Scharia in der österreichischen Schiedsgerichtsbarkeit

Von Koloman Roiger-Simek.1

DOI: 10.25365/phaidra.729

Das Verfahren

Mitten im sommerbedingten Nachrichtenloch entdeckten österreichische Tageszeitungen[i] eine bereits vor dem Sommer veröffentlichte Entscheidung des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien, die Berichte wurden rasch auch von anderen österreichischen Medien aufgegriffen. Obwohl dieses Urteil aus rechtlicher Sicht weitgehend unbeachtlich ist, traf es einen gesellschaftlichen Nerv, den österreichische Medien gerne unverhältnismäßig viel besprechen: Die Ausbreitung des Islams in Österreich.

Zwei Parteien, A und Dr. C, hatten einen Vertrag geschlossen, der eine Schiedsvereinbarung umfasste. Diese stellte Folgendes fest: „Das Schiedsgericht entscheidet anhand der islamischen Rechtsvorschriften (Ahlus-Sunnah wal-Jamaah) nach Billigkeit in der Sache nach bestem Wissen und Gewissen“.[ii] Nachdem es zwischen A und Dr. C tatsächlich zu einer Streitigkeit aus dem Vertrag kam, endete das Schiedsverfahren mit einer Entscheidung, dass Dr. C € 1.182.816,10 binnen 14 Tagen an den Kläger, A, zu zahlen habe. A stellte aufgrund der Schiedsentscheidung einen Exekutionsantrag, um einen Teil des geschuldeten Betrags zu erhalten. Dieser wurde am 29. und 30. November 2024 vom Wiener Bezirksgerichtes Fünfhaus bewilligt. Gegen diese Entscheidungen erhob Dr. C Rekurs. Der Rekurswerber brachte vor, dass der Schiedsspruch durch die Anwendung der Scharia gegen die ordre public verstöße und daher nicht vollstreckbar sei. Das Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien hat den Rekurs abgelehnt.

Schiedsgerichte und Rechtswahl

In der österreichischen Rechtsordnung können Vertragsparteien Schiedsvereinbarungen treffen und Schiedsgerichte, d.h. unabhängige Gremien anstatt von staatlichen Gerichten, verbindlich über ihre Ansprüche entscheiden lassen. Wie aus den Debatten um CETA (Comprehensive Economic and Trade Agreement, dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und Canada) und TTIP (Transatlantic Trade and Investment Partnership, dem Freihandelsabkommen zwischen der EU und der USA) hat ein Großteil der österreichischen Bevölkerung ein negatives Bild von und ablehnende Haltung zu Schiedsgerichten. Die beiden internationalen Abkommen hätten es Unternehmen ermöglicht Staaten vor Schiedsgerichten zu klagen. Dabei wurde dieser Zugang zu Schiedsgerichten als Ausdruck einer zwei-Klassen Justiz wahrgenommen, die vor allem ausländische Unternehmen begünstige. Obwohl die Schiedsgerichtbarkeit in Österreich rechtlich unproblematisch ist, hat sie wohl zur medialen Aufmerksamkeit im vorliegenden Fall beigetragen.

Die Parteien eines privatrechtlichen Vertrags können grundsätzlich eine Rechtswahl treffen und somit vereinbaren, dass auf Streitigkeiten aus einem Vertrag das Recht eines anderen Staates angewandt wird, zB deutsches oder kalifornisches Recht. Gemäß § 603 Abs. 1 ZPO gilt dies auch für Schiedsvereinbarungen. Dabei darf der daraus resultierende Schiedsspruch jedoch nicht die „Grundwertung der österreichischen Rechtsordnung (ordre public)“ widersprechen (§ 611 Abs. 2 Z. 8 ZPO). Dies würde zutreffen, wenn das Gesamtergebnis der Entscheidung des Schiedsgerichts eine „unerträgliche Verletzung tragender Grundwertungen“[iii] wäre. Einzelne rechtliche Fehlentscheidungen reichen dafür nicht aus. Ebenso unbeachtlich ist es, wenn einzelne Normen oder Konzepte des anzuwendenden Rechtssystems nicht im österreichischen Rechtssystem existieren.

Eine Anwendung von islamischem Recht gegen den Willen der Vertragsparteien würde zweifelslos gegen die Grundwertung der österreichischen Rechtsordnung verstoßen.[iv] Im vorliegenden Fall scheinen die Bedenken des Rekurswerbers jedoch erst von dem zweitinstanzlichen Gericht aufzutauchen und nicht bereits in zeitlicher Nähe zum Vertragsabschluss.

Religionsinterne Rechtsysteme und Grundrechtschutz

Scharia ist ein komplexer und weit gefasster Rechtsbegriff, der nicht kodifizierte, historisch entwickelte religiöse und gesellschaftliche Normen umfasst, die auf den Koran und den Lehren des Propheten Muhammad beruhen.[v] Dementsprechend umfasst dieses Rechtssystem eine Fülle an unterschiedlichen Lehren und Interpretationen. In der erwähnten Schiedsentscheidung wird nicht auf die Scharia allgemein, sondern auf die islamischen Rechtsvorschriften der Ahlus-Sunnah wal-Jamaah verwiesen, wodurch eine gewisse Konkretisierung stattgefunden hat. Ob diese Präzisierung hinreichend bestimmt ist, ist jedoch fraglich. Auch das Landesgericht hat scheinbar „Ahlus-Sunnah wal-Jamaah“ nicht problemlos zuordnen können. Die Quellen, auf die das Gericht verweist, beruhen auf Einträge in Wikipedia oder Blogeinträge auf der Plattform Tumblr, einem sozialen Medium, auf dem Benützer öffentliche Einträge verfassen können. Vor allem bei Letzterem kann die Richtigkeit der Informationen nicht überprüft werden. Für den vorliegenden Fall sind solche Schwierigkeiten jedoch nicht von Bedeutung, da die Parteien in der Schiedsklausel zusätzlich dem Schiedsgericht die Möglichkeit der Entscheidung „nach Billigkeit“ zusprachen. Das Landesgericht für Zivilsachen hat sich in seiner Entscheidung vor allem auf diese Vereinbarung gestützt sowie auf der Tatsache, dass ein Verstoß gegen die ordre public nur im Ergebnis geprüft wird. Da im vorliegenden Fall das Schiedsverfahren unter Beteiligung beider Parteien erfolgte und der „Schiedsspruch nachvollziehbare und begründete Feststellungen“ enthielt, gab es keine Indikationen, dass die Entscheidung gegen die Grundwertung der österreichischen Rechtordnung verstieß.[vi]

Soweit das Recht einer Kirche oder Religionsgesellschaft ihre inneren Angelegenheiten betrifft, sind diese durch Art. 15 StGG vor staatlichen Überprüfungen verfassungsrechtlich geschützt. Privatrechtliche Themen, die vom Recht dieser gesetzlich anerkannten Religionsgemeinschaften geregelt werden, sind aber nicht der staatlichen Kontrolle entzogen und unterliegen dem grundrechtlichen Schutz der österreichischen Gerichte. In Gerichtsverfahren spielt der Schutz der Verfahrensrechte der Parteien, d.h. jenen Prinzipien in einer Streitigkeit, die die Fairness zwischen den Parteien wahren sollen, eine zentrale Rolle. Dies ändert sich nicht, wenn das anzuwendende Rechtssystem jenes einer Kirche oder Religionsgesellschaft ist. Selbst dann ist das Schiedsverfahren in einer Weise durchzuführen, die nicht den „Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung (ordre public) widerspricht“.[vii] Dabei sind die „tragenden Grundwertungen des österreichischen Prozessrechts“ von der ordre public mitumfasst.[viii] Darin kommt den Prozessrechten der Parteien eine zentrale Rolle zu. Auch der EGMR hat bestätigt, dass staatliche Gerichte prüfen müssen, ob die Verfahrensrechte der Parteien gewahrt wurden, bevor sie die Exekution von Entscheidungen von kirchlichen Gerichten bewilligen.[ix] Dies gilt wohl ebenso für Schiedssprüche, die entsprechende Normen anwenden. Im vorliegenden Fall war dies jedoch unproblematisch.

Anmerkungen

Der mediale Aufruhr im Sommer 2025 ähnelt jenem von 2011, in dem zwei Fälle der Anwendung der Sharia iVm internationalem Familienrecht zu Schlagzeilen führten. Die damaligen Rechtsfragen betrafen das Kollisionsrecht, während jene von 2025 in der Privatautonomie des Zivilrechts verankert war. Seit 2011 ist die Anwendung von Rechtsnormen im Familienrecht, die auf Scharia beruhen, aufgrund von europarechtlichen Bestimmungen zur Ausnahme geworden.[x] Eine Änderung der ZPO, um die Anwendung der Scharia auf zivilrechtliche Verträge einzuschränken, wäre ein ungerechtfertigter und rein politisch motivierter Eingriff in die Privatautonomie, die geeignet wäre den Ruf Österreichs als Wirtschaftsstandort zu beeinträchtigen. Ein Verbot von Schiedsvereinbarungen, die die Anwendung der Scharia beschließen, und die Nichtigkeit solcher Bestimmungen würde Rechtsmissbrauch durch die unterlegene Partei begünstigen. Trotz der wachsenden Zahl von Muslime in Österreich bleibt die Anzahl an Fällen, in denen österreichische Gerichte mit der Scharia in Berührung kommen, sehr gering. Darüber hinaus sollte auch davon Abstand genommen werden, das Zivilrecht bzw. das Prozessrecht zum politischen Spielball in einer integrations- oder migrationspolitischen Debatte zu machen.


[i] Scheinbar als erstes wurde folgender Artikel veröffentlicht: Philipp Aichinger, Schiedsspruch nach Scharia in Österreich gültig Die Presse 18.08.2025.

[ii] Zitiert nach LG für ZRS Wien 02.05.2025, 47R65/25v.

[iii] OGH 18OCg3/15p, JBl 2016, 462.

[iv] Siehe dazu etwa EGMR 19.12.2018, 20452/14, Molla Sali / Griechenland, Rz 156f.

[v] Mouez Khalfaoui, Islamisches Recht, Scharia und Ethik. Eine europäische Perspektive (Nomos 2022) 23-26; Mathias Rohe, Das islamische Recht. Geschichte und Gegenwart (3. akt. und erw. Aufl. C.H. Beck 2011) 6-17.

[vi] LG für ZRS Wien 47R65/25v

[vii] § 611 Abs. 2 Z 5 ZPO.

[viii] Rechberger/Melis in Rechberger, ZPO4 § 611 Rz 8.

[ix] EGMR 20.07.2001, 30882/96, Pellegrini / Italien, Rz 44-48.

[x] Willibald Posch, Die Anwendung islamischen Rechts in Österreich heute – und morgen? ZfRV 2012/9, 76f.

  1. Diese Forschung wurde gänzlich oder teilweise durch den Wissenschaftsfonds FWF finanziert 10.55776/PAT1667223. ↩︎

Religiöse Konversion in Österreich als Asylgrund. Zum Urteil EuGH, 29. Februar 2024, C-222/22 (Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen gegen JF)

Von Andreas KowatschORCID logo

DOI: 10.25365/phaidra.462

1. Zum Gang des Verfahrens

Am 29. Februar 2024 beantwortete der EuGH durch ein Urteil in einem Vorabentscheidungsverfahren eine Frage, die im Rahmen eines Asylrechtsstreites in Österreich durch den VwGH als oberstes Verwaltungsgericht an den Gerichtshof herangetragen worden war. Konkret ging es um die Frage, wie § 3 Abs. 3 des österreichischen AsylG 2005 im Licht der unionsrechtlichen Vorgaben (Art. 5 Abs. 3 RL 2011/951) richtig zu interpretieren und zu vollziehen ist. Während diese Entscheidungen im konkreten Verfahren durch den VwGH noch ausstehen, war es Aufgabe des EuGH, über die korrekte Auslegung der unionsrechtlichen Bestimmung zu urteilen.

JF, ein iranischer Staatsbürger, hatte 2015 beim Bundesamt für Asyl und Fremdenwesen (BFA), der für die Entscheidung über Asylanträge zuständigen österreichischen Behörde, einen Antrag auf „internationalen Schutz“ gestellt. Er sei im Iran als Fahrschullehrer vom iranischen Geheimdienst befragt und auch bereits als Student verfolgt worden, weil er einen islamischen Prediger kritisiert hätte. 2017 wurde dieser Antrag rechtskräftig abgewiesen und die Rückkehr in den Iran angeordnet. 2019 stellte JF einen „Folgeantrag“. Er sei zwischenzeitlich zum Christentum konvertiert und würde daher im Falle einer Rückkehr in den Iran wegen seiner Religion verfolgt werden. Das BFA wies auch diesen Antrag ab, stellte aber fest, dass die Konversion zum Christentum aufgrund einer inneren Überzeugung erfolgt sei. Da die Verfolgung aufgrund der Religion im Iran zu befürchten sei, wurde JF daher zwar nicht als Flüchtling anerkannt, ihm jedoch der Status eines „subsidiär Schutzberechtigten“ verliehen. Da dieser Status im Vergleich zur Rechtsstellung von Flüchtlingen weniger umfassende Rechte verbürgt, erhob JF Beschwerde vor dem BVwG. Dieses entschied 2020 zu seinen Gunsten. Das Urteil wurde jedoch durch das BFA mittels ordentlicher Amtsrevision vor dem VwGH angefochten. Dieser setzte das Verfahren aus und ersuchte den EuGH um die Durchführung des Vorlageverfahrens.

