Themenschwerpunkt Bischofssynode

Von Andreas KowatschORCID logo

Vom 4.–29. Oktober findet in Rom die „XVI. Ordentliche Generalversammlung“ der Bischofssynode statt. Damit erreicht der 2021 von Papst Franziskus für die katholische Weltkirche initiierte „Synodale Prozess“ seinen vorläufigen Höhepunkt. Seinen Abschluss findet er erst im nächsten Jahr, wenn eine weitere Synodenversammlung getagt haben wird. Rechtundreligion.at widmet den Schwerpunkt zum Beginn des Wintersemesters 2023/24 diesem Ereignis.

Viel wurde innerhalb der Katholischen Kirche, der Theologie und auch der Kirchenrechtswissenschaft in den letzten Jahren über „Synodalität“ diskutiert, geschrieben und auch gestritten. Auch das Institut für Kirchenrecht und Religionsrecht hat diese Frage zu einem kanonistischen Schwerpunkt gemacht. Dass es dennoch bislang keine scharf konturierte Definition von Synodalität gibt, ist Stärke und Schwäche zugleich. Der Untertitel der Synode gibt jedoch wesentliche Eckpunkte an, die mit diesem spezifisch kirchlichen Strukturprinzip verbunden sind: „Gemeinschaft, Teilhabe und Sendung“.

Die jetzige Synode steht in der Kontinuität der bisherigen Bischofssynoden, die seit 1967 neben dem Kardinalskollegium das wichtigste Beratungsgremium für den Papst bilden. Zugleich ist die jetzige Synode aber auch etwas Neues. Rechtlich betrachtet, ist sie kein Ort bindender Beschlüsse wie ein Parlament (vgl. c. 343 CIC). Die Entscheidung über einzelne Fragen liegt beim Papst. Die Synode soll aber eine Form sein, gemeinsam Entscheidungen vorzubereiten und zu finden. „Synode“ heißt „gemeinsamer Weg“. Die Teilnehmer sollen aufeinander zugehen. Unterschiedliche Positionen sollen nicht in Kampfabstimmungen enden, sondern idealerweise soll der Raum für gemeinsame neue Lösungen entstehen. Nur darum ist verständlich, dass die einzelnen Sitzungen nicht live übertragen werden.

Faktisch vertreten die Synodalen, vor allem wenn es sich um Diözesanbischöfe oder sogar Vorsitzende von Bischofskonferenzen handelt, wichtige Teile des Kirchenvolkes. Gerade darum ist die jetzige Synode auch etwas Neues. Die Bischöfe vertreten die Gläubigen nicht mehr nur, weil sie als Nachfolger der Apostel einzelne Diözesen leiten. Der Generalversammlung wurde vielmehr umfangreiche Phasen der Beteiligung auf diözesaner, nationaler und schließlich kontinentaler Ebene vorausgeschaltet. Erst nachdem das Volk Gottes die Möglichkeit hatte, sich aktiv zu äußern, sollte die Synode stattfinden. Dass dies in manchen Regionen besser als in anderen gelungen ist, ändert wenig an der Neuheit dieses Formats.

Eine weitere wichtige Neuheit betrifft die „Synodenväter“, denen nunmehr auch „Synodenmütter“ zur Seite gestellt wurden. Zwar sind über zwei Drittel der stimmberechtigten Teilnehmer Bischöfe, was in einer Bischofssynode kaum verwundert. Der bischöfliche Charakter des Gremiums hat den Papst aber nicht daran gehindert, einige Priester und vor allem über 80 Laienchristinnen und -christen zu nominieren. Zum ersten Mal in der Geschichte nehmen daher auch Frauen stimmberechtigt an der Synode teil.

Die Struktur der Katholischen Kirche ist von zwei Grundelementen geprägt. Auf der einen Seite steht das „gemeinsame Priestertum“ der Getauften. Jede(r) Getaufte hat Anteil an der Sendung der Kirche und Verantwortung für diese. Zugleich ist die Katholische Kirche durch das Weihesakrament, vor allem durch die Bischofsweihe, die ihren Empfänger in die Nachfolge der Apostel stellt, hierarchisch strukturiert. Synodalität umfasst beide Elemente. In der Geschichte wurde das hierarchische Element sehr stark akzentuiert und überbetont. Nicht nur Gläubige in den westlichen Demokratien sehen sich nicht mehr als gehorsames Kirchenvolk, das durch die Hirten geleitet wird. Synodalität ist daher etwas, was im Katholizismus zwar grundgelegt ist, zugleich aber neu erlernt werden muss. Die Notwendigkeit, sich im gemeinsamen Hören auf den Heiligen Geist auf Neues einzulassen, verlangt Lernbereitschaft von allen in der Kirche, von den Gläubigen, von den Bischöfen und nicht zuletzt auch vom Papst. Aus diesem Grund ist das Thema der Synode die Synodalität selbst.

