) Zugang zu Religion und Glaube eröffnen. Diese Chance gilt es zu nutzen. Anbei hören Sie dazu die Meinungen von Militärseelsorgern aus verschiedenen Kirchen und Religionsgesellschaften zu ihren Aufgaben und aktuellen Fragestellungen.

Militärbischof Werner FREISTETTER studierte in Wien und Rom Theologie und promovierte in Sozialethik. Priesterweihe 1979 in Rom, danach Seelsorger in Pfarren der Erzdiözese Wien sowie Assistent an der Universität Wien am Institut für Ethik und Sozialwissenschaften. Nach Jahren am Päpstlichen Rat für die Kultur an der Römischen Kurie, übernahm er 1997 mit der Leitung des in Wien gegründeten Instituts für Religion und Frieden beim Militärbischofsamt. Ab 2006 Bischofsvikar für Wissenschaft und Forschung, theologische Grundsatzfragen und internationale Beziehungen war Freistetter war Mitglied der Ständigen Vertretung des Heiligen Stuhls bei den Internationalen Organisationen in Wien und geistlicher Assistent der internationalen katholischen Soldatenorganisation Apostolat Militaire International. 2015 erfolgte die Ernennung zum Militärbischof für Österreich. Im Interview spricht er über das umfassende Aufgabenspektrum der Militärseelsorge, über die rechtlichen Grundlagen sowie die Bedeutung der Religionsfreiheit und die besonderen Herausforderungen der prophetischen Verkündigung über den Frieden von Papst Franziskus im Verhältnis zur Lehre über den gerechten Krieg.

Erzpriester Alexander LAPIN ist Chemiker, Mediziner, Theologe, Universitätsdozent und seit 2011 der erste orthodoxe Militärseelsorger des Österreichischen Bundesheeres. 1992 habilitierte er auf dem Gebiet der Proteindiagnostik in der klinischen Nephrologie und übernahm 1994 die Leitung des chemischen Labors der Semmelweis-Frauenklinik. 1998 wurde er schließlich zum Leiter des Labors im Sozialmedizinischen Zentrum Sophienspital bestellt. Lapin unterrichtete unter anderem an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/Krems die angehenden orthodoxen Religionslehrer. Er berichtet von seinen Unterrichten über Migration und Transkulturalität, die Vereinbarung über die Militärseelsorge mit dem Bundesministerium für Landesverteidigung und formuliert Wünsche für die Zukunft insbesondere im Blick auf eine Ermöglichung der Seelsorge in den Bundesländern und die ökumenische und interreligiöse Kooperation.

Militärsuperintendent Karl Reinhart TRAUNER, seit 1995 Militärseelsorger, 2003 neben der Tätigkeit als Lehrbeauftragter an der Theresianischen Militärakademie (Wiener Neustadt) auch Leiter des Instituts für Militärethische Studien (IMS) der Evangelischen Militärsuperintendentur, 2013 Bestellung zum Militärsuperintendenten, 2016 Habilitation und Ernennung zum Privatdozenten für das Fach Kirchengeschichte an der Universität Wien spricht über die Struktur der Evangelischen Militärseelsorge, die drei Grundlagenbereiche der seelsorglichen Tätigkeit sowie über die Rechtsgrundlagen in § 17 Protestantengesetz 1961 und worin Chancen und Möglichkeiten bei geänderten Rahmenbedingungen bestehen.

Militärimam Kenan CORBIC seit Dezember 2021 islamischer Militärseelsorger im Osten Österreichs spricht über seine vielfältigen Aufgaben, die historische Entwicklung der Feldseelsorge seit 1882 in Österreich und die Neuordnung in § 11 Islamgesetz 2015 sowie die Priorität der ökumenischen und multireligiösen Situation sowie das Desiderat im Blick auf einen ebenbürtigen Status der islamischen Militärseelsorge.

Oberrabbiner Schlomo HOFMEISTER, seit 2008 der Gemeinderabbiner von Wien, ab 2016 bekleidet er zudem das Amt des Landesrabbiners von Niederösterreich, dem Burgenland, der Steiermark und Kärnten sowie ab 2017 die Aufgabe als jüdischer Militärseelsorger im Österreichischen Bundesheer. Hofmeister studierte in München und in England. 2004 zog er von London nach Jerusalem, um seine Rabbinatsstudien fortzusetzen. Im Interview betont er die religiösen Bedürfnisse jüdischer Gläubigen, die Speisevorschriften im Dienstbetrieb sowie über die Seelsorge als Katalysator beim Abbau von Spannungen und Konfliktpotenzial im Blick auf das Gemeinsame am Gemeinwohl der Gesellschaft.


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Ende für die „außerordentliche Form“ des Römischen Ritus? Anmerkungen zu einer ersten Lektüre des MP Traditionis Custodes

Das Apostolische Schreiben in Form eines Motu Proprio Traditionis Custodes (=TC) wurde am 16. Juli 2021, am Gedenktag Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel, durch Papst Franziskus promulgiert, zusammen mit einem einleitenden Brief, der die Gründe und die Motivation des Papstes für die Änderungen, die er einführt, erklären.

Die darin zum Ausdruck kommende Haltung des Papstes dreht effektiv die Uhr zurück auf die Zeit vor 2007, als Papst Benedikt XVI. sein eigenes Motu Proprio Summorum Pontificum (=SP), herausgab und jedem Priester die Möglichkeit eröffnete, die Messe nach dem Römischen Messbuch von 1962 zu feiern, ohne die Erlaubnis seines Bischofs einzuholen. Noch ist die Unterschrift des Papstes frisch unter dem Dokument, aber hier sind ein paar Entwicklungen auszumachen, die ich nach einer ersten Lektüre bemerkenswert finde.