2. Der asylrechtliche Rahmen der Entscheidung

Das österreichische Asylrecht ist inhaltlich geprägt durch völkerrechtliche Verträge und Rechtsakte der Europäischen Union. Völkerrechtlich bildet nach wie vor das allgemein als „Genfer Flüchtlings-Konvention“ bekannte „Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge“ (GFK) aus dem Jahr 1951 samt der Zusatzprotokolle die Grundlage für die Gewährung „internationalen Schutzes“ vor Verfolgung im Herkunftsland. Als Flüchtling im Sinn von Art. 1 A2 GFK gilt, „wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.“

Die hier angesprochenen „Fluchtgründe“ sind ein Ausdruck dafür, dass in diesem Teilgebiet des Fremdenrechts mehr als in vielen anderen Rechtsgebieten unmittelbar jene Grundrechte, die für die menschliche Existenz von fundamentaler Wichtigkeit sind und in welche daher entweder gar nicht oder nur im Rahmen sehr enger rechtlicher Schranken staatlich eingegriffen werden darf, im Fokus stehen. Es liegt nahe, dass das Recht auf Leben und das (ausnahmslose) Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung besondere asylrechtliche Relevanz haben. Neben diesen fundamentalen Rechten sind aber auch das Menschenrecht auf Privat- und Familienleben gem. Art. 8 EMRK und auch das Recht auf religiöse Freiheit gem. Art. 9 EMRK von besonderer Bedeutung.

Richtlinien der EU, so Art. 288 AEUV, sind für die Mitgliedstaaten hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich. Die Wahl der Form und der Mittel für die Umsetzung bleibt jedoch den innerstaatlichen Stellen überlassen. Für die Frage der Zuerkennung internationalen Schutzes als anerkannter Flüchtling bzw., sollte dieses Begehren scheitern und dennoch die Gefahr der Verfolgung im Herkunftsland bestehen, für die Entscheidung über die Gewährung „subsidiären Schutzes“, zentral ist die sog. „Status-Richtlinie“2. Ihre Umsetzung ins österreichische Recht erfolgte hauptsächlich durch Novellierungen des AsylG 2005, wobei in der Richtlinie nicht alle Details, sondern lediglich Mindeststandards normiert sind.

Jeder Antrag auf internationalen Schutz muss individuell geprüft werden. Um die Gefahr einer Verfolgung einschätzen zu können, ist die individuelle Situation des Antragstellers zu eruieren. Die individuelle Situation kann aber nicht losgelöst von der objektiven politischen und gesellschaftlichen Situation im Heimatland beurteilt werden.

Wenn das Asylverfahren nicht missbraucht wird, um aus anderen (vor allem rein wirtschaftlichen) Gründen ein Bleiberecht in Österreich zu erlangen, haben Asylwerber bereits in ihrem Herkunftsland Unrecht, Verfolgung bzw. erniedrigende Behandlungen erfahren müssen. So ist Flucht wegen einer Verfolgung aus religiösen Gründen kein seltenes Ausnahmephänomen, sondern der bedrückende Alltag von Menschen in sehr unterschiedlichen Staaten. Verfolgung aufgrund der Religion trifft Anhänger aller Religionen. Weltweit betrachtet, überragt die Zahl der verfolgten Christen jedoch alle anderen Religionen um ein trauriges Vielfaches.3

Die (begründete) Furcht vor Verfolgung kann aber auch erst nach dem Verlassen des Heimatlandes entstehen. So kann sich während eines Auslandsstudienjahres die politische Situation zu Hause so verändern, dass eine Heimkehr nicht mehr ohne Gefahr möglich ist. In diesem Fall spricht man von einem „objektiven“ Nachfluchtgrund, der ohne ein spezielles Zutun des Antragstellers auf Asyl entstanden sein muss. Davon zu unterscheiden sind die für den weiteren Gedankengang wichtigen „subjektiven“ Nachfluchtgründe (vgl. zu beidem § 3 Abs. 2 AsylG 2005). Die Gefahr, im Herkunftsland verfolgt zu werden, hat hier ihre Ursache im Verhalten des Antragstellers. Unabhängig von der Frage des Motivs wird der Fluchtgrund in Österreich durch den Asylsuchenden selbst hergestellt. Subjektive Nachfluchtgründe können Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sein. Sie können aber auch ohne Kontinuität zu einer schon bestehenden Gesinnung neu entstehen.

Die GFK unterscheidet nicht zwischen Fluchtgründen im Herkunftsstaat und „sur place“ ausgelösten Gründen. Entscheidend ist nur die Frage, wie glaubhaft bzw. wahrscheinlich die Verfolgung im Fall der (u. U. erzwungenen) Rückkehr ist. Damit betont die GFK sehr stark das subjektive Schutzbedürfnis potenziell verfolgter Menschen. Der Staat ist daran gebunden, muss aber zugleich verhindern, dass das Asylrecht missbraucht wird, indem Fluchtgründe bewusst geschaffen werden, um in den Genuss der Rechte zu kommen, die nur anerkannte Flüchtlinge genießen. Dieser Schutz vor Missbrauch ist essenziell für die Verfolgten selbst, da das asylrechtliche System politisch von der Akzeptanz der Gesamtbevölkerung abhängt, die zu kippen droht, wenn politisch oder faktisch die rechtlich vorgesehene Unterscheidung von Flüchtlingen, subsidiär Schutzberechtigten und sonstigen Migranten verwischt wird.

§ 3 Abs. 2 AslyG 2005 normiert, dass die Verfolgung (im Herkunftsland) auch auf Aktivitäten des Fremden beruhen kann, „die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.“

Durch die Verwendung des Wortes „insbesondere“ ergibt sich bereits eine gewisse Einschränkung. Eine besondere Einschränkung enthält diese Norm aber für subjektive Nachfluchtgründe, die erst in einem „Folgeantrag“4 geltend gemacht werden. Ein Folgeantrag ist ein neuerlicher Asylantrag, der gestellt wird, nachdem bereits ein Asylverfahren rechtskräftig negativ abgeschlossen worden ist. Das Vorbringen neuer Gründe ist in bestimmten Grenzen möglich, da über diese noch nicht rechtskräftig entschieden worden ist. Es liegt hier aber auf der Hand, dass Folgeanträge besonders missbrauchsanfällig sind und eine Verzögerungstaktik für den Vollzug einer Ausweisungsentscheidung sein können. Ganz besonders gilt dies für den Fall, dass nach dem abgelehnten ersten Verfahren der Antragsteller selbst den Fluchtgrund schafft, auf den er sich dann im Folgeantrag beruft. § 3 Abs. 2 AsylG 2005 normiert daher: „Einem Fremden, der einen Folgeantrag … stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.“

Diese Bestimmung des AsylG erging in Umsetzung von Art. 5 Abs. 2 und 3 der Status-RL, deren Wortlaut für das gegenständliche Verfahren ausschlaggebend ist.5 Vergleicht man die Texte, so erkennt man, dass die Formulierung im österreichischen AsylG enger ist.

3. Konversion als Asylgrund?

Die Religionsfreiheit schützt nicht nur die Ausübung der Religion im Rahmen der verfassungsrechtlich zulässigen Grenzen, sondern auch die Freiheit, die eigene Religion zu wechseln. Das Recht auf Apostasie (Glaubensabfall) – ohne oder mit einer einhergehenden Zuwendung zu einer anderen Religion oder Weltanschauung – steht im Zentrum des staatsgerichteten Grundrechts auf Religionsfreiheit.

Ob die Hinwendung zu einer neuen Religion bzw. die damit oftmals verbundene Abwendung von der ursprünglichen Religion, eine taugliche Grundlage für die Zuerkennung internationalen Schutzes als Flüchtling ist, hängt wie bei allen anderen Asylgründen vom individuellen Fall ab. Im Normalfall muss die Konversion in Österreich mit dem inneren Entschluss verbunden sein, die neue Religion im Herkunftsland auch ausüben zu wollen. Die Entscheidung darüber wirft aber schwierige Fragen der Kompetenz des Staates auf. Wie weit dürfen, können oder müssen staatliche Behörden die persönliche Ernsthaftigkeit des Religionsbekenntnisses beurteilen? Auch erfolgen im Rahmen der Konversion zwar einige feststehende Schritte (z. B. der Empfang der Taufe), zugleich ist die Konversion religionspsychologisch aber schwer an einem bestimmten Punkt festzumachen. Eine staatliche Beurteilung dieser Frage bewegt sich an der Grenze der weltanschaulich-religiösen Neutralität des säkularen Staates.6 Schließlich können auch weniger ernsthafte „Konversionen“ und selbst bloße Scheinkonversionen Auslöser für Verfolgung sein, wenn etwa das Foto eines Taufscheins in den sozialen Medien verbreitet wurde.

4. Zum Urteil des EuGH

Der EuGH musste die Frage klären, ob Art. 5 Abs. 2 und 3 der Status-RL7 so zu verstehen ist, dass einem Folgeantrag wegen subjektiver Nachfluchtgründe nur stattgegeben werden darf, wenn die vom Antragsteller nach seiner Flucht ausgeübten Aktivitäten in diesem Mitgliedstaat zulässig sowie nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung sind.

Die Konversion zu einer neuen Religion ist in Österreich wie in allen anderen Mitgliedstaaten der EU zweifellos eine zulässige Handlung. Die Religionsfreiheit gilt als Menschenrecht für jedermann und unterliegt keinen Einschränkungen für Drittstaatsangehörige. Die Hinwendung zur neuen Religion kann die Fortsetzung eines Prozesses sein, der bereits im Heimatland begonnen hat. So kann jemand bereits zu Hause mit dem Christentum bzw. der Kirche in Kontakt gekommen sein, etwa in Form der Entwicklungshilfe im Rahmen christlicher Mission und Caritas. Erst in Österreich erfolgte dann aber eine Intensivierung des Kontakts und eine persönliche religiöse Neuorientierung. Das Konversionsgeschehen kann aber auch erst in Österreich ausgelöst worden sein, etwa, weil ein Fremder in einer kirchlichen Gemeinde soziale Kontakte gefunden hat. Eine Ungleichbehandlung der einen und der anderen Konversion wirft erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken im Blick auf die in Österreich in Art. 63 Abs. 2 StV St. Germain und Art. 9 EMRK jedermann garantierte Religionsfreiheit auf. Da zudem eine Umsetzung von Unionsrecht vorliegt, ist auch Art. 10 GRC zu beachten.

Auch wenn man den Blick auf die Religionsfreiheit außer Acht lässt, musste der EuGH prüfen, ob die entsprechende Norm in der Status-RL so ausgelegt werden muss, dass ein Staat einem Fremden „die Anerkennung als Flüchtling nur verweigern darf, wenn feststeht, dass dieser Antrag eindeutig auf einer Verfolgungsgefahr beruht, die der Antragsteller nach der bestandskräftigen Entscheidung über seinen früheren Antrag vorsätzlich durch unredliche Aktivitäten, Handlungen oder Verhaltensweisen allein deshalb herbeigeführt hat, um die für seine Anerkennung als Flüchtling erforderlichen Voraussetzungen zu schaffen.“8

Art. 5 Abs. 3 der Status-RL, an dem § 3 Abs. 3 AsylG zu messen ist, sieht vor, dass die dort genannten Einschränkungen von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden können. Es handelt sich demnach nicht um eine Verpflichtung (EuGH, Nr. 26). Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft soll auch nicht automatisch in jedem Fall, sondern nur „in der Regel“ erfolgen (EuGH, ebd.). Soweit der Nachfluchtgrund „nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung“ ist, ist ein Missbrauch prima facie weniger wahrscheinlich. Eine generelle Tatbestandsvoraussetzung ist diese Kontinuität jedoch nicht, da Abs. 2 nicht nur von einer Möglichkeit der Umsetzung spricht, sondern diese Anknüpfung durch die Wendung „insbesondere“ relativiert.

Die Status-RL steht im Kontext des internationalen Asylrechts, dessen zentrale Normierung die GFK darstellt. Alle Mitgliedstaaten haben die GFK ratifiziert. Daher kann die RL auch nur im Licht der GFK ausgelegt werden (EuGH, Nr. 27). Der EuGH weist darauf hin, dass Art. 5 Abs. 3 Status-RL keinen Automatismus legitimiert. Die staatliche Pflicht, jeden Fall individuell zu prüfen bleibt unberührt (EuGH, Nr. 34). Auch wird keine rechtliche Vermutung aufgestellt, „wonach jeder Folgeantrag, der auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, a priori auf eine Missbrauchsabsicht und die Absicht zurückzuführen ist, das Verfahren für die Zuerkennung internationalen Schutzes zu instrumentalisieren“ (EuGH, Nr. 36).

Im Ergebnis kommt der EuGH zum Urteil, dass Art. 5 Abs. 3 der Status-RL einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund eines Folgeantrags, der auf eine Verfolgungsgefahr gestützt wird, die auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslands selbst geschaffen hat, von der Voraussetzung abhängig macht, dass diese Umstände Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung des Antragstellers sind.

Sollten die staatlichen Organe nach einem individuellen Verfahren feststellen, dass die Umstände, die die Verfolgungsgefahr begründen, gesetzt wurden, um das Asylverfahren zu missbrauchen, dann ermöglicht die Status-RL die Verweigerung der Flüchtlingseigenschaft auch dann, wenn im Heimatland tatsächlich die Gefahr der Verfolgung besteht. Schutzlos ist der Fremde indes dennoch nicht, da aufgrund der Wortfolge „unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention“ eine Zurückweisung ins Herkunftsland dennoch verboten sein kann. Im Ergebnis bedeutet dies, dass der EuGH den unionsrechtlichen vom völkerrechtlichen Flüchtlingsstatus unterscheidet, sodass ein Fremder Flüchtling im Sinn der GFK sein kann, ohne dass er immer auch zugleich Flüchtling im Sinn des Unionsrechts und seiner nationalen Umsetzungen sein müsste (EuGH, Nr. 40f.).