Die einzelnen Ortskirchen haben teilweise sehr ähnliche, aber auch durchaus unterschiedliche, manchmal auch gegenläufige Vorstellungen zu drängenden Fragen der Gegenwart. Ob die Synode zu messbaren Reformen für die Kirche führen wird, bleibt daher abzuwarten. Vor allem darf man nicht vergessen, dass die jetzige Versammlung erst die erste von zweien ist. Wie ein Fußballspiel ausgehen wird, lässt sich auch nicht gleich nach dem Halbzeitpfiff mit Sicherheit voraussagen. Wenn die Synode, um im Bild zu bleiben, ein Jahr lang pausiert, dann liegt der Ball wieder in den Ortskirchen. Dass dort dann Fragen der Geschlechtergerechtigkeit, der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare, der effektiven Mitbestimmung der Gläubigen, die Kontrolle kirchlicher Machtausübung und nicht zuletzt die kompromisslose Aufarbeitung aller Formen körperlicher und spiritueller Gewalt im Vordergrund stehen werden, lässt sich mit Sicherheit vorhersagen. Vielleicht hat die Synode dann aber beigetragen, eine neue Kultur der Mitverantwortung zu finden.


Kirchenrechtliche Änderungen durch Papst Franziskus

„Vom Visionär zum gescheiterten Reformer“ – so titelte die Augsburger Allgemeine am 8. März 2023, um die Entwicklung des bisher zehnjährigen Pontifikats von Papst Franziskus zusammenzufassen. Ob dies ein angemessenes oder unzutreffendes Fazit ist, mag kontrovers diskutiert werden. Fakt ist, dass Papst Franziskus von Beginn seiner Amtszeit auf dem Stuhl Petri an nicht untätig war, sondern in vielen und unterschiedlichen Bereichen des kirchlichen Lebens Änderungen und Reformen angestoßen und umgesetzt hat – dies auch im Bereich des Kirchenrechts.

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Laien in kirchlichen Leitungsämtern. Eine Skizze der kirchenrechtlichen Neuerungen durch Papst Franziskus

Die Möglichkeiten, die Papst Franziskus eröffnet hat, Laien kirchliche Leitungsgewalt zu übertragen, sind beachtlich. Bei Ehenichtigkeitsverfahren können zwei der drei Richter eines Richterkollegiums Laien sein. Ämter an der Römischen Kurie, das Amt des Präfekten eines Dikasteriums nicht ausgenommen, können mit Laien besetzt werden. In klerikalen Religioseninstituten können mit Genehmigung des Dikasteriums für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens auch Laien Oberenämter bekleiden. Dabei ist Papst Franziskus den Weg der Praxis gegangen, d. h. er hat die kirchenrechtlichen Bestimmungen angepasst, ohne die Änderungen jedoch theologisch zu untermauern. Ausübung von Leitungsgewalt in der Kirche ist etwas qualitativ anderes als Ausübung von Leitungsgewalt im Staat. Was noch aussteht, ist eine tiefergehende theologische Reflexion der Thematik, um die Möglichkeit der Übertragung von kirchlicher Leitungsgewalt an Laien auf ein sicheres Fundament zu stellen und möglicherweise noch auszuweiten.

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Franziskus: „Creating a Culture of Safeguarding: Our biggest Future Challenge“

Ab 2010 erschüttern eine hohe Zahl an Berichten über sexuelle und geistliche Missbräuche in der Katholischen Kirche den deutschsprachigen Raum. Besonders (sexualisierte) Gewalt gegen Kindern und schutzbedürftigen Erwachsenen in kirchlichen Erziehungs- und Bildungsanstalten entrüsten Katholik:innen. Vereinfacht wird dabei mit dem allgemeinen Überbegriff vom „Missbrauch“ gesprochen. Das Statistik liebende Magazin KATAPULT veröffentlichte eine Gegenüberstellung, dass 2022 während der „525.600“ Minuten des Kalenderjahres „522.821“ deutsche Katholik:innen vor dem Rechtsstaat ihren Kirchenaustritt bekundet haben. Vielfach wird Vertrauensverlust aufgrund dieser Vorkommnisse als Austrittsmotiv angeführt.

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Das Gesetz alleine rettet nicht oder Barmherzigkeit im Dienst des Rechts. Visionen und Gedanken über das Recht bei Papst Franziskus als Bausteine zu einer Rechtstheorie

In den letzten Jahren wurde im Bereich des kanonischen Rechts immer wieder die Frage nach dem Rechtscharakter diskutiert, gerade auch auf das Wesen der Kirchenrechtswissenschaft. Dabei wurde immer wieder festgestellt, dass Rechtstheorie zwar an sich theologieunabhängig sei, letztlich aber dem Wesen der Kirche als Heilsgemeinschaft entsprochen oder angepasst werden müsste. Dabei müsse eine Präzisierung der Begriffe erfolgen, die Wesen, Aufgabe und Stellenwert des Rechts näher durchdringt, damit der Blick frei werden kann für die Schwächen eines Systems und die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung. In den zehn Jahren seit seiner Wahl ist Papst Franziskus ein aktiver Gesetzgeber gewesen. Neben seinen weithin bekannten Reformen gab es viele andere bedeutende, aber versteckte Gesetzesänderungen. Bei der Durchführung dieser Änderungen hat Papst Franziskus meist alleine gehandelt. Die Abteilungen des Vatikans, die normalerweise neue Gesetze überwachen und mit bestehenden Gesetzen in Einklang bringen, wurden an den Rand gedrängt. Welche sind der Rechtsbegriff und die Grundlagen der Gesetzgebung bei Papst Franziskus? Wie lässt sich ein Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft im Rechtsbegriff bei Papst Franziskus ausmachen? Die Ausführungen in diesem Beitrag wollen daher Bausteine sein im Blick auf eine mögliche Rechtstheorie, die zu einem fruchtbaren Austausch zwischen Kirche und Welt beitragen kann und dabei hilft, eine Sensibilität zu entwickeln, welche Elemente des profanen Rechts mit dem Recht der Kirche kompatibel sind und welche nicht.