Das Apostolische Schreiben in Form eines Motu Proprio Traditionis Custodes (=TC) wurde am 16. Juli 2021, am Gedenktag Unserer Lieben Frau vom Berge Karmel, durch Papst Franziskus promulgiert, zusammen mit einem einleitenden Brief, der die Gründe und die Motivation des Papstes für die Änderungen, die er einführt, erklären. Die darin zum Ausdruck kommende Haltung des Papstes dreht effektiv die Uhr zurück auf die Zeit vor 2007, als Papst Benedikt XVI. sein eigenes Motu Proprio Summorum Pontificum (=SP), herausgab und jedem Priester die Möglichkeit eröffnete, die Messe nach dem Römischen Messbuch von 1962 zu feiern, ohne die Erlaubnis seines Bischofs einzuholen. Noch ist die Unterschrift des Papstes frisch unter dem Dokument, aber hier sind ein paar Entwicklungen auszumachen, die ich nach einer ersten Lektüre bemerkenswert finde.

Sorge um die Einheit der Kirche

In der Liturgie kommt gemäß der Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils wesenhaft die Einheit der Kirche zum Ausdruck. Die Liturgie ist davon geprägt, dass Jesus selbst in der Mitte der Gemeinde gegenwärtig wird. Die Liturgie ist immer eingebunden in den Gesamtkontext der Kirche. Sie ist das „Werk Christi, des Priesters, und seines Leibes, der Kirche“. Deshalb schreibt auch die Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium: „Die liturgischen Handlungen sind nicht privater Natur, sondern Feiern der Kirche, die das „Sakrament der Einheit“ ist, sie ist nämlich das heilige Volk, geeint und geordnet unter den Bischöfen.“ (SC 26).

Für Papst Franziskus war diese Einheit im Leben der Kirche, wohl oder übel mancherorts nicht mehr spürbar. In der Tat ist das ein Hauptgrund, den Papst Franziskus für sein jüngstes Motu Proprio angibt. Was sich mit dem neuen Motu Proprio in concreto im liturgischen Leben der Kirche tatsächlich ändern wird, bleibt abzuwarten.

Ein einziger Ausdruck der Lex orandi des Römischen Ritus

Art. 1 TC besagt, dass die liturgischen Bücher, die vom Heiligen Paul VI. und vom Heiligen Johannes Paul II. in Übereinstimmung mit den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils promulgiert wurden, der einzige Ausdruck der lex orandi des Römischen Ritus wären. Es scheint mir, dass damit die Bezeichnungen „ordentliche Form“ und „außerordentliche Form“, die von Papst Benedikt XVI. in SP eingeführt wurden, effektiv beseitigt werden. Papst Franziskus scheint zu sagen, dass es nur eine richtige Form des Römischen Ritus gibt, und das ist der Novus Ordo. In seinem Brief an die Bischöfe bezieht sich Franziskus zudem auf die Befragung des Episkopates aus 2020 und schafft damit alle Normen, Instruktionen, Gewohnheiten und Zugeständnisse seiner Vorgänger im Blick auf den einzigen Ausdruck der lex orandi des Römischen Ritus ab.

Die Zuständigkeit des Diözesanbischofs

Wenn man eine typische römisch-katholische Gemeinde besucht, die ausschließlich die „ordentliche Form“ der Messe feiert, dann wird sich überhaupt nichts ändern. Wenn Menschen häufig die „außerordentliche Form“ der Messe besuchen, liegt es wahrscheinlich an ihrem Diözesanbischof, wie viel sich ändern wird oder auch nicht.

Dem Diözesanbischof obliegt es gemäß Art. 2 TC als „Moderator, Förderer und Hüter des gesamten liturgischen Lebens der ihm anvertrauten Teilkirche, die liturgischen Feiern seiner Diözese zu regeln“. Daher ist ausschließlich seine Kompetenz, den Gebrauch des Missale von 1962 in seiner Diözese gemäß den Richtlinien des Apostolischen Stuhls zu genehmigen. Damit wird das Prinzip zum Ausdruck gebracht, dass der Bischof als oberster Seelsorger und Hohepriester seiner Partikularkirche auch der oberste Liturge ist und daher die Autorität über die liturgischen Feiern innerhalb seiner Diözese innehat. Daher ist es Sache des Bischofs und nicht einzelner Priester (wie bislang jedem Priester durch SP freigestellt), die Messe nach dem Messbuch von 1962 zu feiern. Zu beachten wäre hier, dass Papst Franziskus den Begriff „außerordentliche Form“ nicht verwendet.

Aber der Bischof ist nach TC nicht frei, den Gebrauch des Missale von 1962 zu regeln, wie er es für richtig hält. Er muss dies gemäß den vom Apostolischen Stuhl festgelegten Richtlinien tun. Nähere Richtlinien werden in der Tat in Art. 3 TC gegeben: Gruppen, die für die Feier der Messe nach dem Missale von 1962 eingerichtet werden, dürfen „die Gültigkeit und die Legitimität der Liturgiereform, die vom Zweiten Vatikanischen Konzil und dem Lehramt der Päpste diktiert wurde, nicht leugnen“. Damit ist verbunden, dass Sie keine praktischen Schismatiker sein dürfen. Papst Franziskus spricht auch vom Zweifel dieser Gruppierungen an der Bedeutung des Konzils: „Das Konzil anzuzweifeln bedeutet, an den Absichten der Väter selbst zu zweifeln, die auf dem Ökumenischen Konzil feierlich ihre kollegiale Vollmacht cum Petro et sub Petro ausgeübt haben, und letztlich am Heiligen Geist selbst zu zweifeln, der die Kirche leitet.“