Durch dieses Urteil ist die Rechtslage für konvertierte Flüchtlinge entscheidend verbessert, da Konversionen, die erst in Österreich ausgelöst und existentiell vollzogen wurden, nicht mehr unter dem Generalverdacht der missbräuchlichen Erschleichung der Flüchtlingseigenschaft durch einen Folgeantrag stehen

Für das gegenständliche Verfahren ausschlaggebend war die Feststellung, dass die Konversion des Iraners JF auf einer inneren Überzeugung beruht, welche durch das BFA auch festgestellt wurde. Damit freilich ist für zukünftige Verfahren die Frage verbunden, ob die Feststellung der Ernsthaftigkeit durch die staatliche Behörde nicht als technischer Fehler im Verfahren erscheinen kann, bei dessen Vermeidung eine Ablehnung der Flüchtlingseigenschaft auch vor dem Hintergrund des EuGH-Urteils bestandsfest bleibt. Damit ist aber letztlich nur ein weiteres Mal die Frage aufgerissen, nach welchen Kriterien Organe des weltanschaulich-religiös neutralen Staates die Ernsthaftigkeit eines religiösen Bekenntnisses beurteilen sollen.

Anmerkungen

1 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Neufassung). Verbreitet sind auch die Kurzbezeichnungen „Anerkennungs-RL“ bzw. „Qualifikations-RL“.

2 Siehe vorige FN.

3 Vgl. u. a. die Länderberichte zu Christenverfolgungen und den „Weltverfolgungsindex“, URL: https://www.opendoors.de/christenverfolgung/weltverfolgungsindex.

4 Vgl. Art. 2 lit. q RL 2013/32/EU bzw. § 2 Abs. 1 Z. 23 AsylG 2005.

5 Abs. 2: „Die begründete Furcht vor Verfolgung oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, kann auf Aktivitäten des Antragstellers nach Verlassen des Herkunftslandes beruhen, insbesondere wenn die Aktivitäten, auf die er sich stützt, nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung sind.“
Abs. 3: „Unbeschadet der Genfer Flüchtlingskonvention können die Mitgliedstaaten festlegen, dass ein Antragsteller, der einen Folgeantrag stellt, in der Regel nicht als Flüchtling anerkannt wird, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Antragsteller nach Verlassen des Herkunftslandes selbst geschaffen hat.“

6 Die prinzipielle Kompetenz des Staates, asylrechtliche Fragen zu entscheiden, kann nicht mit dem Hinweis, es handle sich um eine „innere Angelegenheit“ der Kirchen und Religionsgesellschaften i. S. v. Art. 15 StGG infrage gestellt werden. Für die Beurteilung der Konversion durch staatliche Organe ist jedoch die Aussage von mit dem Fall vertrauten offiziellen Vertretern der jeweiligen Religionsgesellschaft von besonderer Bedeutung. Vgl. dazu meinen ausführlichen Beitrag: „Gerichtliche Überprüfung von Konversion als religionsrechtliche Herausforderung für den säkularen Staat“, in: Österreichisches Archiv für Recht und Religion 69 (2022), 1–48.

7 Siehe FN 5.

8 So Generalanwalt de la Tour im Schlussantrag vom 15. Juni 2023 (Nr. 4).

Homophobe Äußerungen, ein Bischof und die Grenzen der Meinungsfreiheit. Kurzkommentar zu EGMR 31.08.2023 – 47833/20, Amvrosios-Athanasios Lenis ./. Griechenland

Von Andreas KowatschORCID logo

DOI: 10.25365/phaidra.435

1. Was ist geschehen?

Amvrosios Lenis ist als Metropolit von Kalavryta und Egialia im Norden der Halbinsel Peloponnes einer der höchsten Repräsentanten der Griechisch-Orthodoxen Kirche in Griechenland. Im Dezember 2015 verfasste er anlässlich einer Parlamentsdebatte um die Einführung einer rechtlichen Regelung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften einen Beitrag auf seinem persönlichen Blog mit der Überschrift „Der Bodensatz der Gesellschaft hat seine Häupter erhoben. Seien wir ehrlich: Spuckt auf sie![1]. Homosexualität sei eine Abweichung von den Gesetzen der Natur, ein soziales Verbrechen und eine Sünde. Homosexuelle und jene, die sie unterstützen, seien keine normalen Leute, sondern der Abschaum der Gesellschaft, Menschen mit einer geistigen und spirituellen Störung, auf die man spucken solle. Die Tiraden wurden von mehreren Medien online weiterverbreitet. In einer anschließenden Klarstellung versuchte der Bischof eher halbherzig, seine Aussagen in den Kontext bloßer politischer Kritik an einzelnen Abgeordneten zu stellen. Nach der innerstaatlichen Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe rief der Metropolit den EGMR an und brachte vor, von Griechenland im Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt worden zu sein.

2. Die Zurückweisung der Klage durch den EGMR

Bereits 1976 hatte der Gerichtshof in der Rechtssache „Handyside[2] die zentrale Rolle der Meinungsfreiheit für die Demokratie und die Entwicklung eines jeden Menschen betont. Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit verlangen auch die Freiheit für Äußerungen, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung beleidigen, schockieren oder stören. Ausnahmen müssen daher streng ausgelegt und die Notwendigkeit von Einschränkungen muss überzeugend begründet werden.

An diese Rechtsprechung knüpft der EGMR im vorliegenden Fall an. Gleich im Anschluss an grundsätzliche Aussagen zu Art. 10 EMRK bringt der Gerichtshof Art. 17 EMRK ins Spiel. Dieser Artikel verbietet den Missbrauch der in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen normierten Menschenrechte. Die Berufung auf ein Menschenrecht soll nicht dazu führen, dass dadurch die Grundwerte der EMRK infrage gestellt werden.[3] Als Bestimmung, die Missbräuche verhindern soll, ist Art. 17 EMRK nur in begründeten Ausnahmefällen einschlägig.

Im gesellschaftlichen Diskurs ist der Begriff „Hassrede“ weit verbreitet. Eine weithin akzeptierte rechtliche Definition gibt es dennoch weder im österreichischen noch im internationalen Recht. Allerdings ist nicht zuletzt auf völkerrechtlicher Ebene eine deutliche Tendenz festzustellen, dass neben erzieherischen und integrationsfördernden Maßnahmen zumindest gegen schwere Formen der Hassrede eine strafrechtliche Verfolgung durch die Staaten notwendig ist. Hassrede knüpft an der Zugehörigkeit einer Person zu einer Gruppe an oder wendet sich direkt gegen eine besondere Personengruppe, die sich durch bestimmte Merkmale wie ethnische Herkunft, Religion, sexuelle Orientierung oder Geschlecht abgrenzen lässt. Hassrede trägt stets etwas Gewaltvolles in sich, sei es, dass direkt zur Gewalt angestachelt wird, sei es, dass einzelnen Personengruppen das Menschsein oder die volle Zugehörigkeit zur Gesellschaft abgesprochen wird. In Österreich dient (neben dem VerbotsG 1947) vor allem § 283 StGB (Verhetzung) dazu, öffentlich vorgetragene Hassreden strafrechtlich verfolgen zu können. Daneben sind Beleidigungen als sog. Privatanklagedelikt durch § 115 StGB für strafbar erklärt. Der Tatbestand der Herabwürdigung religiöser Lehren (§ 188 StGB) ist im religiös-weltanschaulich neutralen Staat nicht unumstritten, verbietet in seinem Kern aber ebenfalls bestimmte hasserfüllte Meinungsäußerungen.

Ob es sich bei einer starken und aggressiven Kritik um eine Hassrede handelt, hängt nicht nur von den verwendeten Worten, sondern vom gesamten Kommunikationszusammenhang ab. So floss im Fall Lenis gegen Griechenland in die Entscheidung des EGMR nicht nur die inhaltliche Qualifikation der Äußerungen als Hassrede ein, sondern auch die besondere Rolle des Klägers innerhalb der griechischen Gesellschaft. Ein Metropolit habe die Macht, nicht nur seine eigene Gemeinde, sondern die orthodoxe Mehrheit der griechischen Bevölkerung zu beeinflussen.[4] Auch führt eine Verbreitung im Internet zu einer von vornherein nicht begrenzbaren Zahl von Adressaten, selbst wenn der eigentliche Blog nicht von vielen Usern wahrgenommen wird. Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Ausrichtung wiegen ebenso schwer wie Diskriminierungen aufgrund von „Rasse, Herkunft oder Hautfarbe“.[5]

Der EGMR unterscheidet in seiner Judikatur zwei Formen von Hassrede, für die die Anwendung von Art. 17 EMRK infrage kommt.[6] Die erste Kategorie bilden Hassreden, die zugleich zu konkreter Gewalt anstacheln. Hat der Kläger versucht, sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen, um eine Tätigkeit auszuüben oder Handlungen vorzunehmen (d. h. eine Hassrede zu veröffentlichen), die auf die Zerstörung der in der EMRK verankerten Rechte und Freiheiten abzielen, dann wird die Klage aufgrund der Sache selbst – ratione materiae – zurückgewiesen (Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK). Mit diesem Unzulässigkeitsgrund ist – etwas unpräzise ausgedrückt – die Aussage verknüpft, dass das Klagebegehren von vornherein nicht in den Anwendungsbereich der EMRK fällt.

In die zweite Kategorie fallen alle anderen Meinungsäußerungen, welche als Hassrede einzustufen sind. Auch wer eine solche Hassrede tätigt, kann sich im Ergebnis nicht auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen. Allerdings erfolgt die Prüfung, ob der Gerichtshof überhaupt in die Sachentscheidung eintritt oder die Klage zurückweist, im Rahmen des Art. 10 Abs. 2 EMRK. Ergibt sich unmittelbar, dass ein Eingriff in die Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft im Blick auf die Ziele des Abs. 2 notwendig und verhältnismäßig war, erfolgt eine Zurückweisung aufgrund der „offensichtlichen Unbegründetheit“ der Klage (Art. 35 Abs. 3 [a] und 4 EMRK).

Die Äußerungen des Bischofs wurden vom EGMR der ersten Kategorie zugezählt. Der Metropolit hatte versucht, die Meinungsfreiheit für Zwecke zu verwenden, die den Werten der Konvention zuwiderlaufen.[7] Die Klage wurde folgerichtig ratione materiae zurückgewiesen, womit die rechtliche Feststellung verbunden ist, dass die homophoben Äußerungen von Art. 10 EMRK nicht geschützt sind.

3. Kurzkommentar

Art. 17 EMRK enthält eine besondere Schutzbestimmung, die den Missbrauch von Grundrechten verhindern soll. Die einzelnen Rechte und die EMRK als ganze dürfen nicht so ausgelegt werden, dass eine Handlung geschützt ist, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist. Welche Rechtsfolgen aus dieser Bestimmung folgen, lässt sich allerdings weder nach ihrem Wortlaut noch ihrer systematischen Stellung im Kontext der EMRK genau bestimmen. Rechtsdogmatisch sind zwei unterschiedliche Lösungen möglich, die beide auch vom EGMR angewendet werden. Eine klare Linie der Judikatur fehlt bislang.

Der Missbrauch eines Grundrechts wird am effektivsten eingeschränkt, wenn von vornherein klargestellt wird, dass eine bestimmte Handlung vom betreffenden Grundrecht gar nicht geschützt wird. In juristischer Sprache bedeutet dies dann, dass diese Handlung nicht in den grundrechtlichen Schutzbereich fällt.

Der Missbrauch eines Grundrechts kann aber auch verhindert werden, wenn nicht die Handlung als solche aus dem Schutzbereich fällt, sondern wenn im Einzelfall Eingriffe in das Grundrecht gerechtfertigt sind. In einem ersten Schritt der rechtlichen Bewertung ist die Äußerung dann prinzipiell grundrechtlich geschützt. Auch der Hassredner darf sich hier legitimerweise auf die Meinungsfreiheit berufen. Eine staatliche Reaktion auf die Handlung, etwa in Gestalt einer strafgerichtlichen Verurteilung, stellt daher einen Eingriff ins Grundrecht dar. In einem notwendigen zweiten Schritt ist dann sogleich die Frage zu klären, ob der Eingriff gerechtfertigt war. Gerechtfertigt ist ein Eingriff in die Meinungsfreiheit dann, wenn drei Kriterien erfüllt sind.

Erstens muss der Eingriff aufgrund einer gesetzlichen Grundlage erfolgt sein. Dies korrespondiert in Österreich mit Art. 18 B-VG, der die Ausübung der staatlichen Verwaltung nur auf einer hinreichend klaren (bestimmten) gesetzlichen Grundlage erlaubt. Aus dem Gleichheitssatz der Verfassung (Art. 7 B-VG) folgt nach der Rechtsprechung des VfGH auch ein Verbot staatlicher Willkür.

Die zweite Voraussetzung für die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ist dessen Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Die Notwendigkeit ergibt sich immer erst aus der Verknüpfung mit einem bestimmten legitimen Ziel. Art. 10 Abs. 2 EMRK zählt eine ganze Reihe solcher Ziele auf (nationale oder öffentliche Sicherheit, territoriale Unversehrtheit, Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, Schutz der Gesundheit und der Moral, Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer). Ebenso legitim sind, bei Vorliegen der anderen Voraussetzungen, Eingriffe mit dem Ziel, die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu sichern.