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Titelbild: crysmyri / Pixabay

Kirchenrechtliche Änderungen durch Papst Franziskus

Von Andrea MichlORCID logo

DOI: 10.25365/phaidra.432

„Vom Visionär zum gescheiterten Reformer“ – so titelte die Augsburger Allgemeine am 8. März 2023, um die Entwicklung des bisher zehnjährigen Pontifikats von Papst Franziskus zusammenzufassen. Ob dies ein angemessenes oder unzutreffendes Fazit ist, mag kontrovers diskutiert werden. Fakt ist, dass Papst Franziskus von Beginn seiner Amtszeit auf dem Stuhl Petri an nicht untätig war, sondern in vielen und unterschiedlichen Bereichen des kirchlichen Lebens Änderungen und Reformen angestoßen und umgesetzt hat – dies auch im Bereich des Kirchenrechts.

Die Rechtsgeschichte zeigt, dass sich das Kirchenrecht in größeren oder kleineren Reformen weiterentwickelte, dass dies in unterschiedlichen Zeitabständen geschah und dass es oftmals auch sehr auf den jeweiligen Papst sowie die Dauer seines Pontifikats ankam. Jeder amtierende Papst ist gemäß c. 331 CIC/1983 das „Haupt des Bischofskollegiums, Stellvertreter Christi und Hirte der Gesamtkirche; deshalb verfügt er kraft seines Amtes in der Kirche über höchste, volle, unmittelbare und universale ordentliche Gewalt, die er immer frei ausüben kann“. Aufgrund der Fülle der Vollmachten seines Amtes ist der Papst auch oberster kirchlicher Gesetzgeber. Diese Vollmacht geht einher mit der Übernahme des Petrusamtes und bedarf keiner besonderen akademischen Qualifikation, auch wenn es unter den Päpsten durchaus einige Kanonisten gab. Die beiden letzten waren Paul VI. und Pius XII. Papst Franziskus ist kein Kanonist von der Ausbildung her, doch war er u. a. als Weihbischof und Diözesanbischof von Buenos Aires (1998-2013) und als Vorsitzender der argentinischen Bischofskonferenz (2005–2011) beinahe zwangsläufig mit dem Kirchenrecht und der kirchlichen Gesetzgebung befasst und es ist festzustellen, dass er das Kirchenrecht nicht nur anwendet, sondern es ändert, reformiert, modifiziert und fortentwickelt. Dies hat er durch eine Vielzahl von größeren und kleineren Änderungen getan, von denen einige der wichtigsten nachfolgend kurz genannt und skizziert werden. Zu den bisher größten oder umfangreichsten Reformen sind die Reform der Römischen Kurie, die Reform des Eheprozessrechts und die Reform des kirchlichen Strafrechts zu zählen.

Mit der Apostolischen Konstitution Praedicate Evangelium vom 19. März 2022 führte Papst Franziskus eine Kurienreform durch. (Foto: Steen Jepsen / Pixabay)

Kurienreform

Trotz der allgemeinen These der „Curia Romana semper reformanda“, was so viel heißt wie „Die Römische Kurie ist immer zu reformieren“ oder auch etwas freier „Die Römische Kurie ändert sich immer“, gab es in der Kirchengeschichte – ungeachtet von im Laufe der Zeit vorgenommenen kleineren Änderungen – nur vier große Reformen der Römischen Kurie, des Verwaltungsapparates des Papstes: 1588 von Sixtus V., 1908 durch Pius X., 1967 durch Paul VI. und 1988 durch Johannes Paul II. Die fünfte Reform erfolgte durch Franziskus, der er sich von Beginn seines Pontifikats an widmete und deren konkrete Planung er bereits einen Monat nach seiner Wahl begann. Schon sein dafür eingesetzter Beraterstab von acht und später neun Kardinälen, der inoffiziell als K8- bzw. K9-Rat bekannt wurde, war ein rechtliches Novum. Die Reform setzte er mit mehreren partiellen Änderungen um und schloss sie mit der Apostolischen Konstitution Praedicate Evangelium am 19. März 2022 ab, welche die geltenden Regelungen zu allen kurialen Dikasterien enthält.