Ambivalente Haltung im Blick auf die Rolle der Bischöfe

Es stellt sich hier die Frage, wie sehr Papst Franziskus in Bezug auf die Autorität der Bischöfe über die Liturgie in deren eigenen Diözesen eine ambivalente Haltung prägt. Er beginnt damit, dass er die Rolle des Bischofs als Hüter des liturgischen Lebens der Kirche anerkennt, mit der „ausschließlichen Zuständigkeit“, den Gebrauch des Missale Romanum von 1962 zu regeln. Eine der Beschwerden, die er zweifellos von der Befragung seiner Mitbrüder im Bischofsamt – die Ergebnisse wurden auch nie wirklich publik gemacht – hörte, war die mangelnde Kontrolle, die sie über die Priester in ihrer Diözese hatten. Offenkundig gab es Priester, die SP ausnutzten, um nach dem Missale von 1962 in den Pfarreien auf eigene Initiative zu feiern. Papst Franziskus legt diese Kontrolle zurück in die Kompetenz der Bischöfe, aber bindet ihnen dann die Hände, indem er verschiedene Beschränkungen auferlegt, wie und wo solche Feiern stattfinden können, und verlangt sogar, dass die Bischöfe die Zustimmung des Vatikans einholen, bevor sie den Priestern in ihrer Diözese erlauben, das Missale von 1962 zu verwenden. In den meisten anderen Belangen hat der Heilige Vater es vorgezogen, einen kollegialeren Ansatz zu wählen. Die Tatsache, dass er nicht bereit ist, den Bischöfen die vollständige Kontrolle darüber zu geben, wie das Missale von 1962 in ihren eigenen Diözesen gefeiert wird, ist daher bemerkenswert.

Es liegt nun an den Bischöfen, dieses jüngste Dekret nach ihrem Augenmaß in ihren eigenen Einzelkirchen umzusetzen. Zweifellos wird der Vatikan verschiedene Klarstellungen herausgeben müssen, wenn Fragen auftauchen.

Keine neuen Personalpfarreien und veränderte kuriale Zuständigkeiten

Es folgen nun einige pastorale Anweisungen: Die Messe nach dem Missale von 1962 kann gemäß Art. 3 § 2 TC nicht in Pfarrkirchen gefeiert werden. Es können keine neuen Personalpfarreien für die Zelebration des Messbuchs von 1962 errichtet werden. Die Schriftlesungen bei diesen Messen sollen in der Volkssprache gemäß den genehmigten Übersetzungen erfolgen (Art 3 § 3 TC). Priester, die mit diesen Feiern betraut werden, „sollen für diese Aufgabe geeignet sein, den Gebrauch des Missale Romanum vor der Reform von 1970 beherrschen, ausreichende Kenntnisse der lateinischen Sprache besitzen, um die Rubriken und liturgischen Texte gründlich zu verstehen, und von einer lebendigen pastoralen Liebe und einem Sinn für die kirchliche Gemeinschaft beseelt sein. Diesem Priester sollte nicht nur die korrekte Feier der Liturgie am Herzen liegen, sondern auch die pastorale und geistliche Betreuung der Gläubigen.“ (Art. 3 §4 TC) Dem Papst geht es hier nicht bloß um die rituelle Vollziehung der Liturgie, vielmehr hat die Liturgie auch eine Bedeutung für das pastorale Leben der Gemeinschaften und die Spiritualität der Gläubigen.

Was mir hier rätselhaft erscheint, ist die Einschränkung gegen die Verwendung von Pfarrkirchen. Die meisten katholischen Kirchen sind Pfarrkirchen. Wenn also der Bischof einer Gruppe von Gläubigen die Erlaubnis erteilt, die Messe nach dem Messbuch von 1962 für sich lesen zu lassen, wo soll das dann stattfinden? Dieses Motu proprio verbietet den Bischöfen auch, zu diesem Zweck eigene Pfarreien zu errichten (Art 3 §6 TC). Wo genau stellt sich Papst Franziskus also vor, dass diese Zelebrationen stattfinden werden? Ich gehe davon aus, dass der Vatikan dazu irgendwann eine weitere Klarstellung vornehmen wird.

Art. 5 TC besagt, dass Priester, die gegenwärtig die Messe nach dem Missale von 1962 feiern und dies weiterhin tun wollen, ihren Bischof um Erlaubnis bitten müssen, während Art. 4 TC besagt, dass jeder Priester, der nach dem 16. Juli 2021 geweiht wird, nicht nur seinen Bischof um Erlaubnis bitten muss, sondern der Bischof sich mit dem Heiligen Stuhl beraten muss, bevor er eine solche Erlaubnis erteilt. Die Ordensgemeinschaften, die durch die Päpstliche Kommission Ecclesia Dei errichtet wurden, werden der Zuständigkeit der Kongregation für die Ordensleute und die Gesellschaften des apostolischen Lebens unterstellt (Art. 6 TC).