Das dritte Kriterium ist mit der Notwendigkeit verknüpft und gibt ihr ein inneres Maß. Der Eingriff muss in seiner Gesamtheit, d. h. im Blick auf das gewählte Mittel und die Dringlichkeit des Zieles, sowie unter Berücksichtigung aller beteiligten rechtlich geschützten Interessen, verhältnismäßig[8] sein.

Die drei Kriterien bauen aufeinander auf, sodass sich eine Prüfung erübrigt, wenn keine gesetzliche Grundlage vorhanden ist. Fragen der Verhältnismäßigkeit stellen sich nicht, wenn ein Eingriff nicht notwendig ist, weil das Ziel ohne Weiteres auch ohne Beeinträchtigung von durch die EMRK geschützten Rechten erreicht werden kann.

In dieser zweiten Variante vervollständigt das Verbot des Grundrechtsmissbrauchs das Schema der Prüfung der Rechtfertigung. Art. 17 EMRK gibt der Prüfung des zweiten (Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft mit Blick auf ein legitimes Ziel) und dritten (Verhältnismäßigkeit) Kriteriums eine bestimmte Richtung. Liegt der Verdacht auf eine missbräuchliche Ausübung eines Konventionsrechts vor, erübrigt sich die Rechtfertigungsprüfung nicht. Soweit eine Handlung auf die Abschaffung von Grundrechten zielt oder die Berufung auf das Grundrecht diametral den Werten entgegensteht, die durch die Grundrechte eigentlich geschützt werden sollen, ist eine Einschränkung im Einzelfall aber besonders leicht als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ zu begründen. Auch die Verhältnismäßigkeit lässt sich einfacher argumentieren, wenn Art. 17 EMRK erfüllt ist.

Welche Lösung ist nun aber die sachgemäßere? Ein Ausschluss einer missbräuchlichen Handlung aus dem Schutzbereich des betreffenden Grundrechts hat den (scheinbaren?) Vorteil, rasch zu eindeutigen Lösungen zu gelangen. In der Tat ist gegenüber der demokratischen Gesellschaft erklärungsbedürftig, warum totalitäre Äußerungen, Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, maßlose Verspottung religiöser Gefühle mit dem Ziel, Gläubige der Lächerlichkeit preiszugeben oder vorteilsgeschwängerte homophobe Hassrede menschenrechtlich geschützt sein sollten. Der Ausschluss aus dem Schutzbereich ist ein scharfes Schwert in der Hand einer wehrhaften Demokratie, die allen Umtrieben, die direkt gegen sie oder ihre Grundwerte (Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus) gerichtet sind, so von vornherein den rechtlichen Schutz vorenthält. Eine solche Lösung entspricht auf den ersten Blick durchaus auch der Toleranz, die um ihrer selbst willen gegenüber extremen Formen der Intoleranz nicht tolerant sein darf, wenn sie nicht ihre eigenen Grundlagen infrage stellen möchte.

Allerdings bleibt das scharfe Schwert auch in der Hand einer wehrhaften Demokratie das, was es bei nüchterner Betrachtung ist, nämlich eine Waffe. Der Ausschluss bestimmter Handlungen aus dem Anwendungsbereich der Menschenrechte erleichtert nämlich auch eine extensive oder gar willkürliche Berufung auf Art. 17 EMRK bei der innerstaatlichen Normierung einzelner Maßnahmen. Politische Kräfte, welche die Demokratien „illiberalisieren“ wollen, könnten (zumindest innerstaatlich) versuchen, allen möglichen politisch nicht gewollten Meinungen den menschenrechtlichen Schutz zu entziehen. Art. 17 EMRK trägt daher auch das Potential in sich, in das Gegenteil dessen verkehrt zu werden, was die Norm eigentlich erreichen will. Erst im Zusammenhang mit den jeweiligen Grundrechtsschranken ist eine missbräuchliche Anwendung des Missbrauchsverbots verhindert. Der Ausschluss aus dem Schutzbereich eines Menschenrechts führt zum Ausfall der Rechtfertigungsprüfung eines Eingriffs. Insgesamt kann das ein hoher Preis für das verständliche Anliegen, Aufrufe zur Gewalt gegenüber schutzbedürftigen Personengruppen oder extremistische Attacken auf die demokratische Grundordnung möglichst effektiv zu bekämpfen, sein.

Im vorliegenden Fall wäre die Klage jedenfalls zurückgewiesen worden. Der Ausspruch, dass diese angesichts der getätigten hasserfüllten Äußerungen offensichtlich unbegründet ist, hätte ebenfalls keinen Zweifel daran gelassen, dass homophobe Hassrede etwas anderes ist als die werbende Verkündigung für die eigene Religion und ihre Morallehre. Auch wenn die Religionsfreiheit im Fall Lenis gegen Griechenland gar nicht zur Debatte stand, zeigt dieser Fall, dass auch die Berufung auf religiöse Gründe Hassrede nicht legitimiert. Damit begrenzt diese Entscheidung aber nicht die Religionsfreiheit an sich, sondern erleichtert die Abgrenzung von geschützter Religionsausübung und extremistischem Missbrauch von Religion oder Weltanschauung – welcher Provenienz auch immer.

Anmerkungen

[1]   Die Zitate sind eigene Übersetzungen der englischsprachigen Entscheidung des EGMR, 31.08.2023, Amvrosios-Athanasios Lenis ./. Griechenland, no. 47833/20 (dec.), 5. Da es sich um die Übersetzung von bereits Übersetztem handelt, sind sprachliche Ungenauigkeiten nicht auszuschließen.

[2]   EGMR, 07.12.1976, Handyside ./.Vereinigtes Königreich, no. 5493/72.

[3]   Art. 17 EMRK lautet: „Keine Bestimmung dieser Konvention darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in der Konvention vorgesehen, hinzielt.“

[4]   Gem. Art. 3 der Verfassung Griechenlands nimmt die Griechisch-Orthodoxe Kirche als „vorherrschende Religion“ die Rolle einer Staatskirche ein. Versuche in jüngerer Vergangenheit, diesen Status abzuschaffen, waren nicht erfolgreich.

[5]   EMGR, 31.08.2023, Amvrosios-Athanasios Lenis ./.Griechenland, no. 47833/20 (dec.), 53 mit Verweis auf EGMR, 09.02.2012, Vejdeland and Others ./. Sweden, no. 1813/07, 55.

[6]   EGMR, 12.05.2020, Lilliendahl ./. Island (dec.), no. 29297/18, 33.

[7]   EMGR, 31.08.2023, Amvrosios-Athanasios Lenis ./.Griechenland, no. 47833/20 (dec.), 56f.

[8]   Art. 10 Abs. 2 EMKR verwendet den Ausdruck „unentbehrlich“.

Rezension zu: Tilman Schmeller, EuGH und Religionsfreiheit. Zu Grund und Grenzen eines konstitutionellen Momentums in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (= Untersuchungen über Recht und Religion 4), Tübingen: Mohr Siebeck 2023. XIV, 298 Seiten. ISBN 978-3-16-162201-4

Von Harald Tripp.

Tilman Schmeller nimmt sich in seinen Ausführungen – mehr als siebzig Jahre nach Errichtung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg – vor, die Rechtsprechung dieses Gerichtshofes im Blick auf das Grundrecht der Religionsfreiheit auszuloten. Dabei geht er in drei einzelnen Untersuchungen vor, zeichnet in einem ersten Schritt den Hintergrund der Rechtsprechungslinie des Luxemburger Gerichtshofes auf und beschäftigt sich dabei intensiv mit dem Wesen und dem Selbstbild des Gerichts. Im zweiten Schritt analysiert er Urteile umfassend und leitet aus ihnen Muster ab, die eine Befassung des EuGH mit dem Grundrecht der Religionsfreiheit prägen. In einer dritten Untersuchung vermisst Schmeller die allgemeinen Grenzen der EuGH-Judikatur neu und versteht das nationale Religionsrecht als Ausdruck soziokultureller Wahrnehmungen.

Konstitutionelles Momentum

Der Begriff des „konstitutionellen Momentums“ dient dem Autor bei seinen Ausführungen, auf einen wichtigen Umstand in der Entwicklung des EuGH im Blick auf die Religionsfreiheit hinzuweisen. Die Phase ab 2017 stellt dabei eine Bewegungskraft mit einer neuen dynamischen Dimension auf, die für den Autor den Beginn einer neuen Phase in der konstitutionellen Judikatur des EuGH einleitet. Für Schmeller sei in der Geschichte der Europäischen Union feststellbar, dass der europäische Kostitutionalismus in der Rechtsprechung des EuGH seit einigen Jahren in eine neue Phase eingetreten sei, die dadurch gekennzeichnet wäre, dass der Gerichtshof offensiv konstitutionell argumentiere, indem er die Werte des Art. 2 S.1 EUV als verfassungsrechtliche Leitprinzipien immer stärker durch seine Judikatur greifbar mache und dabei zudem eine deutlich wahrnehmbare Grundrechtsprechung ausbilde.

Wertekonstitution

Im ersten Kapitel untersucht Schmeller folglich die Grundrechtsprechung der letzten Jahre in der Judikatur des EuGH und befasst sich vornehmlich mit der Werteordnung der EU als Metaprinzipien ihrer Verfassung sowie der gegenwärtigen Krise der Rechtsstaatlichkeit, die dazu geführt habe, dass es in der Judikatur jüngst eine Zunahme an Werterechtsprechung gegeben hat. Hierbei differenziert der Autor zwischen staatsstrukturellen (Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, mitgliedstaatliche Gleichheit) und grundrechtlichen Werten (Menschenwürde, Menschenrechte, Freiheit, unionsbürgerliche Gleichheit). Nach Meinung des Autors erodiere die Rechtsstaatlichkeit in einigen Ländern der EU, wobei gerade die Werterechtsprechung des EuGH als Übersetzung von Werten in konkrete Ableitungen eine schützende Dimension erhalten würde. Wichtig sei dabei jedoch die Feststellung, dass erst wenn eine einheitliche Auslegung und Anwendung des Unionsrechts nicht nur auf die, sondern auch in den Mitgliedsstaaten sichergestellt ist, von Gleichheit ausgegangen werden kann. Nach Meinung des Autors ginge mit den jüngsten Judikaten des EuGH eine Veränderung einher, wobei die Autonomie des Unionsrechts vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen von EuGH und anderen Gerichten diskutiert wird. An zwei Beispielen zeigt Schmeller auf, dass sich die Einheit und Autonomie des Unionsrechts in sich konsequent gegen verschiedenartig gestaltete Heteronomie von außen abschirme. Demokratiestaatlichkeit sei ein besonderer Wert der EU, daher befasse sich der EuGH bei der Ausgestaltung der Werte mit einzelnen Verfassungsnormen (Rechtsstaatlichkeit), verfassungstheorethischen Figuren (mitgliedstaatliche Gleichheit) sowie mit den Fragen nach den Grundrechten (Demokratie).

Modi der Grundrechtsprechung des EuGH

Im zweiten Kapitel befasst sich Schmeller zunächst mit der stärker als bisher wahrnehmbaren Grundrechtsprechung des EuGH, die nach dem verbindlichen Inkrafttreten der Charta der europäischen Grundrechte im Dezember 2009 erst und gerade in den letzten Jahren eine enorme Entwicklung genommen und einen deutlich höheren Raum in der Judikatur des EuGH eingenommen habe. Für unseren Autor zeige sich hier sehr deutlich, dass die Grundrechtsprechung des EuGH nicht von dem verfassungsrechtlichen Momentum der übrigen Werterechtsprechung losgelöst, sondern mit ihr vielmehr inhaltlich verwandt sei. Historisch habe sich der EuGH hier zu einem Akteur der proaktiven Ausgestaltung grundrechtlicher Dogmatik entwickelt.

Im Folgenden differenziert Schmeller die Grundrechtsprechung des Gerichtshofes anhand der beiden zentralen Modi unionaler Judikatur, der Charta der Grundrechte sowie dem Sekundärrecht bevor er thematische Felder der neueren Grundrechtsprechung sowie eine Bewertung der thematischen Schwerpunktsetzung der neuen unionalen Befassung mit Grundrechten vornimmt. Dabei betont unser Autor die Herausforderung des EuGH auf 27 Rechtssysteme einzugehen und für sich eine komplexe akkulturierende dogmatische Linie schaffen zu müssen. Anlehnen würde sich der EuGH dabei sehr stark an die deutsche Rechtsprechung und an die Tätigkeit des ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Roman Herzog als vormaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, auch im Blick auf das Urteilsschema im Umgang mit den Garantien der Grundrechtecharta in die Prüfungspunkte „Schutzbereich“, „Einschränkung“ und „Rechtfertigung“, wobei dieser letzte Punkt sich wieder in die drei Schritte „Legitimer Zweck“, „Geeignetheit“, „Erforderlichkeit“ und „Verhältnismäßigkeit“ unterteilen lässt. Mit ihrem Sekundärrecht bestimme die EU laut Schmeller weltweite Rechtsstandards, die Ausgestaltung von grundrechtlichen Garantien über dieses Sekundärrecht führe zu einer Verwirklichung und erlebbaren Geltung der Grundrechte weltweit, die laut Feststellung unseres Autors mit der Auseinandersetzung nur über die Grundrechtecharta so nicht möglich wären. Schmeller lotet hier einzelne thematische Felder der EuGH-Judikatur aus, unter denen er vor allem den Bereichen Justizgrundrechte, Antidiskriminierung, Recht auf gute Verwaltung, Datenschutz sowie Berufs- und Unternehmensfreiheit als häufigste Grundrechtsfelder große Bedeutung beimisst und diese entsprechend umfassend analysiert. Im Blick auf das Religionsverfassungsrecht wäre dieses laut Schmeller mittelbar über das Antidiskriminierungs- und Datenschutzrecht sowie über den Zugang zu staatlichen Gerichten als Ausprägung der Justizgrundrechte berührt.