Im Zuge seiner Kurienreform errichtete er einige Dikasterien bzw. Behörden neu, wie beispielsweise den Rat und das Sekretariat für die Wirtschaft, denen Papst Franziskus die Aufsicht, die Verwaltung und die Koordination der wirtschaftlichen Angelegenheiten des Heiligen Stuhls übertrug; andere schon bestehende Behörden ordnete er neu und vereinigte mehrere zu einem einzigen Dikasterium, wie beispielsweise das Dikasterium für Laien, Familie und Leben. Wieder anderen gab er auch nur eine neue Bezeichnung, was auch bei vergangenen Kurienreformen vorkam. Neben strukturell-organisatorischen Neuerungen schließt die Reform die Übernahme von kurialen Leitungsämtern ausschließlich durch Kleriker aus, wodurch mehr Laien einbezogen werden könnten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen müssen die Leiter der Dikasterien keine Kardinäle mehr sein. Die beiden einzigen Kardinäle, die in Praedicate Evangelium erwähnt werden, sind der Präfekt des höchsten kirchlichen Gerichts der Apostolischen Signatur und der Koordinator des Rates für Wirtschaft. Der Papst hat auch festgelegt, dass die Ernennung von Klerikern und Ordensleuten an der Kurie für fünf Jahre erfolgt und um einen zweiten Fünfjahreszeitraum verlängert werden kann, wobei die Mobilität und der Austausch zwischen Rom und den Ortskirchen verbessert werden sollen.

Eine tiefgreifende Reform des Eheprozessrechts geht auf Papst Franziskus zurück. (Foto: Valen Pix / Pixabay)

Reform des Eheprozessrechts

Eine weitere größere Änderung nahm Papst Franziskus direkt am kirchlichen Gesetzbuch vor, und zwar im Bereich des Prozessrechts. In der kirchenrechtlichen Praxis machen Ehenichtigkeitsverfahren, in denen geprüft wird, ob eine Ehe gültig geschlossen wurde oder nicht, den Großteil aus und folgen genau vorgegebenen Verfahrensabläufen. Am 15. August 2015 änderte Papst Franziskus die Normen des Eheprozessrechts per Gesetz, nämlich durch das Motu Proprio Mitis Iudex Dominus Iesus für die lateinische Kirche und ebenso am selben Tag die korrespondierenden Normen des CCEO, dem Gesetzbuch der katholischen Ostkirchen, durch das Motu Proprio Mitis et Misericors Iesus. Die Änderungen betrafen 21 Canones im CIC/1983 (cc. 1671–1691) und 21 Canones im CCEO (cc. 1357–1377). Die Reaktionen unter den Kanonisten auf das päpstliche Gesetz reichten im Jahr 2015 von Überraschung und Verwunderung, über Bestürzung bis hin zum Entsetzen. Man fürchtete um einen deutlichen Rückgang von Ehenichtigkeitsverfahren und in Folge davon auch um die Existenz mancher Offizialate. Diese Sorge teilte auch das Gericht der Rota Romana, deren Gesamtzahl an Fällen allerdings trotz der neuen Gesetze keinen signifikanten Rückgang verzeichnen kann. Die wichtigsten inhaltlichen Änderungen bestehen in der Abschaffung der bisherigen verpflichtenden zweiten Instanz bei Ehenichtigkeitsverfahren und in der Einführung des sogenannten kürzeren Prozesses. Bei diesem handelt es sich um ein Kurzverfahren vor dem Bischof, das nicht am diözesanen oder interdiözesanen Gericht geführt wird, an dem Kirchenrechtler im Auftrag des Bischofs arbeiten und erkennen, sondern bei dem der Bischof selbst als Richter agiert und urteilt.

Bereits Papst Benedikt XVI. hat eine Reform des kirchlichen Strafrechts initiiert, die Papst Franziskus abgeschlossen und in Kraft gesetzt hat. (Foto: VBlock / Pixabay)

Reform des Strafrechts

Eine weitere und noch größere Änderung erfolgte im Jahr 2021 mit der Reform des kirchlichen Strafrechts, welche die aktuell umfangreichste kirchenrechtliche Neuerung im derzeitigen Pontifikat und seit dem Inkrafttreten des CIC/1983 darstellt. Auch wenn Papst Franziskus das Strafrecht mit der Apostolischen Konstitution Pascite Gregem Dei am 23. Mai 2021 approbierte und zum 8. Dezember 2021 in Kraft setzte, war sein Vorgänger Benedikt XVI. der Initiator für die Gesamt-Revision des kirchlichen Strafrechts, der im Jahr 2007 den Auftrag zur Überarbeitung erteilte.

Vor allem drei Motive waren es, die die Reform des Strafrechts erforderlich machten: Zum einen sollte es den Anforderungen der heutigen kirchlichen Gemeinschaft entsprechend angepasst werden, zum anderen sollten, um eine zu weite teilkirchliche Varietät in der Strafrechtspraxis zu vermeiden und einem zu großen Ermessenspielraum zu wehren, die Strafen sowohl konkreter determiniert als auch fortan bei mehreren Straftatbeständen als verpflichtend verhängt werden und nicht länger fakultativ bleiben. Zudem sollte es im Gesamten leichter in der Anwendung werden. Zu diesem Zweck führte der Gesetzgeber einige neue Straftatbestände ein und begrenzte den vormaligen oft weiten Ermessensspielraum der für die Strafverhängung zuständigen Autorität, indem fakultative Strafandrohungen reduziert und sowohl durch obligatorische als auch durch konkret benannte Strafen ersetzt wurden. Franziskus änderte nicht nur das Strafrecht im CIC/1983, sondern auch das im CCEO durch das Motu Proprio Vocare peccatores vom 20. März 2023. Die Reform betraf allerdings nicht alle Normen, sondern nur 23 Canones. Die Änderung auch des orientalischen Strafrechts intendiert eine größere Übereinstimmung mit dem Strafrecht der lateinischen Kirche.