Allgemeine Kritik an liturgischen Missbräuchen

Papst Franziskus selbst kritisiert die liturgischen Missbräuche im Novus Ordo, legt aber sehr besorgt dar, dass der Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils nicht bezweifelt werden darf. Offenkundig haben manche Gruppierungen, die der „außerordentlichen Form“ anhängen, durch falsche Auffassungen und mangelnde theologische Überzeugungen die Einheit der Kirche schwer auf die Probe gestellt. Nichts in TC sagt jedoch irgendetwas, das Priester daran hindern würde, die Novus-Ordo-Messe in einer Weise zu zelebrieren, die von den Traditionen der älteren Form geprägt ist, wie es viele Priester in den letzten Jahren, die für die Zelebration beider Formen ausgebildet wurden, tatsächlich getan haben. Nicht wenige Mitfeiernde am Gottesdienst im Novus ordo fragen sich vor und während der Liturgie in manchen Pfarren, welche nicht nur überraschenden, sondern oft auch peinlichen Innovationen und Improvisationen ihnen bevorstünden gerade dort, wo sie Festgelegtes erwarten durften und geistlich wohnen wollten.

Can. 214 CIC 1983 spricht vom Recht auf den eigenen Ritus und die eigene Form des geistlichen Lebens durch die Gläubigen. Diese Rechtsnorm geht auf das Zweite Vatikanische Konzil zurück, das die Gleichstellung der verschiedenen Rituskirchen als Teilkirchen betont (vgl. OE 2-3). Alle Gläubigen haben das Recht, einer eigenen Form des geistlichen Lebens zu folgen, sofern diese nur mit der Lehre der Kirche übereinstimmt. Das Grundrecht auf den eigenen Ritus wird gestützt durch Can. 383 § 2 CIC, wobei dem Diözesanbischof die Sorge um Priester und Pfarreien eines bestimmten Ritus zukommt. Den Diözesanbischöfen wird durch TC wohl mehr als bisher die Aufgabe gestellt sein zu sehen, ob die Liturgie gemäß den Vorgaben gefeiert wird und auch gegen Erfindungen im rituellen Bereich einzuschreiten.

Es bleibt daher zu wünschen, dass TC vielleicht auch eine wenn auch nur indirekt angesprochene Aufforderung an die Verantwortung der einzelnen Diözesanbischöfe sein kann, dass der Novus Ordo durch die Priester mit so viel Ehrfurcht wie möglich und gemäß den Anordnungen des Messbuches gefeiert werden kann. Das sind m. E. erlaubte Optionen, die ein Teil dessen sind, was Papst Franziskus den „einzigartigen Ausdruck des römischen Ritus“ nennt. In der Tat bezieht sich Papst Franziskus genau auf diesen Punkt in seinem Einführungsschreiben, wenn er darauf hinweist, dass „wer mit Hingabe nach früheren Formen der Liturgie feiern möchte, im reformierten Römischen Messbuch nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil alle Elemente des Römischen Ritus finden kann, insbesondere den Römischen Kanon, der eines seiner charakteristischsten Elemente darstellt“.

Darunter ist im Blick auf den Novus ordo eine Reintegration vergessener oder verdrängter Perspektiven und Elemente der Liturgie zu verstehen. Ich denke dabei besonders um eine verstärkte Wiederentdeckung des Heiligen, dann auch um eine Ausgewogenheit im Verständnis von Eucharistie sowohl als Opfer wie als Mahl, ebenso eine Ausgewogenheit zwischen den unersetzbaren Aufgaben der Träger des Weihesakraments und den Aufgaben der zum allgemeinen Priestertum gerufenen Getauften und schließlich um die Wiedergewinnung einer Kunst des Feierns, welche die Liturgie vor Banalisierung sowie vor dem Verlust von Gestalt und Schönheit bewahren hilft.

Zusammenfassend darf festgehalten werden: Papst Franziskus hat den Gebrauch der „außerordentlichen Form“ durch TC massiv eingeschränkt, das Missale aus 1962 aber nicht gänzlich abgeschafft. Er spricht von den liturgischen Büchern, die von den Päpsten Paul VI. und Johannes Paul II. gemäß den Dekreten des Zweiten Vatikanischen Konzils promulgiert wurden als dem „einzigen Ausdruck der lex orandi des Römischen Ritus“. Damit scheint die Unterscheidung von SP in „ordentliche“ und „außerordentliche Form“ des Römischen Ritus, für die sich Papst Benedikt XVI. aus theologischen und liturgiegeschichtlichen Überzeugungen stark gemacht hatte, an ihr Ende gekommen zu sein. In den letzten 14 Jahren seit Inkrafttreten der Regelungen von Papst Johannes Paul II. und Papst Benedikt XVI. ging es zunächst um Beseitigung des Schismas und Stärkung der Einheit der Kirche mit der Bewegung um Erzbischof Marcel Lefebvre. Durch SP haben sich Gemeinschaften dieser „außerordentlichen Form“ gebildet. Papst Franziskus spricht im Brief an die Bischöfe von Gruppen, die durch Ihre Überzeugungen, Haltungen und Einstellungen der Einheit der Kirche zusehends Schaden zufügen würden, und hofft durch die Neuordnung in TC Distanzierungen, Unterschiede und Gegensätze sowie Spaltungen zu überwinden.

Es gibt aber zahlreiche Gemeinschaften, die in den letzten Jahren aus einer legitimen und gesunden Liebe zur Geschichte und Tradition unserer Kirche erwachsen sind, und die sich von dieser älteren Form des Gebets inspirieren lassen wollten. Für sie werden die Nachrichten dieser Tage sehr schwer zu empfangen sein, die Möglichkeit zu ihrer Zurückdrängung und ihr Ausschluss aus dem Leben der Pfarreien hat mit TC unwiderruflich begonnen. Auf welche Weise deren Wiedereingliederung in der „einen Form der lex orandi des Römischen Ritus“ geschehen soll, wird durch TC nicht näher ausgeführt.

