Ein religionsrechtlicher Überblick zur Interviewserie von rechtundreligion.at mit den Spitzenvertretern jener Religionsgemeinschaften, die nach dem österreichischen Recht dem Islam und/oder dem Alevitentum zugeordnet werden.
Die Annexion von Bosnien und Herzegowina durch Österreich im Jahr 1908 löste Bemühungen aus, eine gesetzliche Anerkennung der bosnischen Muslime zu finden und so eine materielle Gleichstellung mit den Angehörigen der anderen zum damaligen Zeitpunkt anerkannten Religionsgesellschaften herzustellen. 1912 wurde das Islamgesetz 1912 erlassen, das erst 103 Jahre später durch das Islamgesetz 2015 ersetzt wurde. Der Wortlaut des IslamG 1912 hatte die Anerkennung aufgrund der historischen Verbindung mit Bosnien-Herzegowina auf die Anhänger der hanafitischen Rechtsschule beschränkt. Im Zuge der Einwanderung tausender Muslime nach Österreich in den 1960er-Jahren verstärkten sich Bemühungen einer institutionellen Anerkennung des Islam. Erst 1979 wurde die erste Kultusgemeine aufgrund des IslamG 1912 errichtet und die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) durch die „genehmigende Kenntnisnahme“ ihrer Verfassung durch das staatliche Kultusamt – eine bis ins 19. Jahrhundert zurückreichende Besonderheit des österreichischen Religionsrechts – als Religionsgesellschaft anerkannt. Da das IslamG 1912 aber nach wie vor nur für die Anhänger der hanafitischen Rechtsschule galt, waren – neben internen Fragen und wohl auch aufgrund einer mittlerweile vielfältigen nationalen Herkunft der Muslime in Österreich – Konflikte vorprogrammiert.
In einem richtungsweisenden Erkenntnis hob der VfGH im Jahr 1987 (VfGH, 10.12.1987, G146/87, G147/87, VfSlg. 11574) die Wortfolge „nach hanafitischem Ritus“ als verfassungswidrig auf, sodass die bis dahin einzig bestehende Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich – durchaus in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Selbstverständnis – die institutionelle Vertretung aller in Österreich lebenden Muslime übernahm. Für den Staat brachte das Vorhandensein eines einzigen Ansprechpartners durchaus auch pragmatische Vorteile mit sich. Solange Anspruch und Wirklichkeit nicht auseinanderfallen, ist dies auch aus verfassungsrechtlicher Perspektive nicht zu beeinspruchen. Sobald jedoch innerhalb einer religiösen Tradition einzelne Gruppierungen ihrem eigenen Selbstverständnis nach den Anspruch auf eine religiös-konfessionelle Eigenständigkeit innerhalb ihrer religiösen Großüberlieferung beanspruchen, obliegt es nicht dem religiös-weltanschaulich neutralen Staat zu entscheiden, ob es innerhalb einer Religion bloß eine oder mehrere „Konfessionen“ geben darf. Wie das Christentum ist auch der Islam in sich polyphon und vielgestaltig. Innerhalb der Großüberlieferungen der Sunniten und der Schiiten haben sich unterschiedliche Rechtsschulen entwickelt. Dazu kommen Phänomene am Rande der islamischen Tradition, die religionswissenschaftlich nur in Teilaspekten dem Islam zugeordnet werden können.
Die durch das Erkenntnis des VfGH 1987 resultierende Rechtslage bedingte Alleinvertretung durch die IGGÖ konnte nicht verhindern, dass neben nach außen getragenen internen Konflikten und unter dem Mantel der Religionszugehörigkeit nicht immer bewältigten sozio-ethnischen Spannungen die Diskussionen über die Möglichkeit einer rechtlichen Selbstständigkeit weiterer religiöser Gruppierungen innerhalb des Islam sukzessive lauter wurden.
(Islamisch-) Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich
Bemühungen des Kulturvereins der Aleviten in Wien auf staatliche. Eintragung nach dem Bekenntnisgemeinschaftengesetz (BekGG) im Jahr 2009 scheiterten mit dem Hinweis, dass das IslamG 1912 keine zusätzlichen islamischen Glaubensgemeinschaften zulasse. 2010 erklärte jedoch der VfGH im „Alevitenerkenntnis“ (VfGH 01.12.2010, B1214/09 VfSlg. 19240), dass diese Rechtsansicht verfassungswidrig sei. Nicht nur enthalte das IslamG kein Verbot der Anerkennung von mehr als bloß einer sich auf den Islam berufenen Glaubensgemeinschaft, eine solche Ansicht widerspreche zudem dem Recht auf freie Religionsausübung gem. Art. 9 EMRK.