Neben den drei großen Neuerungen im Bereich der Kurienreform, des Eheprozessrechts und des Strafrechts nahm Franziskus noch eine Vielzahl weiterer kirchenrechtlicher Änderungen vor. (Foto: jessica45 / Pixabay)

Weitere kirchenrechtliche Neuerungen

Neben den drei großen Neuerungen im Bereich der Kurienreform, des Eheprozessrechts und des Strafrechts nahm Franziskus bereits eine Vielzahl weiterer kirchenrechtlicher Änderungen vor, von denen noch einige der aktuellsten genannt werden:

Die neueste kirchenrechtliche Änderung stammt vom 8. August 2023, mit der Franziskus die sogenannten Personalprälaturen mit öffentlichen klerikalen Vereinen päpstlichen Rechts mit Inkardinationsbefugnis gleichstellte (vgl. c. 295 CIC/1983 n. F.). Da das Opus Dei derzeit die einzige Personalprälatur der katholischen Kirche ist, ist es allein von den Regelungen betroffen.

Die meisten Neuerungen und Reformen betreffen das Gesetzbuch der lateinischen Kirche, manchmal aber auch das der orientalischen Kirchen. So erneuerte Franziskus mit dem Motu Proprio Iam pridem vom 23. April 2023 vier Canones des CCEO (cc. 66, 102, 149 und 183), mit denen verschiedene Normen in Bezug auf Bischöfe geändert werden, die das 80. Lebensjahr vollendet haben. Dies betrifft u. a. das Wahlrecht.

Im Bereich des Ordensrechts änderte Franziskus bereits mehrmals Vorschriften. Zuletzt am 2. April 2023 mit dem Motu Proprio Expedit et iura, das die Entlassung von Ordensmitgliedern aus ihrem Kloster neu regelte. Am 1. November 2020 modifizierte er mit dem Motu Proprio Authenticum charismatis c. 579 des CIC/1983, wonach zur Errichtung eines Institutes des Geweihten Lebens in einer Diözese, nicht mehr nur eine bloße Beratung, sondern eine zuvor erteilte schriftliche Genehmigung des Apostolischen Stuhls vorliegen muss.

Im Kontext des Bekanntwerdens und der daraus resultierenden Notwendigkeit der Behandlung und der Ahndung der Straftaten des sexuellen Missbrauchs an Minderjährigen erforderte dies auch von der Kirche Ergänzungen oder Präzisierungen der bisherigen kodikarischen und außerkodikarischen Regelungen. Am 7. Mai 2019 erließ Franziskus daher Normen darüber, was im Falle von Meldungen eben genannter Delikte zu tun sei. Eine aktualisierte Fassung dieser Normen über das Meldeverfahren folgte am 25. März 2023 mit gleichlautendem Titel in Form des Motu Proprio Vos estis lux mundi.

Eine Änderung von Papst Franziskus betraf die Neustrukturierung der Kongregation für die Glaubenslehre, welche er per Gesetz am 11. Februar 2022 in eine Disziplinarabteilung und eine Lehrabteilung gliederte und deren jeweiligen Zuständigkeitsbereiche klar umgrenzte. Entsprechend der beiden Abteilungen erfuhr auch die personelle Struktur eine entsprechende Anpassung (vgl. Motu Proprio Fidem servare).

Nur einen Canon des kirchlichen Gesetzbuches der lateinischen Kirche, c. 230, änderte Franziskus am 15. Januar 2021, womit er verfügte, dass künftig auch Frauen in der Liturgie die Dienste des Lektors und Akolythen übernehmen können (vgl. Motu Proprio Spiritus Domini). Zuvor war das nur Männern erlaubt. Ein weiterer Dienst, der von Laien – nach Erwerb biblischer, theologischer und pastoraler Kenntnisse – übernommen und ausgeübt werden kann, ist der Dienst des Katechten, den Franziskus nur wenige Wochen später am 10. Mai 2021 errichtete (vgl. Motu Proprio Antiquum ministerium, Nr. 8).

Zusammenfassung und Ausblick

Nach diesem Überblick zu einigen der wichtigsten und aktuellsten kirchenrechtlichen Neuerungen, die nicht abschließend sind, ist zu resümieren, dass Papst Franziskus im Bereich des Kirchenrechts sehr aktiv ist und viele Änderungen vornahm. Auch sein Vorgänger Benedikt XVI. erließ rechtliche Normen zu unterschiedlichen Materien, allerdings überwiegend außerkodikarisch und bei weitem nicht in dem großen Umfang. Zum Vergleich: Am CIC/1983 selbst änderte er während seines achtjährigen Pontifikats nur fünf Canones (cc. 1008, 1009, 1086 § 1, 1117, 1124). Franziskus änderte dagegen in seinem bisher zehnjährigen Pontifikat mehr als 150 Canones im CIC/1983 und im CCEO. Die Vermutung liegt daher nahe, dass weitere Änderungen in der kommenden Zeit folgen werden.