Zu befürchten sind daher große Verunsicherung und auch unkontrollierbare Ausgrenzung sowie Abkapselung und Radikalisierung, zumal Papst Franziskus den Priestergemeinschaften, die ab nunmehr der Kongregation für die Orden und die Gemeinschaften des Apostolischen Lebens sowie der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramente unterstellt werden, in ein rituelles Nirwana manövriert hat.

Es bleibt aber abzuwarten, was genau sich mit diesem Motu Proprio ändern wird. Vieles wird vom jeweiligen Diözesanbischof abhängen.

Wenn dieses Dokument rigoros umgesetzt wird, ist anzunehmen, dass die gläubigen Katholiken, die sich nichts sehnlicher wünschen, als die Liturgie in der „außerordentlichen Form“ in Gemeinschaft mit ihren Bischöfen und dem Heiligen Vater zu feiern, zur Teilnahme an Zelebrationen außerhalb der Strukturen der Kirche, insbesondere der Priesterbruderschaft Pius X., bewegen könnte. Ob dies dann der kirchlichen Einheit, die Papst Franziskus so sehr erhofft dienlich sein kann, wird sich zeigen.

Der Inhalt von TC erinnert uns jedenfalls erneut daran, dass Gehorsam eine Tugend ist ebenso wie Geduld und dass die Liturgie nicht irgendjemandem von uns gehört, sondern der Kirche. Vor allem können wir alle hoffen, dass die eucharistische Liturgie auch in Zukunft für uns die Quelle der Einheit ist, die Papst Franziskus, das Zweite Vatikanische Konzil und Christus selbst wünschen, dass sie es ist.

DOI: 10.25365/phaidra.281

Neukompilationen kirchlichen Rechts nach dem Konzil zu Trient. Eine kanonistische Skizze deutschsprachiger Initiativen

Zwischen den siebziger und den neunziger Jahren des 16. Jahrhunderts finden wir wie in Italien auch in Deutschland einige redaktionelle Initiativen von klarer didaktischer Prägung, die auf die systematische und zusammenfassende Darstellung der gesamten kanonistischen Materie abzielen. Zum größten Teil sind diese Initiativen Teil einer allgemeinen Entwicklung, die durch den Einfluss der humanistischen Kultur gekennzeichnet ist. Dies erfolgt in einer Zeit, zu der die Träger von Instanzen der methodischen und systematischen Erneuerung in einer Welt wie der des Rechts zunehmend von Unordnung und Unsicherheit geprägt scheinen1.

Die Institutiones luris Canonici von Giovanni Paolo Lancellotti aus Perugia sind eines der einflussreichsten Werke in der Geschichte des modernen kanonischen Rechts2. Abgesehen von seiner Enttäuschung über die fehlende päpstliche Zustimmung, die ihn für den Rest seines Lebens betrüben sollte, wurden die Institutiones zu einem unverzichtbaren Nachschlagewerk für Kirchenrechtler und erfreuten sich eines überwältigenden und anhaltenden Publikationserfolgs, selbst in protestantischen Kreisen. Es erschienen echte Glossenapparate zu den Institutiones, zusätzlich zu denen von Lancellotti selbst, die in den wichtigsten Druckereien des Kontinents gedruckt wurden. Diese wurden sogar in einen Anhang zu einer Ausgabe des Corpus iuris canonici aufgenommen, der 1587 in Paris gedruckt wurde. Erst im 19. Jahrhundert verschwand das Modell der Institutiones, aber sein Einfluss blieb auch in dem für den Codex von 1917 angenommenen Modell offensichtlich. Der Ruf des Juristen aus Perugia unterscheidet sich jedoch nach wie vor von dem des Bartolo di Sassoferrato im Zivilrecht. In Übereinstimmung mit der kanonistischen Tradition wurde Lancellotti, obwohl er studiert und glossiert wurde, nie zu einer auctoritas für das kanonische Recht, vergleichbar mit dem, was Bartolo und seine anderen großen Mitstreiter für das traditionelle Zivilrecht darstellen. Es ist vielmehr die formelle Idee und das Modell der von Lancellotti vorgeschlagenen Institutiones, die sich durchsetzen, nicht der doktrinelle Beitrag, oder etwa die persönliche juristische Reflexion des Juristen aus dem umbrischen Perugia.

Der für die Notwendigkeit einer systematischen Neuordnung der gesamten Rechtsmaterie empfänglichste Jurist (nicht nur in Deutschland) ist zweifellos Nikolaus Vigel (Vigelius), Autor zahlreicher Werke, die dann in vielen Fällen unmittelbarer Ausdruck seiner langjährigen Tätigkeit als Professor an der Universität Marburg sind3. Vigel, der bereits in den sechziger Jahren eine neue Systematik ausgearbeitet hatte, die auf eine geordnetere und rationellere Darstellung des in den vier Teilen des Corpus Justinians verstreuten zivilrechtlichen Materials abzielte, konnte gegen Ende der siebziger Jahre der Versuchung nicht widerstehen, seinen Methodus auch auf die Neuordnung des kanonischen Rechts anzuwenden4.

So kam es, dass 1577 in Basel unter dem Titel Methodus universi iuris pontificii ein Band das Licht der Welt erblickte, ein Band von kleinem Format, aber von gewisser inhaltlicher Breite, bestehend aus etwa tausend Seiten, in dem der Marburger Professor in fünf Büchern die Kirchenrechtsmaterie summarisch abzubilden versuchte, die keineswegs nach dem Muster der Dekretalen angeordnet war, sondern, wie der Autor erklärte, der Abfolge der Digesten im Zivilrecht gefolgt war („ad eum fere ordinem quem in Digestis luris civilis observavi“5).