Religionsrechtliche Kompetenz des EuGH

Die wachsenden Spannungen im Verhältnis von Europa- und staatlichem Religionsgemeinschaftsrecht übersteige eine erhöhte Grundrechtsprechung, vielmehr könne laut unserem Autor in Bezugnahme auf Art. 10 Grundrechtecharta eine bemerkenswerte Entwicklung wahrgenommen werden: Von 2017 bis 2021 sind neun Urteile ergangen, in denen sich der EuGH mit Art. 10 Grundrechtecharta befasst, hinzu kommen noch weitere Urteile mit religiösem Hintergrund, die sich im Bereich des Sekundärrechts ohne Bezug auf die Grundrechtecharta entfalten. Somit diagnostiziert Schmeller einen spektakulären Anstieg während der letzten Jahre im Blick auf Urteile, die sich auf die Religionsfreiheit beziehen und er spricht deshalb von einer neuen Phase der EuGH-Grundrechtsprechung seit 2009. Die Religionsfreiheit ist ein komplexer Begriff, der durch die Religionsfreiheit als Individualrecht, einschließlich des forum internum und externum, geschützt wird. Darüber hinaus beinhaltet diese Religionsfreiheit auch eine kollektive Dimension, also ein Recht auf Selbstbestimmung für Religionsgemeinschaften. Dieses Recht ist auch in einigen nationalen Verfassungen ausdrücklich verankert. Und schließlich trägt auch das Antidiskriminierungsrecht zur Religionsfreiheit bei. Die Auslegung und Umsetzung bestehender Gesetze zu den Religionsfreiheiten wird stark von historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst, die in jedem Mitgliedstaat anders sind, ist die EU in dieser Hinsicht eine sehr heterogene Gemeinschaft.

EuGH als „Grundrechtegericht“

Der EuGH entwickle sich laut Darstellung unseres Autors immer mehr zum „Grundrechtegericht“ auf dem Weg von der Wirtschafts- zur Werteunion, vom Wirtschafts- zum Verfassungsgericht. Die Grundrechtsprechung des EuGH setze nach Schmöller Schwerpunkte, nach denen ein bestimmtes Kultur-, ein Wertesystem der EU auszumachen sei, das der Sinn des von dieser Verfassung konstituierten Staatslebens sein soll. Religionsfreiheit umfasse nach Schmeller die Freiheit der Religionsausübung individuell und in Gemeinschaft sowie der Zusammenschluss zu einer dauerhaften Gemeinschaft, die um die korporative Religionsfreiheit (Beschränkung und Förderung religionsrechtlicher Belange) erweitert werden. Das staatliche Religionsgemeinschaftsrecht behandle somit das Recht der korporativen Religionsfreiheit nach unserem Autor als einem von insgesamt vier Teilen des Grundrechts der Religionsfreiheit insgesamt und daraus resultiere, dass sich die Rechtsprechung des EuGH zur Religionsfreiheit als solche zum staatlichen Religionsgemeinschaftsrecht begreifen und analysieren lässt. Nach Schmeller werde die Materie des Religionsgemeinschaftsrechts damit sowohl über mitgliedstaatliche wie auch über unionale Normen als Substrat gebildet und laut unserem Autor über die hierzu ergehende mitgliedstaatliche wie unionale Rechtsprechung als weitere Form der Kompetenzwahrnehmung geprägt. Religionsfreiheit vereine damit rechtlich nicht hierarchisierbare, mithin parallele Kompetenzen, die sich nicht einseitig als national oder unional prägen ließen.

Vier religionsrechtliche Grundsätze der EU

Religionsrecht und Religionspolitik der EU lassen sich grundsätzlich auf vier Grundsätze zurückführen: Achtung mitgliedstaatlicher Systemgestaltung, Dialog mit den Religionsgemeinschaften, Garantie korporativer Religionsfreiheit und die Nichtdiskriminierung aus religiösen Gründen. Schmeller verweist hier in seiner gelungenen Analyse auf die Notwendigkeit der Ausübung unional-legislativer Kompetenz auf dem Gebiet des staatlichen Religionsrechts, dies insbesondere in den Bereichen des Steuerrechts, Baurechts sowie bei Markenschutzbestimmungen, Datenschutz und Wettbewerbsrecht und Antidiskriminierungsrecht (Kirchl. Arbeitsrecht). Diese Bereiche bilden hier wichtige Themenfelder der Reflexion unseres Autors, der sodann einzelne Urteile auf dem Gebiet der individuellen Religionsfreiheit und des staatlichen Religionsrechts durch den EuGH untersucht. Schmeller analysiert einige formale und methodische Zugänge zu den Urteilen und dem Stil der Argumentation sowie einer Gewichtung der Auslegungsmethoden durch den EuGH.

Individuelle Religionsfreiheit

Breiten Raum widmet die Darstellung unseres Autors den tierschutzrechtlichen, migrationsrechtlichen sowie antidiskriminierungsrechtlichen Themenfeldern, welche sich auf die individuelle Sphäre der Religionsgemeinschaft beziehen. Durch Analyse und Vergleich ordnet Schmeller die Materie praktisch, sodass dem Leser durch den Inhalt die einzelnen Urteile veranschaulicht dargestellt und kommentiert werden. Beim Tierschutzrecht sowie beim Migrationsrecht, dem Antidiskriminierungsrecht in den Bereichen Kopftuch am Arbeitsplatz sowie Wahrnehmung der religiösen Feiertage betont der EuGH den gesellschaftlichen Pluralismus und das Erfordernis, ein angemessenes Gleichgewicht und ein Ausgleich herzustellen, wenn die in mehreren Verträgen verankerte Grundrechte und Grundsätze betroffen sind. Hier ließen sich nach Schmeller eben Muster der Rechtsprechung des EuGH ausmachen, indem er der Position individueller Religionsfreiheit insgesamt ein sehr hohes Gewicht zuweist. Dies zeige sich vor allem dabei, dass der EuGH sich bisweilen über das einen schwächeren Schutz forcierende Vorbringen von Verfahrensbeteiligten, Mitgliedstaaten oder Generalanwälten hinwegsetze, nur scheinbar neutrale Regelungen sensibel als Ausstrahlung auf Gehalte individueller Religionsfreiheit reflektiere und das Selbstverständnis des Grundrechtsträgers als Ausgangspunkt seiner Prüfung betonte. Insgesamt zeigt sich aus dem von Schmeller analysierten Material der Urteile neben dem kooperativen Umgang mit den mitgliedstaatlichen religionsrechtlichen Ordnungen und den Gerichten auch eine konsequente Einbindung der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.

Korporative Religionsfreiheit

Schmeller setzt sich in einem weiteren Schritt nun nach der Befassung mit der individuellen Religionsfreiheit mit dem korporativen staatlichen Religionsgemeinschaftsrecht auseinander, wobei er sich in seinen Ausführungen im Detail vor allem auf die Bereiche Wettbewerbsrecht, Datenschutzrecht und Antidiskriminierungsrecht bezieht. Dabei wird Art. 10 Gundrechtecharta hier gar regelmäßig nicht in die Prüfung aufgenommen, es zeigt sich aber im Handeln des EuGH eine hohe Responsativität des Gerichtshofes gerade in den Argumentationen gegenüber den mitgliedsstaatlichen Gerichten und dem EGMR. Der EuGH erfülle damit nach Schmeller nicht nur seine Rolle im europäischen Rechtsprechungsverbund (vgl. Art. 52 Abs 3 Grundrechtecharta), sondern nehme auch auf mitgliedsstaatliche Besonderheiten und das dort individuell austarierte Niveau der korporativen Religionsgemeinschaft Rücksicht.

Grenzbestimmungen und Schranken

Im dritten großen Kapitel befasst sich unser Autor mit dem Verhältnis von mitgliedstaatlichem und Unionsrecht als „Mehrebenenrecht“, wobei unionalem Recht hier auch die Funktion von Grenzbestimmungen zukomme. Aus den Mustern der Urteilsanalysen ergibt sich darüber hinaus, dass der Gerichtshof den Wertungen durch die Mitgliedsstaaten im Rahmen seiner Verpflichtung auf Rechtseinheit, Vorrang und Autonomie des Unionsrechts materiell Rechnung trägt. Grundsätzlich gilt Art 17 Abs. 1 AEUV als Basis zur Achtung des Status, „den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“ Der EuGH behandle diese Norm nach Schmeller kritikwürdig und undurchsichtig, wenngleich sein Umgang mit religionsgemeinschaftlichen Strukturen als Ausdruck mitgliedstaatlicher Eigenheit vor dem Hintergrund des umfassenden unionalen Kontextes verschiedener Positionen, in den jene eingebettet sind, beurteilt werden müsse. Die Schranken der Grundrechtecharta ließen sich dabei in Bezug auf die weitgehend sekundärrechtlich operierende Rechtsprechung des Gerichtshofs nach Meinung Schmöllers kaum aktivieren. In diesem Zusammenhang könne die Klausel des Art. 17 Abs 1. AEUV für sich im komplexen Unionsverfassungssystem keinen Primat beanspruchen und wirke heute bereits im Sinne einer Abwägung in der Rechtsprechung des EuGH.

Grenzen durch die Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts

Es sei zweifellos eine Herausforderung, eine kohärente Rechtsprechung zu entwickeln, die kollidierende Rechte gerecht ausbalanciert und schützt und dabei die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Auffassungen der Mitgliedstaaten von Religionsfreiheit berücksichtigt. Da die Grundrechte von Einzelpersonen, Organisationen und Unternehmen miteinander kollidieren, gebe es zudem keine ideale, perfekte Lösung. Ziel der Arbeit Schmellers war es offensichtlich auch, herauszuarbeiten, wo Spannungen und Konflikte mit den nationalen Rechtsordnungen (hier besonders Deutschland und die Situation des Bundesverfassungsgerichts) grundlegend sind, wo also ein offener Verfassungskonflikt droht und wo umgekehrt nicht. Würde der EuGH dort einen Ermessensspielraum belassen, wo eine nationale Besonderheit einer einheitlichen Auslegung entgegensteht, würde die Stärke der europäischen Rechtsordnung erheblich untergraben. Dies würde nicht nur die Einheitlichkeit, sondern auch die Wirksamkeit der europäischen Rechtsordnung beeinträchtigen. Die Analyse hat gezeigt, dass bei religiösen Symbolen am Arbeitsplatz der margin of appreciation-Ansatz erfolgreich grundlegende Konflikte vermeidet. Aus der Perspektive der europäischen Verfassungsordnung hätte der EuGH sogar eine strengere Prüfung vornehmen können. Obwohl es an einem Konsens zwischen den Mitgliedstaaten mangelt, sei nicht erkennbar, dass ein etwas strengerer Ansatz zu grundlegenden Konflikten geführt hätte. Hinsichtlich der gerichtlichen Überprüfung religiöser Arbeitgeber und ihrer beruflichen Anforderungen wurde deutlich, dass ein wesentlich liberalerer und zurückhaltenderer Ansatz aus Sicht der europäischen Verfassungsordnung wünschenswerter gewesen wäre. Mit seinen Egenberger- und IR/JQ-Urteilen habe der EuGH das Recht auf Rechtsschutz und die individuelle negative Religionsfreiheit gestärkt. Damit hat er jedoch die Verfassungswirklichkeit Deutschlands, Zyperns und letztlich der EU insgesamt verkannt, die nach wie vor auf dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung beruht.

Im Lichte dieser Feststellungen ist zu folgern, dass der EuGH in Fällen, in denen es um religiöse Symbole am Arbeitsplatz geht, eine strengere Kontrolle hätte vornehmen müssen, beispielsweise einen höheren Rechtfertigungsstandard für das Bedürfnis nach Neutralität oder das Bedürfnis des Einzelnen, ein bestimmtes Symbol aufgrund seiner religiösen Überzeugungen zu tragen. Dies würde zu mehr Religionsfreiheit in der EU führen, ohne dass es zu verfassungsrechtlichen Konflikten kommt. In Bezug auf berufliche Anforderungen durch religiöse Arbeitgeber hätte der EuGH mehr Selbstbeschränkung üben und der Justiz der Mitgliedstaaten mehr Spielraum lassen sollen, um einen Verfassungskonflikt zu vermeiden. Dies sei zwar im Hinblick auf die Einheitlichkeit des EU-Rechts und im Hinblick auf den Schutz der negativen Religionsfreiheit und des Rechts auf effektiven Rechtsschutz nicht wünschenswert, trage aber der Komplexität einer supranationalen Rechtsordnung und der darin enthaltenen Rechtsprechung Rechnung.

Ausblick

Tilman Schmellers Untersuchung zeigt uns: Die Religionsfreiheit ist ein wesentliches Merkmal liberaler Demokratien und damit aller Mitgliedstaaten der EU. Einen aktuellen Überblick und eine Einordnung sowie Analyse durchzuführen gelingt dem Autor Tilman Schmeller bei aller gebotenen inhaltlichen Breite. Das Werk ist ansprechend gegliedert und besticht den Leser in den vielen Einzeldetails und Verknüpfungen der Materie und setzt sich damit zum Ziel dieser Monographie, eine jüngere neue dynamische Dimension der Judikatur ausführlich zu analysieren und einzuordnen . Ein umfassend aktualisiertes Literaturverzeichnis lädt den aufmerksamen Leser noch zusätzlich zur Vertiefung der Materie ein. Insgesamt gesehen ist diese Monographie ein sehr nützliches Hilfsmittel für Wissenschaft und Praxis, um das Verständnis der Judikatur und die Entwicklung der Rechtsprechung des EuGH wahrzunehmen und einzuschätzen.