Weiterführende Literatur

Stephan Haering, „Änderungen des Kirchenrechts unter Papst Franziskus“, in: Klerusblatt 99 (2019), Nr. 2, S. 28–35.

Christoph Ohly, „Das Motu Proprio Vos estis lux mundi. Perspektiven und Anmerkungen“, in: DPM 27/28 (2020/21), S. 231–248, DOI: 10.22602/IQ.9783745870312.

Bruno Pighin, Il nuovo sistema penale della Chiesa, Venedig 2021.

Ulrich Rhode, „Wie Papst Franziskus die Kurie reformiert. Der Kardinalsrat und die schrittweise Umsetzung“, in: AfkKR 185/1 (2016), S. 42–61, DOI: 10.30965/2589045X-1850105.

Johannes Schidelko, Kurienreform. Hintergründe, Zuständigkeiten, Veränderungen. Alles, was man wissen muss, Paderborn 2022.

Nikolaus Schöch, „Synopse der Veränderungen gegenüber dem bisher geltenden Eheprozessrecht“, in: DPM 23 (2016), S. 325–361.


Dr. Andrea Michl ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kirchenrecht, insbesondere für Ehe-, Prozess- und Strafrecht sowie Staatskirchenrecht am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Sie studierte Katholische Theologie in Regensburg und Rom. Nach dem Diplom folgte das Studium des kanonischen Rechts am Klaus-Mörsdorf-Studium für Kanonistik mit den Abschlüssen des Lizentiats (Lic. iur. can.) und des Doktorats (Dr. iur. can.) im kanonischen Recht.


Titelbild: crysmyri / Pixabay

Laien in kirchlichen Leitungsämtern. Eine Skizze der kirchenrechtlichen Neuerungen durch Papst Franziskus

Von Daniel Tibi. ORCID logo

DOI: 10.25365/phaidra.556

Eigentlich ist es eine Sensation, in der Öffentlichkeit aber kaum rezipiert: Am 18. Mai 2022 hat Papst Franziskus die Möglichkeit geschaffen, dass Laien Obere in klerikalen Religioseninstituten werden können. Ein Merkmal klerikaler Institute ist nach c. 588 § 2 CIC, dass sie unter der Leitung von Klerikern stehen. Laien war damit bisher das Amt eines Oberen in diesen Instituten verwehrt. Zwar gab es auch vorher schon in begründeten Ausnahmefällen mit päpstlicher Genehmigung Laien im Amt eines Oberen in klerikalen Instituten. Das Neue ist, dass nunmehr keine Dispens durch den Papst selbst erforderlich ist. Soll ein Laie Lokaloberer, d. h. Oberer einer unselbstständigen Niederlassung werden, kann der zuständige höhere Obere des Instituts mit Zustimmung seines Rates diesen Religiosen selbst in das Amt einsetzen. Soll ein Laie höherer Oberer, d. h. Oberer einer rechtlich selbstständigen Niederlassung, einer Provinz oder eines ganzen Instituts werden, kann das Dikasterium für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens von der Bestimmung des c. 588 § 2 CIC dispensieren, dass der Obere Kleriker sein muss. In der Praxis sind solche Dispensen bereits erteilt worden. So wurde beispielsweise im Juli 2022, also wenige Wochen nach Erlass des Reskripts, ein Laienmitglied der Kongregation vom Heiligen Kreuz zum Generaloberen des Instituts gewählt. Die erforderliche Genehmigung für die Übernahme des Amtes hat das Dikasterium für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens erteilt. Die Forderung, dass auch Laien in klerikalen Instituten Obere werden können, kam bereits vor etwa sechs Jahrzehnten auf, insbesondere von benediktinischen Instituten und aus der franziskanischen Ordensfamilie, die von ihrem Ursprung her Laienbewegungen waren und erst im Laufe ihrer Geschichte klerikalisiert wurden. Mit seinem Reskript hat Papst Franziskus einen wichtigen Schritt zur Gleichstellung der Laien- und Klerikermitglieder in klerikalen Religioseninstituten getan. Ein letzter Schritt fehlt allerdings noch: Laien im Amt eines höheren Oberen sind, im Gegensatz zu Klerikern, keine Ordinarien, so hat es das Dikasterium für die Gesetzestexte in einem Schreiben vom 10. August 2022 klargestellt. Ordinarien kommen gegenüber den Mitgliedern eines Instituts bestimmte Vollmachten zu, wie beispielsweise die Beauftragung zum Lektor und Akolyth, die Erteilung bestimmter Dispensen sowie bestimmte Zuständigkeiten im Bereich des Vermögens- und Strafrechts. Im Falle eines Laien im Oberenamt ist die Funktion des Ordinarius einem Klerikermitglied des Instituts den Bestimmungen des Eigenrechts entsprechend zu übertragen, beispielsweise dem Stellvertreter. Dieses Beispiel aus dem Ordensrecht ist nur ein Bereich, in dem Papst Franziskus die Ausübung von kirchlicher Leitungsgewalt durch Laien in einem gewissen Umfang ermöglicht hat.