Damit war die Grundlage gelegt, dass 2010 die Islamisch Alevitische Glaubensgemeinschaft als religiöse Bekenntnisgemeinschaft registriert werden konnte. Eine weitere Voraussetzung war die Übermittlung von Statuten und eine Darstellung der Lehre, um sicherzustellen, dass es sich um eine von der schon bestehenden Religionsgemeinschaft unterscheidbare Gruppierung handelt. Dies ist eine Konsequenz aus dem sog. „Ausschließlichkeitsrecht“, das den anerkannten Religionsgesellschaften verbürgt, gegenüber dem Staat und im staatlichen Recht die alleinige institutionelle Vertretung der Angehörigen eines bestimmten Religionsbekenntnisses zu sein. Auch wenn dieses institutionelle Recht in einer gewissen Spannung zur individuellen Religionsfreiheit steht, kommt in ihm der kooperative Charakter des österreichischen Religionsrechts zum Ausdruck.
2013 erreichte die Islamischen Alevitischen Glaubensgemeinschaft die Anerkennung als Religionsgesellschaft i.S.d. Art 15 StGG mit den damit verbundenen Rechten und Pflichten (u.a. Erteilung von Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen).
Der verschlungene Weg zur Eintragung der Frei-Alevitischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (FAGÖ)
§ 4 BekGG normiert eine Reihe von Voraussetzungen für die Statuten, um die staatliche Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft zu erlangen. Um die erwähnte Unterscheidbarkeit von bereits bestehenden Gemeinschaften zu gewährleisten, werden dort bestimmte Anforderungen an den Namen der Religionsgemeinschaft gestellt (Abs. 1 Z. 1.) Darüber hinaus muss die eigene Religionslehre dargestellt werden (Z. 2), um die staatliche Behörde, die selbst über keine Kompetenzen verfügt, religiöse Debatten zu entscheiden, beurteilen kann, ob es ich um eine von bereits bestehenden Religionsgemeinschaften unterscheidbare Gruppierung handelt. Mit dieser Genehmigungsvoraussetzung versetzt das BekGG den religiös-weltanschaulich neutralen Staat freilich trotz allem in die Rolle, religiöse Lehren inhaltlich bewerten zu müssen.
Um die Eintragung als Bekenntnisgemeinschaft zu erlangen, mussten unterschiedliche alevitische Gruppierungen Einigkeit über die alevitische Lehre erzielen. Dabei kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen der Föderation der Aleviten-Gemeinden in Österreich und dem Kulturverein der Aleviten in Wien. Diese betrafen vor allem die Frage, ob das Alevitentum eine – in aus dem christlichen Kontext stammender Terminologie ausgedrückt – „Konfession“ des Islam oder eine vom Islam unabhängige Religion sei.
Die Föderation der Aleviten-Gemeinden in Österreich machte sich für die Eintragung als eine vom Islam unabhängige Religionsgemeinschaft stark, während der Kulturverein der Aleviten in Wien sich dem Islam zugehörig verstand. Für Außenstehende kompliziert wurde die Angelegenheit dadurch, dass die Föderation eigentlich den Dachverband bildete, dem der Wiener Kulturverein angehörte.
Die Frage der Nähe und Distanz zum Islam kann eigentlich nur durch die Gläubigen selbst, nicht aber durch staatliche Hoheitsgewalt beantwortet werden. Durch die Anerkennung der Islamischen Alevitischen Glaubensgemeinschaft und ihrer späteren Anerkennung als Religionsgesellschaft wurden staatlicherseits aber Fakten geschaffen, mit denen die Anhänger der „nicht-islamischen“ Aleviten nicht leben konnten.
2015 trat das neue Islamgesetz in Kraft, welches das IslamG 1912 ersetzte. Das IslamG 2015 ist dadurch gekennzeichnet, dass es zugleich ein spezielles Anerkennungsgesetz für islamische Religionsgesellschaften bildet und die beiden bereits bestehenden Glaubensgemeinschaften (IGGÖ, Islamisch-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich) in einem besonderen Teil spezialgesetzlich anerkennt und religionsrechtliche Regelungen für diese trifft. Die Anerkennung weiterer Religionsgesellschaften, die nach dem eigenen Selbstverständnis islamisch sind, richtet sich daher in Zukunft nach dem IslamG, nicht nach dem AnerkennungsG 1874 (mit der zusätzlichen ins BekGG verirrten Norm des § 11 BekGG).
Islamische-Schiitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (Schia)
Dies betrifft vor allem die 2013 staatlich eingetragene Islamische-Schiitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (Schia), die nach eigenem Selbstverständnis zweifellos „islamisch“ ist und sich dennoch von der mehrheitlich sunnitisch geprägten IGGÖ nicht vertreten lassen wollte. Dass es auch innerhalb der IGGÖ schiitische Gruppen gibt, zeigt, wie komplex die islamische Vielfalt sich rechtlich darstellt. Mit der Eintragung der Schia jedenfalls erfolgte die zweite religionsrechtliche Anerkennung einer islamischen Glaubensgemeinschaft in der Logik des Alevitenerkentnisses des VfGH.