Die prägnante Analyse und sprachliche Raffinesse Schmellers hat jedoch herausgearbeitet, wie der Ausgleich zwischen diesen widerstreitenden Rechten aus der Perspektive der europäischen Verfassungsordnung gefunden werden kann. Die Sensibilität des Themas macht die Rechtsprechung zur Religionsfreiheit in einer supranationalen Gemeinschaft schwierig. Der EuGH sollte jedoch seine Rechtsprechung überdenken; er sollte das Risiko eines Verfassungskonflikts und seiner Folgen ernst nehmen und versuchen, den nationalen Lehrmeinungen entgegenzukommen. Einheitlichkeit ist kein Selbstzweck, vielmehr kann es sich die Europäische Union leisten, kulturelle und historische Unterschiede zu wahren und nationale Verfassungsidentitäten zu respektieren.

Kommentar zu OGH vom 19.12.2022,9 ObA 124/22h

Von Florian Pichler.

DOI: 10.25365/phaidra.396

Bedauerlicherweise sind Diskriminierung (darunter Formen von Mobbing) keine Seltenheit in der Arbeitswelt. Dass jedoch der OGH einen Streit zwischen einem orthodoxen Priester und seinem Bischof aufgrund von zwischenmenschlichem Fehlverhalten im Kontext der priesterlichen „Arbeit“ und dem hierarchischen „Dienstverhältnis“ klären soll, ist eine Seltenheit:

Der Sachverhalt

„Der Kläger steht als Priester im Dienste einer der griechisch-orientalischen (orthodoxen) Kirchengemeinden in Österreich und ist in (…) Pfarrgemeinden (…) im Auftrag des Bischofs tätig. Mit seiner an das Arbeits- und Sozialgericht gerichteten Klage begehrt der Kläger von der Beklagten (…) Schmerzengeld wegen Mobbing durch den Bischof (…). Dem von der Beklagten erhobenen Einwand der Unzulässigkeit des Rechtswegs hielt der Kläger entgegen, dass er mit seinem Begehren einen Anspruch aus dem zwischen den Parteien bestehenden Dienstverhältnis geltend mache, der nicht vom verfassungsrechtlichen Gebot der Freiheit der Religionsausübung umfasst sei (9ObA124/22h)“.

Der Kläger behauptet gegenüber dem Arbeitsgericht, dass sein zuständiger orthodoxer Bischof „ihn (…) mehrfach übergangen und öffentlich schlecht gemacht, nicht zu einem Treffen aller Priester in Österreich eingeladen und die Versetzung des Klägers beabsichtigt und angeordnet habe.“

Der Sachverhalt gibt Einblick in ein tiefes Zerwürfnis zwischen einem Priester und seinem Bischof in der Orthodoxen Kirche. Es mag daher verständlich sein, dass er sich im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit, die er als seine „Arbeit“/seinen „Beruf“ empfindet, an die staatlichen Gerichte wendet und versucht gegen das betreffende Verhalten seines Vorgesetzen vorzugehen. Den subjektiven Anspruch des einzelnen Rechtsunterworfenen (Bürger:in) auf Entscheidung eines Rechtsstreits durch staatliche Organe bezeichnet man als Justizgewährungsanspruch (vgl. Kowatsch, in Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp, 111 Begriffe des österr. Religionsrecht 2022, 193–196). Der einzelne hat Anspruch darauf, dass sein Rechtsstreit von einem staatlichen Gericht beurteilt wird.

Nicht immer:

Zwar zählt das Rechtsschutzprinzip zu den Rechtsprinzipien und Baugesetzen der demokratischen Republik, jedoch gibt es explizit Bereiche, in denen sich nicht nur der staatliche Gesetzgeber, sondern auch die richterliche Gewalt nicht einmischen (vgl. hierzu spezifisch OrthodoxenG 1967 StF: BGBl. Nr. 229/1967 idgF BGBl. I Nr. 68/2011). Dies an der Abgrenzung der inneren Angelegenheiten von den äußeren Rechtsverhältnissen (vgl. Potz, in: Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp, 111 Begriffe des österr. Religionsrechts, 173–176; Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (2003), 65-70, 272–301) bzw. dort, wo der Staat eine Schranke durch die „allgemeinen Staatsgesetze“ (Vgl. Art. 15 StGG) setzt und die inneren Angelegenheiten dadurch einschränkt.

Innere Angelegenheiten sind jene Regelungstatbestände, die der Staat aufgrund der Selbstorganisation der Kirchen und Religionsgesellschaften nicht antasten darf. Sie regeln diese autonom. Art. 9 EMRK bzw. Art. 15 StGG sichern diese inneren Angelegenheiten verfassungsrechtlich vor einer staatlich-gesetzlichen Regelung und auch vor einer staatlich-richterlichen Beurteilung. Sie zu schützen oder einzuschränken ist Aufgabe des Rechtstaates (vgl. Korinek, zu Art. 9 EMRK, in: Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Rnn. 8–12; Muzak, Art 9 MRK [Stand 1.10.2020, rdb.at], Rn. 9).

Diesem Grundsatz folgt der arbeitsrechtliche Senat des OGH in seiner rechtlichen Beurteilung:

„Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass der Staat und damit die weltlichen Gerichte in den innerkirchlichen Bereich nicht eingreifen dürfen, sodass der Rechtsweg in solchen Angelegenheiten unzulässig ist (Art 15 StGG (…) Zu den „inneren Angelegenheiten“ im Sinne des Art 15 StGG zählen jene, welche den inneren Kern der kirchlichen Betätigung betreffen und in denen ohne Autonomie die Religionsgesellschaften in der Verkündung der von ihnen gelehrten Heilswahrheiten und der praktischen Ausübung ihrer Glaubenssätze eingeschränkt wären. Der sich daraus ergebende Bereich der inneren Angelegenheiten kann naturgemäß nicht erschöpfend aufgezählt werden (…). Im Hinblick auf die Weite der Autonomiegarantie des Art 15 StGG sind auch die Arbeitsverhältnisse derjenigen Personen, die mit inneren Angelegenheiten befasst sind, konsequenterweise Teil der inneren Angelegenheiten (…). Auch bei Dienstrechtsstreitigkeiten scheiden daher aus der Beurteilung durch das Gericht alle Vorfragen aus, welche etwa die Rechtsgültigkeit der Amtsenthebung, der Pensionierung, der Disziplinarstrafen, einer Versetzung oder die Änderung der kirchlichen Organisation und die damit verbundene Auflassung von Pfarren etc. betreffen.“

Mitarbeiter:innen des Bischofs: Laien und Kleriker, Arbeitnehmer:innen und Unterhaltsempfänger

Bei der Lektüre des Urteils ist es notwendig, drei innere Angelegenheiten etwas näher zu beleuchten. Selbst unter den christlichen (vor- und insb. nachreformatorischen) Kirchen gibt es deutliche Unterschiede bei der Wahl der Lebensform, des Arbeits- bzw. Tätigkeitsverhältnisses zum kirchlichen Arbeits- oder Unterhaltsgeber und den innerkirchlichen Gerichten, die solche Streitfragen zu lösen haben:

1. Innere Angelegenheit: Das religiöse Angebot der Lebensformen:

In den vorreformatorischen Kirchen herrscht bis heute eine Standestrennung vor, die Gläubige in zwei bis drei große Gruppen aufteilt: Die einen werden Laien genannt, die anderen sind aufgrund besonderer Gelübde in den Lebensstand der Kleriker und/oder der Ordensleute eingetreten. Alle sind durch die Taufe zu Mitgliedern der Kirche geworden. Im Laufe ihres religiösen Lebens entscheiden sie sich, einer bestimmten religiösen Standesgruppe anzugehören und besondere religiöse Tätigkeiten zu übernehmen. Meistens treten Männer durch Weihen in den Klerikerstand ein. Männer und Frauen versprechen dauerhaft, sich an eine Ordensgemeinschaft zu binden oder eine besondere religiöse Lebensform zu wählen und werden dadurch zu Ordensmitgliedern und Rätechristen. Im überwiegenden Fall leben Kleriker und Ordensangehörige zölibatär.

Die drei klassischen consilia evangelica finden sich im Matthäusevangelium: Mt 19,12 fordert die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen; Mt 19,12 fordert die Gütergemeinschaft im Ordensverband (Klostergemeinschaft) bzw. die Entsagung von übermäßigem Verlangen nach irdischen Gütern und Mt 20,26 fordert die Unterordnung in ein hierarchisches Gefüge im klösterlichen Verband oder gegenüber dem Bischof. Dies sind freiwillig übernommene Regeln für ein gelingendes religiöses Leben in einem besonderen religiösen Lebenstand. Diese zu regeln ist Kernaufgabe der inneren Angelegenheiten (in der Katholischen Kirche insb. c. 573 CIC, vgl. Meier, Gelübde, in: Meier, Kandler-Mayr, Kandler, 100 Begriffe aus dem Ordensrecht (2014),197–200).

2. Innere Angelegenheit: Das Anstellungs- bzw. Tätigkeitsverhältnis

Die überwiegende Anzahl der kirchlichen Mitarbeiter:innen steht heute in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis (etwa nach dem AngestelltenG) zu ihrem kirchlichen Dienstgeber. Im Regelfall sind diese der Gruppe der Laien innerhalb der jeweiligen Kirche zuzuordnen.

Ihr Gegenüber steht die besondere Personengruppe, die durch die Kirche (oder den Bischof) unterhalten werden. Sie empfangen keinen Lohn für ihre verrichtete Tätigkeit, sondern einen Unterhalt. Dieser Unterhalt wird Sustentation (vgl. Kowatsch, in 111-Begriffe, 317–320) genannt. Das Unterhaltsverhältnis ist kein Arbeitsverhältnis. Es wird innerhalb der meisten Kirchen als Inkardination (Ins-Herz-Schließen) bezeichnet. Die Verpflichtungen seitens des Unterhaltsgebers sind umfassender als bei einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis. Eine Kündigung gibt es nicht, der Ausschluss ist an strenge innerkirchliche Normen und Verfahren gebunden. Die Unterhaltshöhen variieren nach den Bedürfnissen der Inkardinierten (Unterhaltssumme, Ausbildung, Versicherungen, besondere Aufwände). Klassisch übernimmt der Inkardinationsträger auch die Versorgung im Alter und in Krankheit ohne zeitliche Begrenzung, denn er zahlt im Regelfall nicht in das staatliche Pensionssystem ein. Inkardiniert werden Kleriker von ihrem Bischof oder Ordensgeistliche von ihrem Ordensoberen. Sollte jemand den Inkardinationsverband verlassen, hat der kirchliche Unterhaltsgeber verschiedenen Pflichten nachzukommen, um derjenigen Person einen geregelten Start in der Arbeitswelt (inklusive Sozial- und Pensionssystem) außerhalb eines Inkardinationsverhältnis zu ermöglichen (§§ 4 (1) Z. 13, aber 5 (1) Z. 7 und § 314 ASVG, weiters Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 132 ArbVG Rz. 58).

Im betreffenden Fall ist der orthodoxe Priester (Pfarrer ist sein Verwendungszweck innerhalb der orthodoxen Kirche) inkardiniert und kein Arbeitnehmer in einem Dienstverhältnis nach staatlichem Recht. Er wird von seinem Bischof unterhalten und übt die Seelsorge – eine typische innere Angelegenheit von Kirchen und Religionsgesellschaften – als geistlicher Amtsträger im Auftrag des Bischofs aus. Nicht jeder Priester ist Pfarrer, aber jeder Pfarrer ist Priester. Beide sind jedoch Inkardinierte und unterstehen der religiösen Autorität, die zumeist Bischof genannt wird, der sie unterhält. Sie sind aber nicht durch einen Arbeitsvertrag an die religiöse Autorität gebunden.

3. Innere Angelegenheit: Die kirchenrechtliche Beurteilung von Streitigkeiten zwischen Inkardinierten und Inkardinationsbischof

Betont werden muss, dass Mobbing (bzw. Diskriminierung) zwischenmenschlich in keinem Arbeits- und keinem Inkardinationsverhältnis tolerabel ist. Im Arbeitsrecht ist dafür § 1 (1) Z. 1 GlBG einschlägig. Es gilt für „Arbeitsverhältnisse aller Art, die auf privatrechtlichem Vertrag beruhen“. Neben dieser Bestimmung sind Regeln der Moral, der Sitte oder religiöse Normen (grundlegend für Christen die Goldene Regel nach Mt 7,12 „Was Du nicht willst, das man Dir tut, …“) besonders für kirchliche Autoritäten Handlungsleitlinien, Gebote und religiös Verbindliches, gegen das ihre Verantwortungsträger:innen nicht verstoßen sollten. Nach § 17 (1) Z. 6 GlBG ist eine Belästigung (Mobbing) ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgesetz und wird als Diskriminierung betrachtet. Nach § 21 (2) Z. 1–3 GlBG liegt eine Diskriminierung nach § 17 auch vor, wenn die „Würde der betroffenen Person verletzt oder dies bezweckt“ wird oder der Arbeitgeber eine Verhaltensweise setzt, „die für die betroffene Person unerwünscht, unangebracht oder anstößig ist und (…) die ein einschüchterndes, feindseliges, entwürdigendes, beleidigendes oder demütigendes Umfeld für die betroffene Person schafft oder dies bezweckt.“

Nun beruht jedoch das Verhältnis dieses inkardinierten Priesters, der von seinem Bischof mit der Seelsorge und Leitung der orthodoxen Pfarren beauftragt wurde, nicht einem privatrechtlichen Vertrag, sondern einem Verhältnis sui generis, das zu den inneren Angelegenheiten nach Art. 15 StGG zählt. Er ist inkardinierter Unterhaltsempfänger und übt die Tätigkeit des Pfarrers aus, auf welche das GlBG nicht zutrifft. Dies ist die Quintessenz des OGH-Erkenntnisses.