Durch diverse Rechtsänderungen hat Papst Franziskus die Ausübung kirchlicher Leitungsgewalt durch Laien in verschiedenen Bereichen ermöglicht.

Ausübung kirchlicher Leitungsgewalt durch Laien

Was ist die grundsätzliche Problematik hinter der Ausübung von Leitungsgewalt durch Laien? Ein Blick in die Kirchengeschichte zeigt, dass in der Vergangenheit auch Laien kirchliche Leitungsgewalt ausgeübt haben. Äbtissinnen beispielsweise konnten auch ohne Weihegewalt zu besitzen Leitungsgewalt ausüben. Ein weniger rühmliches Beispiel aus der Kirchengeschichte sind weltliche Fürsten im Amt eines Bischofs, die dieses Amt bekleideten, ohne eine sakramentale Weihe empfangen zu haben, und so in ihrer Diözese Leitungsgewalt ausübten ohne Weihegewalt zu haben, die sie durch Weihbischöfe ausüben ließen. Nach dem Codex Iuris Canonici von 1917 konnten nur Kleriker kirchliche Leitungsgewalt erhalten: „Soli clerici possunt potestatem sive ordinis sive iurisdictionis ecclesiasticae […] obtinere“ (c. 118 CIC/1917), wobei im Vorgängercodex der Klerikerbegriff weiter gefasst war als im geltenden allgemeinen Kirchenrecht. Nach c. 108 CIC/1917 führte bereits der Empfang der Tonsur zur Zugehörigkeit zum Klerikerstand. Auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil wurde die Frage thematisiert, ob und in welchem Umfang Laien kirchliche Leitungsgewalt ausüben können. Die Ansichten zu dieser Frage lassen sich in zwei Modelle einteilen: Das erste Modell gründet in der Lehre von der sacra potestas, die das Zweite Vatikanische Konzil grundsätzlich übernommen (vgl. insb. Lumen gentium 18), jedoch theologisch nicht vollständig ausgearbeitet hat. Diese Lehre geht von der Einheit der Weihegewalt und der Leitungsgewalt aus: „In Lumen Gentium wird der gesamte Dienst der geweihten Amtsträger unter sakramentalen Vorzeichen gesehen und die scharfe Differenzierung zwischen der potestas ordinis und der potestas iurisdictionis wird hinfällig. […] Die veränderte theologische Gewichtung in Lumen Gentium lässt somit zu, von einer heiligen Vollmacht zu sprechen“ (Bihl 2018, S. 290). Weihegewalt wird mit der sakramentalen Weihe übertragen und beinhaltet insbesondere geistliche Vollmachten wie die Sakramentenspendung. Leitungsgewalt wird mit der Einsetzung in ein Amt übertragen und beinhaltet kirchliche gesetzgebende, ausführende und/oder richterliche Gewalt. Aufgrund des geistlichen Wesens der Kirche, so das erste Modell, bedeutet Übertragung kirchlicher Leitungsgewalt nicht einfach die Übertragung von Leitungsgewalt durch die Gemeinschaft an eine qualifizierte Person, wie es im Staat der Fall ist. Vielmehr ist kirchliche Leitungsgewalt Ausübung der Gewalt, die Christus der Kirche übertragen hat. Wer Leitungsgewalt ausübt, handelt im Namen Christi und der Kirche – und das können nur geweihte Personen. Das zweite Modell sieht Weihegewalt und Leitungsgewalt als grundsätzlich getrennt an und insbesondere beim Papst und bei den Bischöfen in einer Person vereint. Papst und Bischöfe können Leitungsgewalt für Ämter, die nicht zwangsläufig Weihegewalt erfordern, an eine persönlich und fachlich qualifizierte Person ihrer Wahl übertragen, die nicht zwangsläufig geweiht sein muss. Nach diesem Modell stünden Laien Leitungsämter im kirchlichen Verwaltungs- und Gerichtsbereich offen.