Vorangestellt ist eine lange Praefatio, in der Vigel noch einmal auf die Notwendigkeit zurückkommt, die Unordnung im Blick auf die Gesetze und die Rechtswissenschaft zu beheben. Die Behandlung der kanonischen Institutionen entfaltet sich jedoch nach einer systematischen Gliederung, die nur zum Teil und in weniger effektiver Weise die bereits für das Zivilrecht erarbeitete reproduziert. Wurde an dieser Stelle das Schema der Institutiones im Wesentlichen aufgegriffen und in sieben Teilen entwickelt, denen es nicht an einer gewissen Einheitlichkeit des Inhalts mangelt, so erscheint die Abfolge der in den fünf Büchern enthaltenen Themen eher ungeordnet, die in ihren jeweiligen Titeln eine sehr missglückte Übertragung kanonistischer Themen und Institute in rein zivilrechtliche Schemata verraten.

Im ersten Buch, zum Beispiel, nach der Darstellung von Begriffen allgemeiner Natur (de iure et legibus, de iuris legumque divisionibus ac speciebus) finden wir die Behandlung des prozessualen und materiellen Strafrechts, welches sich grundlegend aus dem Römischen Recht iudicia publica ableiten lässt, während wir im zweiten Buch den Zivilprozess unter dem Titel de iudiciis privatis abgebildet finden.

Im dritten Kapitel unter dem Titel de re ecclesiastica versammelt Vigelius ohne jede logische Reihenfolge in der Abfolge der Kapitel typische Themen des ius personarum (de clericis et monachis, de episcopis aliisque praelatis, de electione praelatorum zusammen mit anderen Fragestellungen, die sich stattdessen auf das kirchliche Vermögensrecht beziehen. Das vierte Kapitel des Werkes steht unter dem Titel de actibus ecclesiasticis, und umfasst die Materie der Sakramente mit einem besonderen Bereich, der ausschließlich der Ehe gewidmet ist, und mit einem Anhang, der den Konzilien und dem Visitationswesen gewidmet ist. Das fünfte und letzte Kapitel bestätigt den Eindruck der mangelnden Einheitlichkeit, da es unterschiedlichste Fragestellungen ohne jeden logischen Zusammenhang nebeneinander behandelt werden6.

Innerhalb der einzelnen Kapitel finden wir neben der Verwendung der klassischen kanonischen Quellen, beginnend mit dem Decretum des Gratian, einen kontinuierlichen vergleichenden Bezug zum Zivilrecht, der noch einmal hervorhebt, was der eigentliche Motivationsgrund des Autors war, der nicht bloß zufällig in diesem Bereich das Beste seiner wissenschaftlichen Produktion mit sehr wichtigen Beiträgen im Blick auf den Fortschritt der Rechtswissenschaft geboten hatte.

Nach dem bereits auf dem Titelblatt angekündigten Prinzip („ex qua patet, in quibus lus Pontificium cum Iure Civili consentiat, in quibus ab eo discrepet, illudve distinguati“) werden innerhalb jedes Kapitels kontinuierlich Vergleiche mit dem Zivilrecht angestellt, um die Gemeinsamkeiten und Unstimmigkeiten mit dem kanonischen Recht herauszustellen. Bei diesen Vergleichen wird auf sein zivilrechtliches Hauptwerk verwiesen, das mit dem Kürzel „D.l.C.“ zitiert wird. (Digesta mea luris Civilis). In Anbetracht des lokalen Kontextes, in dem dieses Werk verfasst wurde, ist das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf die tridentinischen Dekrete und ganz allgemein auf das Ius novissimum der Kirche keineswegs überraschend.

Trotz der oben erwähnten offensichtlichen Einschränkungen wurde der Methodus von Vigelius, wahrscheinlich im Gefolge des Erfolges seiner zivilen Werke, vom Publikum geschätzt, wie spätere Neuauflagen in Druckzentren jenseits der Alpen wie Basel und Lyon belegen, während die Druckereien in Venedig die Produktion völlig ignorierten, da sie seine begrenzten Möglichkeiten auf einem Markt erkannten, der nun von den klareren und besser geordneten Institutiones von Johannes Lancellotti beherrscht wurde.

Von ganz anderem Charakter und entschieden manualistischer ist ein Werk, das nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung des Methodus von Vigelius zum ersten Mal in Mainz, der Wiege der Buchdruckerkunst, erscheint. Es handelt sich um das Ergebnis der Arbeit von Daniel Venator, einem nicht näher bekannten Juristen, von dem wir so gut wie nichts mit Sicherheit wissen, außer dass er auch dem Zivilrecht gewidmete Lehrwerke produzierte, die nur im Titel Analysis Methodica luris Pontificii dem Werk des großen Marburger Rechtssystematikers in irgendeiner Weise ähnlich sein konnten. Weit davon entfernt, einen neuen und alternativen Methodus für die Reorganisation und Darstellung des Kirchenrechts zu entwickeln, blieb Venator als Jurist in Wirklichkeit auch der Tradition treu, indem er die zur Gewohnheit gewordene feststehende Ordnung der gregorianischen Dekretalen zur Grundlage nahm7.