Exkurs: Mobbing und Diskriminierung von kirchlichen Mitarbeiter:innen im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis

Angenommen es würde sich beim vorliegenden Sachverhalt um einen kirchlichen Mitarbeiter mit privatrechtlichem Anstellungsverhältnis handeln, wären einige Sondernormen des GlBG zu beachten: § 20 (1–2) GlBG enthält Ausnahmen in Bezug auf Merkmale der Religion und die geforderte Lebensform:

§ 20 (1) leg. cit: „Bei Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals“ nach „§ 17 genannten Diskriminierungsgründe steht, liegt keine Diskriminierung vor, wenn das betreffende Merkmal auf Grund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung darstellt (…). (2) Eine Diskriminierung auf Grund der Religion oder Weltanschauung liegt in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen (…), deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, nicht vor, wenn die Religion (…) dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“

Auch kirchliche Angestellte in privatrechtlichen Anstellungsverhältnissen (bsp.weise nach dem AngG) unterliegen den betreffenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen des GlBG nicht vollumfänglich. Gegen „Belästigungen“ iSv § 21 (1–4) GlBG können kirchliche Mitarbeiter:innen im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis den staatlichen Rechtsweg einschlagen. Sie ist eine Diskriminierung nach § 17 GlBG. Jedoch sind nicht alle in § 17 BlBG festgehaltenen Diskriminierungstatbestände auf Mitarbeiter:innen von Kirchen und Religionsgesellschaften anzuwenden.

Durch § 20 (1) GlBG ist es zulässig „wegen eines Merkmals (…)“ Arbeitnehmer:innen anders zu behandeln und ihn sie vom (rechtlichen) Vorwurf der Diskriminierung insbesondere im Hinblick auf ihren beruflichen Aufstieg und ihre Anstellung und Entlassung (§ 17 (1) Z. 1,5 und 7 GlBG) anders zu behandeln. Religionsgesellschaften (darunter diese orthodoxe Kirche) sind dabei als Tendenzbetriebe Arbeitgeber, die von ihren Arbeitnehmer:innen besondere Loyalitätspflichten und auch eine bestimmte private Lebensform fordern dürfen, wenn die „Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation“ darstellt. Hierzu sind beispielsweise Religionslehrer:innen oder leitende Angestellte der kirchlichen Verwaltung – u. a. auch Chefärzt:innen in kirchlichen Krankenhäuser (vgl. Fall Egenberger in Deutschland) – zu nennen. Der kirchliche Arbeitgeber ist ebenso frei, die Arbeitnehmer:innen mit unterschiedlich strengen Loyalitätspflichten zu beurteilen.

Fazit

Auf diese Details der Diskriminierungsbestimmungen gemäß GlBG nimmt der OGH bereits keine Rücksicht in seiner Entscheidung, weil er die Beurteilung des Umgangs zwischen Über- und Untergeordneten im Inkardinationsverband als innere Angelegenheit nicht beurteilt, wertet oder kontrolliert. Die Beschwerde des orthodoxen Pfarrers richtet sich „in Wahrheit gegen die inhaltliche Begründetheit“. Die „Äußerungen und Handlungen des Bischofs in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner priesterlichen Tätigkeit“ sind nicht zu beanstanden, da sie „zu diesem innerkirchlichen Bereich“ gehören. Für solche Streitigkeiten haben die meisten Kirchen innerkirchliche Gerichte und Schiedsinstanzen eingerichtet.

Auch der Vorbehalt nach Art. 15 StGG, wonach jede religiöse Autorität bei der Regelung der inneren Angelegenheiten den „allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen“ ist, und daher dem GlBG unterworfen sei, greift nicht. Der Staat kann die Regelungsfreiheit der inneren Angelegenheiten (Art. 9 EMRK/Art. 15 StGG) durch die allgemeinen Staatsgesetze nicht beliebig einschränken. Ansonsten würde eine Fülle von Einzelgesetzesbestimmungen die verfassungsgesetzlich gewährte Autonomie in den inneren Angelegenheiten unterlaufen. Gerade im GlBG nimmt er auf den autonomen Kern der inneren Angelegenheiten Rücksicht, zu diesem gehört die Übertragung eines geistliches Amtes (Pfarramt) und die Aufnahme oder Beendigung in den Inkardinationsverband (Aufnahme in den Klerikerstand/Priesterweihe), aber auch das privatrechtliche Arbeitsverhältnis kirchlicher Mitarbeiter:innen (ohne Inkardination, ohne Weihe). Er trifft Ausnahmebestimmungen zugunsten der verfassungsrechtlich geschützten inneren Angelegenheiten.

Das österreichische Religionsrecht vor Gericht. Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache C‑372/21 vom 2. Februar 2023

Von Andreas Kowatsch.

DOI: 10.25365/phaidra.395

1. Einführung

Besonderheiten des Europarechts

Mit der Mitgliedschaft in der EU ist die Verpflichtung der Staaten verbunden, alle Maßnahmen zu unterlassen, durch die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährdet werden könnte (vgl. Art. 4 Abs. 3 EU-V). Bereits seit den frühen 1960er-Jahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwei Wirkungen des Gemeinschaftsrechts (jetzt: Unionsrechts) herausgearbeitet, die die Wirksamkeit dieser „supranationalen“ Rechtsordnung gewährleisten sollen. Die „unmittelbaren Anwendbarkeit“ des Unionsrechts bedeutet, dass unter bestimmten Voraussetzungen (etwa im Fall einer Verordnung oder einer nicht ausreichend oder fristgerecht ins nationale Recht umgesetzten Richtlinie) das Unionsrecht unmittelbar für die Bürger:innen Rechte begründet. Im klassischen Völkerrecht haben im Normalfall nur die Staaten gegeneinander Rechtsansprüche. Die zweite Wirkung ist der „Anwendungsvorrang“, den die Rechtsakte der Union, die deren Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassen haben, gegenüber dem gesamten nationalen Recht genießen. Auch nationales Verfassungsrecht darf im Konfliktfall mit gegenteiligem Unionsrecht nicht angewendet werden. Für die Wirksamkeit des Beitritts Österreichs im Jahr 1996 war vor allem deshalb auch zwingend eine Volksabstimmung durchzuführen, da der Vorrang des Europarechts, das (immer noch) eine geringere demokratische Legitimation als das nationale Recht hat, zu einer sogenannten „Gesamtänderung“ des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes (vgl. Art. 44 Abs. 3 B-VG) geführt hat. In einigen Staaten vertreten Lehre und Rechtsprechung die Ansicht, dass der Anwendungsvorrang dann nicht gilt, wenn die EU völlig außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt haben sollte („ultra vires“) oder EU-Recht die „nationale Verfassungsidentität“ in erheblicher Weise gefährden würde (vgl. Art. 4 Abs. 2 EU-V).

Ein „EU-Religionsrecht“?

Mit der Frage der Verfassungsidentität hängt auch das System der rechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften zusammen. Die EU verfügt über keine Kompetenz, ein eigenes Religionsverfassungsrecht zu normieren. Allerdings betreffen mittlerweile sehr viele Bereiche, in denen die Union kompetent ist, Rechtsnormen zu erlassen, indirekt die Rechtsstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten. Das arbeitsrechtliche Antidiskriminierungsrecht würde das grundrechtlich gesicherte Selbstbestimmungsrecht (vgl. Art. 9 EMRK, Art. 10 der Charta der Grundrecht der EU-GRC) völlig aushöhlen, wenn die Religionsgemeinschaften bei der Auswahl ihrer Mitarbeiter:innen nicht nach der Religionszugehörigkeit differenzieren dürften. Sehr eng gefasste Ausnahmebestimmungen verhindern, dass dies geschieht, sichern aber auch einen möglichst weitgehenden Diskriminierungsschutz. Ein anderes Beispiel ist das Datenschutzrecht, das in den letzten Jahren immer dichter geregelt worden ist. Ohne bestimmte Ausnahmen zugunsten der Religionsgemeinschaften würden bestimmte nationale Systeme der Kirchenfinanzierung (z. B. die im deutschen Grundgesetz garantierte Kirchensteuer) zusammenbrechen. Auch hier sind die Ausnahmen aber sehr eng gefasst. Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich durch die vielfältigen Auswirkungen von Normen, die an sich mit den Religionen nichts zu tun haben, eine Art „EU-Religionsrecht“ entwickelt hat.

Um das Bewusstsein für diese Entwicklung zu schärfen, haben Religionsvertreter anlässlich der Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam 1997 erreichen können, dass diesem eine Erklärung über den Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten angefügt wurde. Diese politische Erklärung wurde dann anlässlich der großen Reform der EU durch den Vertrag von Lissabon 2007 (in Kraft getreten 2009) in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) als dessen Artikel 17 aufgenommen und ist damit Bestandteil des sogenannten „Primärrechts“. An dieser höchsten Rechtsschicht müssen sich alle anderen Normen der EU messen lassen. In diesem Artikel bekennt sich die Union zu einem institutionalisierten ständigen Dialog mit den Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften. Für die Frage der Abgrenzung von staatlichen und europäischen Kompetenzen wichtig sind die Absätze 1 und 2. Absatz 1 lautet: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“[1]

Da sowohl von einer „Achtung des Status“ die Rede ist, als auch die Verpflichtung, diesen „nicht zu beeinträchtigen“, festgehalten wird, sichert Art. 17 AEUV die nationalen religionsrechtlichen Systeme primärrechtlich ab. Nicht jede Auswirkung auf staatliche Normen, die die Religionen betreffen, ist dadurch aber verboten. Eine solche Lesart würde den Zielen des Europarechts diametral entgegenstehen. Verboten sind aber Rechtsakte, die das Staat-Kirche-Verhältnis in einem Staat erheblich verschieben würden. Dazu fehlt der EU die Kompetenz. Die Frage, ob ein Gemeinwesen auf einer ausgrenzend-laizistischen Verhältnisbestimmung zu den Religionen aufbaut oder ob wie in Österreich ein verfassungsrechtliches Konzept einer kooperativen Hereinnahme vor allem der anerkannten Religionsgesellschaften in die staatliche Öffentlichkeit vorherrscht, ist Teil der nationalen Verfassungsidentität und ausschließlich von den Mitgliedstaaten zu bestimmen. Sogar die vorherrschende Stellung einer Staatskirche (wie in Griechenland, Malta oder Dänemark) ist mit den Grundprinzipien der EU vereinbar.

2. Das Vorabentscheidungsverfahren C-372/21

Was war geschehen?

Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten ist in Deutschland der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen worden. Anders als in Österreich beruht dieser Status nicht auf einer gesetzlichen Anerkennung, die an strenge Kriterien geknüpft ist. Ausreichend ist, dass eine Religionsgemeinschaft durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten kann (so Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Reichsverfassung von 1919; durch Art. 140 GG wurden die „Kirchenartikel“ der WRV Bestandteile des GG). Das Bundesverfassungsgericht verlangt Rechtstreue als weiteres, ungeschriebenes Kriterium.

In Österreich genießen die „gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften“ (KuR) ebenfalls öffentlich-rechtlichen Status, wobei im Einzelfall die damit verbundenen Rechte umstritten sind. Um den Status einer KuR zu erlangen, normiert das Anerkennungsrecht (im AnerkG von 1874 und in § 11 BekGG) strenge Voraussetzungen. So muss eine positive Grundeinstellung gegenüber dem Staat und der Gesellschaft vorhanden sein. Die Gemeinschaft muss bereits eine längere Zeit in Österreich bestehen, über eine Mindestanzahl von Gläubigen (2 Promille der österreichischen Bevölkerung) verfügen und muss sich eine Verfassung geben, die dem Staat gegenüber verbindlich die vertretungsbefugten Personen erkennen lässt und die Abgrenzung von anderen KuR erlaubt. In Österreich ist die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten seit 1998 eine staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft, nicht aber eine KuR.

Die deutschen Adventisten haben gegen die Bildungsdirektion für Vorarlberg geklagt, weil diese den Antrag auf Subventionierung einer als kombinierten Grund- und Mittelschule[2] geführten Bildungseinrichtung, die von dieser Religionsgemeinschaft als „konfessionelle Schule“ anerkannt und von ihr unterstützt wird, abgewiesen hatte. Die Schule wird von einem österreichischen Verein betrieben.

Gem. § 17 Abs. 1 PrivatschulG hat der Staat den KuR „für die mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten konfessionellen Privatschulen“ Subventionen zum Personalaufwand zu gewähren. Abs. 2 bestimmt, dass unter einer konfessionellen Privatschule eine von einer KuR unmittelbar oder durch eine ihrer Einrichtungen erhaltenen Schule zu verstehen ist. Wenn eine Schule von Vereinen, Stiftungen und Fonds erhalten werden, kann die zuständige religionsgesellschaftliche Oberbehörde diese Schule als konfessionelle Privatschule anerkennen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes können demnach nur die anerkannten KuR Subventionen für den Personalaufwand ihrer konfessionellen Privatschulen erhalten.