Nach der „neuerlichen“ Anerkennung überarbeiteten beide Islamischen Religionsgesellschaften ihre Verfassung. Die Islamisch-Alevitisch Glaubensgemeinschaft änderte ihren Namen, indem der Zusatz „Islamisch“ gestrichen wurde und nunmehr lautet: „Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich – ALEVI“. Auch wenn dadurch nach außen ein zusätzlicher Grad der Komplexität erreicht wurde, erfolgte keine Beeinspruchung seitens des Kultusamtes.
Ein erster Antrag der Föderation der Aleviten-Gemeinden in Österreich auf Eintragung als eine (nicht-islamische) alevitische Bekenntnisgemeinschaft war kurz nach mit dem Antrag des Kulturvereins gestellt worden. Zeitgleich mit der Eintragung der Islamischen Alevitischen Glaubensgemeinschaft wurde der Antrag der Föderation abgewiesen, da dieser sich inhaltlich nicht vom stattgegebenen Antrag des Kulturvereins unterschieden habe. Eine Beschwerde an den VwGH wurde eingestellt. Auch nach der Anerkennung der ALEVI als Religionsgesellschaft scheiterte die Föderation mit ihrem Begehren, als Bekenntnisgemeinschaft eingetragen zu werden, da die Statuten nicht ausreichend die Unterschiede der Lehre im Vergleich zur Lehre der ALEVI zum Ausdruck brächten (vgl. die beiden Entscheidungen VwGH, 05.11.2014, 2012/10/0005 und BVwG, 11.03.2016, W213 2113447-1). Die Föderation versuchte die Namensänderung der ALEVI zu beeinspruchen, was zu komplexen Fragen um die Parteistellung im Verwaltungsverfahren und im verwaltungsgerichtlichen Verfahren sowie über die Zuständigkeit des BVwG führte (vgl. ausführlich dazu: Stefan Hammer, Die Aleviten im österreichischen Religionsrecht – ein Kampf um Anerkennung. Der schwere Abschied vom Ausschließlichkeitsgrundsatz, in: öarr 2018, 1).
Noch im Jahr 2019 wies der VwGH in einem erneut angestrengten Verfahren die Revision der Föderation gegen eine Entscheidung des VwG Wien zurück (VwGH, 28.05.2019, Ra 2019/10/0049). Im selben Jahr ging die Föderation den Weg nach Strasbourg und brachte eine Beschwerde beim EGMR ein. 2020 stellte die Föderation einen neuerlichen Antrag auf Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft. Nach einer weiteren Modifizierung sollte die Eintragung als „Freie-Alevitische Bekenntnisgemeinschaft in Österreich“ erfolgen. Bevor der EGMR über Beschwerde urteilen konnte, gab das Kultusamt im März 2022 (GZ 2021-0.338.029, rechtskräftig mit 15.04.2022) den Anträgen schlussendlich statt, sodass die Frei-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (FAGÖ) als bislang letzte Bekenntnisgemeinschaft staatlich anerkannt wurde.
Alt-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (AAGÖ)
Das Alevitentum kennt, anders als etwa Judentum, Christentum und Islam, keinen unvordenklichen schriftlichen „Kanon“ und ist mehr als viele andere religiöse Bewegungen durch eine vielfältige und anhaltende mündliche Überlieferung geprägt. Unterschiedliche „Alevitentümer“ sind daher auch mit der Vielfalt unterschiedlicher mündlicher Erzähltraditionen verbunden. Ethnische und politische Faktoren spielen ebenso eine Rolle. Die politischen Verhältnisse in der Türkei, dem Stammland der meisten Aleviten bzw. ihrer Vorfahren und im Einwanderungsland spielen ebenfalls eine Rolle für die Herausbildung unterschiedlicher Gruppierungen. Die Entwicklung unterschiedlicher Identitäten scheint in den Einwanderungsländern verstärkt stattzufinden (so Friedmann Eißler „Was wäre in der Türkei aus uns geworden?“ Wie sich die Gemeinschaft der Aleviten in der europäischen Diaspora neu erfindet, in: HK 10/2020, 30-33),
Die „Alt-Aleviten“ grenzen sich bewusst vom Islam ab und sehen islamische Elemente in der eigenen Religion sehr kritisch. Eine gesetzliche Anerkennung würde sich daher nicht im Rahmen des IslamG 2015 bewegen. Die meisten Mitglieder sind kurdischer Abstammung. Da die Verbindung zur ALEVI eine ganz andere ist, als sie es zumindest ursprünglich bei den Frei-Aleviten war, war der Weg zur staatlichen Eintragung als religiöse Bekenntnisgemeinschaft für die Alt-Aleviten wesentlich weniger steinig. Die Alt-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich (AAGÖ) erlangte am 23. August 2013 die Rechtspersönlichkeit.