Die offensichtlichen didaktischen Zwecke des Bandes werden in der Epistola noncupatoria mehrfach ausdrücklich erklärt, in der der Autor, an die Widmungsträger in Gestalt des Erzbischofs und Kurfürsten von Mainz und der Kanoniker des Domkapitels desselben Erzbistums gewandt, den grundlegenden Zweck seines Werkes hervorhebt, der darin besteht, eine so umfangreiche und bis dahin in verschiedenen Bänden unorganisch verstreute Materie in zusammengefasster und übersichtlicher Form zum Nutzen der studiosa iuventus darzustellen8.

Diesem Ziel folgend ist das Werk knapp in der Form und klar in der Darstellung der Materie, für die es sich nicht nur auf die maßgeblichen Kompilationen des Corpus iuris canonici, sondern auch auf Texte der kanonistischen und zivilen Lehre sowie auf Werke klassischer Autoren wie Platon und Cicero stützt9. Der didaktische Charakter wird noch unterstrichen durch die Verwendung einer darstellenden Technik im Hinblick auf die Abfolge, innerhalb der einzelnen Titel, die in Name und Reihenfolge denen des Liber Extra folgen, wobei man im Textverlauf quaestiones, unmittelbar gefolgt von den entsprechenden responsiones-solutiones vorfinden kann. Die Prägnanz und Klarheit der Antworten scheint funktional zu sein, um das mnemotechnische Lernen zu erleichtern, was auch das Ziel einiger kurzer Serien von axiomata et sententiae im Charakter von Rechtssprüchen ist, die -aus den bereits im Text verwendeten Quellen entnommen- oft die einzelnen Titel abschließen10.

Dieses Werk, nicht ohne Verdienste, erfuhr eine gewisse Wertschätzung, als es Ende des Jahrhunderts in Mainz und zu Beginn des folgenden Jahrhunderts in Lyon erneut gedruckt wurde, was dem Autor wohl eine gewisse Genugtuung verschaffte, der seine Fähigkeiten als geschickter Herausgeber von Kompendien für den Unterricht in zwei nachfolgenden bürgerrechtlichen Werken ähnlichen Zuschnitts bestätigen wird11.

Dennoch gebührt den Institutiones Lancellottis ein herausragender Platz in der Kanonistik, und zwar nicht so sehr wegen seiner lehrhaften Ausarbeitungen zu den verschiedenen Rechtsinstituten des Kirchenrechts, sondern vielmehr, weil er die Idee des Rechts als eines organischen, einheitlichen Normenkomplexes in das Rechtssystem der Kirche eingebracht hat.

Es ist genau diese organische Vision der kanonischen Rechtsordnung, die Frucht jener Sichtweise der Renaissance von einer Realität gewesen ist, die den Menschen des 16. Jahrhunderts durchdringt, und die die Institutiones von früheren Werken der einheitlichen Neuzusammensetzung des Kirchenrechts unterscheidet. Während nämlich für Lancellotti die einzelnen Normen Glieder eines einzigen Normenkomplexes darstellen und daher notwendigerweise miteinander harmonieren, sind und bleiben für Kanonisten wie Algero von Lüttich, Ivo von Chartres und Gratian die verschiedenen auctoritates, die das Kirchenrecht bilden, „getrennte und autonome Rechtssammlungen“, die jedoch, da sie dasselbe Ziel, nämlich das ewige Heil, teilen, zu einer kohärenten Einheit zurückgeführt werden können und müssen.

1 Vgl. dazu etwa Elisabeth DICKERHOF-BORELLO, Ein Liber Septimus für das Corpus Iuris Canonici. Der Versuch einer nachtridentinischen Kompilation, Wien 2002, 43 ff.

2 Siehe dazu Federico Marti, Riflessioni sparse sulle Institutiones iuris canonici di Giovanni Paolo Lancellotti nel dibattito giuridico cinquecentesco attraverso la rilettura dell´Istitutionum Iuris Canonici Commentarium, in: Ephemerides Iuris Canonici 56 (2016) 561-591, hier 563.

3Vgl. zu den biographischen Details https://www.deutsche-biographie.de/sfz83779.html [eingesehen am 18.09.2021]

4 Erschienen zum erstenmal 1561 in Basel mit dem Titel Methodus universi iuris civilis.

5 N. VIGELIUS, Methodus universi Iuris pontificii absolutissima in quinque libros distincta, ex officina Oporiniana, Basileae 1577, „author ad lectorem“, c. 12v n.n

6 Das fünfte Buch unter dem Titel De reliquo iure pontificio enthält zunächst Argumente allgemeinen Charakters (de iure publico, de iure personarum, de rerum iure), sodann folgen spezifische Themen (de censibus, de contractibus et quasi contractibus etc.) und schließt auf Grundlage der systematischen Werke des Zivilrechts in Erinnerung an die Struktur der Digesten mit den zwei klassischen Kapiteln de verborum significationibus und de regulis iuris.

7 Vgl. dazu D. VENATORIUS, Analysis methodica Iuris Pontificii, apud Franciscum Behem, Moguntiae 1579.

Über den Autor, der sich in seinen Werken als Iuris Consultus bezeichnet und vermutlich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in der rheinischen Stadt an der dortigen Universität oder privat gelehrt hat, liegen derzeit nur wenige Informationen vor.

8 Siehe D. VENATORIUS, Analysis methodica Iuris Pontificii, epistola noncupatoria, c.2 n.n.

9 Auch in diesem Werk fehlt jeglicher Bezug zu den Innovationen, die durch das tridentinische Recht eingeführt worden sind.