Die Siebenten-Tags-Adventisten sahen darin eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit als einer der Grundfreiheiten des Unionsrechts (vgl. Art. 56 AUEV) und erhoben Klage vor dem österreichischen Bundesverwaltungsgericht. Dieses wies die Klage ab, da das Unionsrecht Österreich nicht verpflichte, eine zuvor in einem anderen Mitgliedstaat anerkannte Kirche oder Religionsgesellschaft anzuerkennen. Auch eine solche Religionsgemeinschaft müsse daher nach dem österreichischen Recht als KuR anerkannt sein, um sich auf § 17 PrivatschulG berufen zu können.[3] Dagegen erhoben die Adventisten Revision an den VwGH. Dieser unterbrach sein Verfahren und stellte an den EuGH ein Ersuchen um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV.[4] Das Vorabentscheidungsverfahren ist eines der wichtigsten Instrumente, um das EU-Recht mit den nationalen Rechtsordnungen zu koordinieren. Um die Einheitlichkeit des Europarechts zu sichern, entscheidet allein der EuGH über strittige Auslegungen der Verträge. Letztinstanzliche nationale Gerichte sind verpflichtet, den EuGH um Vorabentscheidung anzurufen, wenn die Klärung Frage für das jeweilige Verfahren erforderlich ist. Unterinstanzliche Gerichte sind dazu berechtigt.

Der VwGH erläuterte in seinem Ersuchen, warum ausschließlich die KuR für konfessionelle Privatschulen Subventionierungen des Personals erhalten können: KuR seien Körperschaften des öffentlichen Rechts, die über besondere Rechte verfügten und Aufgaben, u. a. im Bereich der Bildung, erfüllten, wodurch sie am staatlichen öffentlichen Leben teilnähmen.[5] Die Union müsse aufgrund Art. 17 AUEV hinsichtlich der Beziehungen zwischen einem Mitgliedstaat und den Religionsgemeinschaften neutral bleiben. Konfessionelle Privatschulen der KuR, die in Österreich hinreichend vertreten sind, ergänzen das öffentliche Schulwesen. Den Eltern soll die Wahl einer Erziehung, die ihrer religiösen Auffassung entspricht, erleichtert werden.[6]

Die Lösung der Frage hing nicht nur davon ab, ob das Unionsrecht überhaupt anwendbar ist, wenn es sich um eine Frage der grundlegenden religionsrechtlichen Normen (wie dem österreichischen Anerkennungsrecht) handelt. Die Tätigkeit der privaten Bildungseinrichtung musste auch eine wirtschaftlich relevante Erbringung von Dienstleistungen darstellen.[7] Würden die Subventionen gewährt werden, erfolgte die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln, sodass dann keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr vorläge.

Die Entscheidung des EuGH

Nachdem der Generalanwalt seine Stellungnahme abgegeben hatte,[8] erging am 2. Februar 2023 das Urteil. Die dritte Kammer des EuGH führt aus, dass Art. 17 Abs. 1 AEUV die EU in der Frage, wie die Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften gestalten, neutral bleiben müsse. Dadurch würden aber religiöse Tätigkeiten nicht grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich des Unionsrechts herausgenommen. Dies gelte insbesondere dann, wenn die Tätigkeit in der Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt auf einem bestimmten Markt bestehe, wie es bei privat finanzierten Bildungseinrichtungen regelmäßig der Fall ist.[9]

Die Schule, für die die Adventisten Subventionen beantragt hat, wird nicht durch öffentliche Mittel finanziert. Sie übt daher wirtschaftliche Tätigkeiten aus. Für die Anwendbarkeit des Unionsrechts sei es unerheblich, so der EuGH, dass eine zukünftige Subventionierung dazu führen würde, dass keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr vorläge. Da die Bildungseinrichtung nicht direkt von den deutschen Adventisten, sondern von einem österreichischen Verein betrieben wird, handle es sich jedoch nicht um eine Frage der Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 AEUV, sondern betrifft mit der in Art. 49 AUEV garantierten Niederlassungsfreiheit eine andere europäische Grundfreiheit.[10] Zudem gelte der Grundsatz des Verbots der Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Dieser verbiete nicht nur offensichtliche Diskriminierungen, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung.[11]

Wendet man diese grundsätzlichen Gedanken auf den Sachverhalt an, dann steht fest, dass der Antrag auf Subventionierung einer konfessionellen Privatschule nur den in Österreich bestehenden und nach dem österreichischen Recht gesetzlich anerkannten KuR offensteht, wodurch die Niederlassungsfreiheit eingeschränkt wird. Zudem erschweren die Voraussetzungen für die gesetzliche Anerkennung, dass bislang nicht in Österreich wirkende Religionsgemeinschaften überhaupt anerkannt werden könnten. Jedenfalls fällt dies in Österreich bereits ansässigen Gemeinschaften ungleich leichter: „Diese Voraussetzungen sind also geeignet, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Kirchen und Religionsgesellschaften zu benachteiligen, die in Österreich ansässige private Bildungseinrichtungen als konfessionelle Schulen anerkennen und unterstützen.“[12]

Das grundsätzliche Verbot, die Niederlassungsfreiheit einzuschränken, wird allerdings von einigen Ausnahmen durchbrochen. So gelten die entsprechenden Bestimmungen nicht für Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (vgl. Art. 51 AEUV). So können Richter:innen sich beispielsweise nicht unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat auf das Richteramt bewerben. Staatliche Sonderregelungen für Ausländer sind nicht absolut verboten. Sie müssen allerdings aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein (vgl. Art. 52 AEUV). Dies ist auch dann der Fall, wenn ein zwingender Grund des Allgemeininteresses eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt, solange die unterscheidenden Maßnahmen verhältnismäßig sind. Diese müssen geeignet sein, „die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist.“[13]

Daher hatte der Gerichtshof zu prüfen, ob im konkreten Fall die unterschiedliche Behandlung von nach dem österreichischen Recht anerkannten KuR und anderen Religionsgemeinschaften gerechtfertigt ist. Innerstaatlich ist es ständige Rechtsprechung des VfGH, dass gegen unterschiedliche Kategorien der rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, da die österreichische Verfassung in Art. 15 StGG diese Unterscheidung enthalte.[14]

Die Subventionierung von anerkannten KuR im Bildungsbereich (ebenso wie im Gesundheitsbereich) hängt damit zusammen, dass diese zum Wohlergehen von Menschen beitragen. Mit dem öffentlich-rechtlichen Status sind auch Pflichten verbunden, zu denen nach herrschender Auffassung auch die Erteilung des Religionsunterrichts zählt.[15] Den Eltern es tatsächlich zu ermöglichen, eine Erziehung ihrer Kinder zu wählen, die ihren religiösen Überzeugungen entspricht, kann ein legitimes Ziel sein, das der nationale Gesetzgeber verfolgt. Maßnahmen zur Sicherstellung eines hohen Ausbildungsstandards können, so der EuGH unter Verweis auf seine eigene Judikatur, einen „zwingenden Grund des Allgemeininteresses“ bilden.[16] Ob dies im konkreten Fall erfüllt ist, muss der VwGH entscheiden, da nicht der EuGH, sondern die nationalen Gerichte für die Interpretation und die Anwendung des nationalen Rechts zuständig sind. Da diese Beurteilung aber im Licht der unionsrechtlichen Vorgaben erfolgen muss, sieht sich der EuGH ermächtigt, den nationalen Gerichten bestimmte Hinweise zu geben.

In diesem Sinn hebt der EuGH folgende Merkmale des österreichischen Religionsrechts hervor:

  1. Die Anerkennung als KuR setzt eine gewisse Größe voraus, die es erlaubt, dass Tätigkeiten entfaltet werden, die sich nicht allein auf die eigenen Mitglieder beschränken.
  2. Wenn der Staat Schulen subventioniert, muss sichergestellt sein, dass diese „einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ansprechen, der dieses Bildungsangebot wählen kann, das das von den öffentlichen Schulen angebotene ergänzt.“[17]

Die Beschränkung des § 17 PrivatschulG scheint dem EuGH daher „nicht unangemessen“ zu sein, um es den Eltern zu ermöglichen, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder im Rahmen eines qualitativ hochwertigen interkonfessionellen Unterrichts zu wählen.[18]

Auswirkungen auf das österreichische Anerkennungsrecht?

Für das österreichische Religionsrecht am interessantesten sind die abschließenden Überlegungen des EuGH. Da Art. 17 Abs. 1 AEUV die EU verpflichtet, den Status der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten zu achten und nicht zu beeinträchtigen, und da in Art. 17 AEUV die Neutralität der Union gegenüber den religionsverfassungsrechtlichen Grundentscheidungen der Mitgliedstaaten ausgedrückt ist, kann die Niederlassungsfreiheit nicht dazu führen, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Status einer Religionsgemeinschaft anzuerkennen, den diese nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten genießen.

Art. 11 BekGG enthält alternative Voraussetzungen im Blick auf die verlangte Dauer der Ansässigkeit einer Religionsgemeinschaft in Österreich, um als KuR anerkannt zu werden. Diese Voraussetzungen, die in der österreichischen Lehre im Einzelnen durchaus nicht unumstritten sind, gehen nicht über das zur Erreichung des legitimen Ziels, nämlich es den Eltern zu ermöglichen, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder zu wählen, Erforderliche hinaus.[19]

Art. 17 Abs. 1 AUEV bewirkt zwar nicht, dass in der konkreten Situation, die dem Verfahren vor dem VwGH zugrunde liegt, das Unionsrecht nicht anwendbar wäre. Die Verpflichtung der Union, den nationalen Rechtsstatus der Religionsgemeinschaften zu achten und diesen nicht zu beeinträchtigen, zieht dem Handeln der Unionsorgane im Rahmen ihrer Zuständigkeiten keine prinzipielle Grenze. Art. 17 Abs. 1 AEUV kann aber die Grundlage für Ausnahmebestimmungen von ansonsten verpflichtenden Vorschriften sein. Berührt ein unionsrechtlich zu beurteilender Sachverhalt den Status der Religionsgemeinschaften in einem Mitgliedsstaat, sind die entsprechenden Normen des Unionsrechts auch im Licht des Art. 17 AUEVU zu interpretieren. Dadurch ist trotz des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Unionsrechts auch ein gewisser Spielraum eröffnet, wie dieses mit dem jeweiligen nationalen Religionsrecht koordiniert werden kann, ohne den Anwendungsvorrang zu hinterfragen. Aus der Sicht der Religionsrechtswissenschaft zu begrüßen ist, dass der EuGH in diesem Urteil mehr als bislang anerkennt, dass Art. 17 AEUV im Gegensatz zur „Amsterdamer Kirchenerklärung“ nunmehr ein vollgültiger Bestandteil des Primärrecht ist.


Anmerkungen

[1]  Abs. 2 wendet dieselbe Bestimmung auf nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaften an. Für diese sieht das österreichische Recht bislang keine besondere Rechtsform vor.

[2]  So in Nr. 12 des Schlussantrags des Generalanwalts.

[3]  Nr. 9. Die nachfolgend zitierten Nummern beziehen sich auf das EuGH-Urteil.

[4]  Die Frage lautete im Detail: „1. Fällt eine Situation, in der eine in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union anerkannte und ansässige Religionsgesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat um Subventionierung einer von ihr als konfessionell anerkannten, von einem nach dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats eingetragenen Verein in diesem anderen Mitgliedstaat betriebenen Privatschule ansucht, unter Berücksichtigung von Art. 17 AEUV in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, insbesondere von Art. 56 AEUV? Für den Fall der Bejahung der ersten Frage: 2. Ist Art. 56 AEUV dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche als eine Voraussetzung für die Subventionierung von konfessionellen Privatschulen die Anerkennung des Antragstellers als Kirche oder Religionsgesellschaft nach nationalem Recht vorsieht?“

[5]  Nr. 11.

[6]  Nr. 16.

[7]  Dass Privatschulen auch wirtschaftlich relevante Dienstleistungen erbringen, hatte der EuGH bereits in einem anderen Verfahren (C‑622/16 P bis C‑624/16 P, Rn. 105) festgestellt.

[8]  Diese ist veröffentlicht auf: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=A9ADCEEA2282A6B226C7C8EECA3673A1?text=&docid=262447&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=5059329

[9]  Nr. 18–20. Demgegenüber ist Unterricht an einer öffentlichen Bildungseinrichtung, die zumindest überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, keine wirtschaftliche Tätigkeit (Nr. 21).

[10] Nr. 26. Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind prinzipiell verboten. Nicht erst die Unterbindung, sondern jede Maßnahme, die eine geplante Niederlassung erschwert, fällt unter das Verbot. Die Niederlassungsfreiheit gilt auch für Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften, sofern ein Unternehmen in einem EU-Staat seinen Sitz hat.

[11] Nr. 29.

[12] Nr. 31.

[13] Nr. 33.

[14] Vgl. schon VfSlg 9185/1981.

[15] Der EuGH verweist hier (Nr. 35) auf die Erläuterungen zur Änderung des BekGG. Vgl. ErlBRV 1256/XXIV. GP, 4.

[16] Nr. 36 mit Verweis auf Urteile C‑153/02, Rn. 46, und C‑386/04, Rn. 45.

[17] Nr. 40.

[18] Nr. 41.

[19] Nr. 42f. Befremdlich ist allerdings das Argument, dass der österreichische Gesetzgeber deswegen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit der nationalen Regelung verfolgten Ziels erforderlich ist, weil der Nachweis, 2 Promille der Bevölkerung als Mitglieder zu umfassen, nicht nur durch eine offizielle Volkszählung, sondern auch in anderer geeigneter Form erbracht werden kann.