10 Wenn wir uns zum Beispiel auf den einleitenden Titel beschränken, der den allgemeinen Begriffen gewidmet ist, finden wir die folgenden Fragen, die die entsprechenden Antworten mit einer Diskussion des Themas einleiten: Quid est ius Canonicum? Unde dictum ius Canonicum? Quot sunt partes huius iuris? Quid decreta? Quod sunt partes Decretorum? Quid Decretales? Quod sunt partes Decretalium? Quae causa efficiens iuris Canonici? Quid obiectum? Quae forma? Quis finis et effectus? Quae cognata? Quae adiacentia? Quae pugnantia?, ibidem. 1-5.

11 Vgl. zur genaueren Analyse Friedrich VON SCHULTE, Geschichte der Quellen, Band III/1, 141 f.


DOI: 10.25365/phaidra.299

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Das Vermögensrecht der katholischen Kirche

Pulte, Matthias: Vermögensrecht der katholischen Kirche. Ein Handbuch für Studium und Praxis. Würzburg: Echter 2019. 239 S. (Mainzer Beiträge zu Kirchen- und Religionsrecht, 6), broschiert, ISBN: 978-3-429-05421-2.

Grundsätzlich haben die Erfahrungen der letzten Jahre gezeigt, dass es notwendig ist, sich mit Fragen der kirchlichen Vermögensverwaltung eingehend zu befassen, denn Umgang der Kirche mit Geld und Vermögen ist seit jeher eines der großen Herausforderungen für nicht nur ungerechtfertigte Kritik an der Kirche. Nebst der Tagung unseres Institutes Anfang Mai dieses Jahres stellt sich auch die Frage nach aktueller kanonistischer Literatur zu diesem Thema. Eine jüngere Publikation aus dem Jahre 2019 kam mir dabei in die Hände. Für viele Theologen und in den Ordinariaten Verantwortung tragende Personen ist diese Rechtsmaterie vom kirchlichen Vermögen, wie Pulte es definiert, ein „oftmals unbekanntes und schwer verständliches Rechtsgebiet dar“. Umso mehr ist dem Verfasser zuerst einmal dafür zu danken, ein überschaubares und leistbares Handbuch für Studium und Praxis vorgelegt zu haben.

Im ersten Kapitel werden die „Prinzipien des kirchlichen Vermögensrechts“ behandelt. Neben den einleitenden Bestimmungen der cc. 1254-1258 CIC 1983 sind dazu auch die Normen über den Vermögenserwerb zu zählen (vgl. cc. 1259-1272). Sehr eingehend befasst sich Pulte mit der Vermögensfähigkeit der Kirche, welche er auch durch Anmerkungen der historischen Kanonistik zu untermauern weiß.

Im zweiten Kapitel geht es um die Verwaltung des kirchlichen Vermögens. Dabei versucht unser Autor in seinen Ausführungen grundlegende Begriffe und Eignungskriterien zu erklären und zu erörtern, insbesondere diskutiert er, ob VermögensverwalterInnnen ein Kirchenamt im Sinne des c. 145 CIC bekleiden. Pulte differenziert wie im Gesetzbuch der Kirche vorgesehen zwischen ordentlicher und außerordentlicher Vermögensverwaltung. Dem deutschen Partikularrecht widmet er sich im Blick auf die diözesane Vermögensverwaltung und dem bestehenden Konkurrenzfeldern von Diözesanvermögensverwaltungsrat und Kirchensteuerrat. Hinzu erörtert der Verfasser die Rechtsstellung pfarrlicher Vermögensverwaltungsräte.

In einem kürzeren dritten Kapitel zum Thema „Rechtsgeschäfte über das Kirchenvermögen“ versucht Pulte wichtige Begriffe zu erklären, der Leser bleibt aber etwas im Unklaren über Begriffe wie „Stammvermögen“, aber eine detaillierte Analyse auch im Blick auf das Veräußerungsverbot wird vom Autor nicht vorgenommen.

Im vierten Kapitel befasst sich unser Autor mit den „frommen Verfügungen und Stiftungen“. Im Blick auf Schenkungen und Vermächtnissen versucht er anhand auch konkreter Beispiele die das Recht für ein Verstehen praxisrelevant zu erklären, hinzu analysiert er die verschiedenen Arten kirchlicher Stiftungen.

In Europa aber auch auf anderen Kontinenten mehren sich die Fälle, wo Pfarreien oder Diözesen in die Situation der Zahlungsunfähigkeit geraten. Daher benennt Pulte in einem fünften Kapitel „Was tun, wenn das Geld ausgeht?“ die daraus erwachsenden Probleme und Schwierigkeiten und stellt Bezüge zur Fachliteratur und deren Antworten her.

Trotz Mängel in manchen Einzelpunkten der Darlegung, worauf bereits Georg Bier in einer Besprechung (Theologische Revue, 116. Jahrgang, September 2020) verwiesen hat, meine ich, dass diese Publikation trotz einiger Lücken und ungeklärter offener Fragen sowie dem Unterbleiben problemorientierter Erörterung Studierenden dabei helfen kann, einen Erstüberblick über die Materie des fünften Buches des Codex Iuris Canonici 1983 über das Kirchenvermögen zu erhalten. Man wird aber bei sinnvoller Vertiefung in Einzelfragen nicht umhinkommen, die viel detailliertere Grundlagenliteratur in den uns bekannten Werken zusätzlich zu konsultieren. Alles in allem ist das Werk als Erstinformation für einen Überblick über den universalkirchlichen und diözesanen Rahmen sowie in die aktuelle Literatur gut geeignet, für die fachspezifische Vertiefung in der Praxis ist es wohl kaum relevant.

DOI: 10.25365/phaidra.276