Das geltende allgemeine Kirchenrecht spiegelt das erste Modell wider. Als Grundsatz legt c. 129 § 1 CIC fest: „Zur Übernahme von Leitungsgewalt, die es aufgrund göttlicher Einsetzung in der Kirche gibt und die auch Jurisdiktionsgewalt genannt wird, sind nach Maßgabe der Rechtsvorschriften diejenigen befähigt, die die heilige Weihe empfangen haben.“ Danach sind nur Diakone, Priester und Bischöfe (vgl. c. 1009 § 1 CIC) für die Leitungsgewalt in der Kirche befähigt, und nach c. 274 § 1 CIC können allein Kleriker Ämter erhalten, zu deren Ausübung Weihegewalt oder kirchliche Leitungsgewalt erforderlich ist. Darin zeigt sich eine gewisse Inkonsistenz im geltenden Kirchenrecht. Dass allein Kleriker kirchliche Leitungsgewalt ausüben können, liegt in der Verfassung der Kirche begründet. Ausübung kirchlicher Leitungsgewalt ist die Ausübung von Leitungsgewalt im Namen Christi und der Kirche, die Christus den Aposteln übertragen hat. In der Person Christi des Hauptes handeln nach c. 1009 § 3 CIC aber nur Bischöfe und Priester, nicht jedoch Diakone. Die ungeklärte Frage ist: Warum kann ein Diakon, der Kleriker ist, aber nicht in der Person Christi des Hauptes handelt, kirchliche Leitungsgewalt ausüben, während Laien, die ebenfalls nicht in der Person Christi des Hauptes handeln, diese nicht ausüben können? Laien können, so legt es c. 129 § 2 CIC fest, bei der Ausübung kirchlicher Leitungsgewalt nach Maßgabe des Rechtes mitwirken. Was diese Mitwirkungsmöglichkeit genau bedeutet, „bleibt im Dunkeln. Geht es um ideelle Unterstützung, um Zu- und Assistenzarbeiten bei klerikaler Gewaltausübung oder um selbständige und eigenverantwortete Mitarbeit an kirchlichen Zielen?“ (Hahn 2020, S. 266). Da die sacra-potestas-Lehre weiterer theologischer Reflexion bedarf, ist verständlich, dass eine darauf aufbauende rechtliche Norm unscharf bleibt. Jedenfalls sind geeignete Laien rechtlich befähigt, „von den geistlichen Hirten für jene kirchlichen Ämter und Aufgaben herangezogen zu werden, die sie gemäß den Rechtsvorschriften wahrzunehmen vermögen“ (c. 228 § 1 CIC). Eine genauere Bestimmung, um welche Ämter es sich dabei handelt, findet sich im geltenden allgemeinen Kirchenrecht nicht, was dem Partikularrecht Möglichkeiten eröffnet, solche Ämter zu schaffen. Grundlage ist stets eine Beauftragung eines Laien durch Papst oder Bischof, sei es im Einzelfall oder sei es durch allgemeines oder partikulares Kirchenrecht. „Da Laien immer im Rahmen einer kirchlichen Sendung (missio canonica) aufgrund der Beauftragung durch die zuständige kirchliche Autorität (Papst oder Bischof) an der kirchlichen Leitungsvollmacht teilhaben, wird man die Position einnehmen können, dass die Verbindung zur Sacra potestas-Lehre durch eben diese kirchenamtliche Beauftragung immer gewahrt bleibt“ (Pulte 2022, S. 2–3). Nach dieser Sichtweise ist der eigentliche Inhaber der Leitungsgewalt der Papst oder der Bischof, der einen Laien bevollmächtigt, diese Gewalt in seinem Namen auszuüben. Theologisch zu überdenken bleibt, ob ein Laie in einem solchen Fall auch Anteil an der Leitungsgewalt erhält.

Das geltende Kirchenrecht sieht verschiedene Bereiche vor, in denen Laien kirchliche Leitungsgewalt ausüben können.

Laien als kirchliche Richter

Konsequent setzt der Codex Iuris Canonici von 1983 die sacra-potestas-Lehre nicht um. Bereits seit Inkrafttreten dieses kirchlichen Gesetzbuches können Laien in bestimmten Fällen als kirchliche Richter tätig werden. Nach c. 1421 § 2 CIC kann mit Erlaubnis der Bischofskonferenz in einem Dreierkollegium eines kirchlichen Gerichts einer der drei Richter ein fachkundiger Laie sein. Die Österreichische Bischofskonferenz hat diese Erlaubnis mit ihrem Dekret über Laienrichter (in: Abl. ÖBK 1/1984, S. 7) erteilt, die Deutsche Bischofskonferenz mit ihrer Partikularnorm Nr. 20 vom 05.10.1995. Ein Laie im Richteramt übt kirchliche Leitungsgewalt aus. Zur Rechtfertigung dieser Regelung wird angeführt, dass der Laienrichter die Kleriker nicht überstimmen kann. Das ist richtig, doch kann umgekehrt betrachtet das Votum des Laien den Ausschlag gegen, wenn die beiden Kleriker verschiedener Meinung sind.

„Ausübung kirchlicher Leitungsgewalt ist die Ausübung von Leitungsgewalt im Namen Christi und der Kirche, die Christus den Aposteln übertragen hat.“

Rechtsänderungen durch Papst Franziskus

Papst Franziskus hat im Jahr 2015 durch das Apostolische Schreiben Mitis Iudex speziell für kirchliche Ehenichtigkeitsverfahren, die den mit Abstand größten Teil der kirchlichen Gerichtsverfahren ausmachen, aus praktischer Notwendigkeit die Möglichkeit geschaffen, dass sogar zwei der drei Richter Laien sein dürfen. Lediglich der vorsitzende Richter muss Kleriker sein. So kann bei der gerichtlichen Feststellung der Nichtigkeit einer Ehe das Votum eines Laien nicht nur den Ausschlag geben, die zwei Laienrichter können den Kleriker nunmehr sogar überstimmen.

Eine weitere Möglichkeit, Laien kirchliche Leitungsämter zu übertragen, hat Papst Franziskus in der Apostolischen Konstitution Praedicate Evangelium über die Römische Kurie vom 19. März 2022 geschaffen. In den Grundsätzen und Kriterien für den Dienst an der Römischen Kurie wird darin festgehalten: „Jede kuriale Einrichtung erfüllt ihren eigenen Auftrag kraft der Vollmacht, die sie vom Papst erhalten hat, in dessen Namen sie mit stellvertretender Gewalt in der Ausübung des primazialen Amtes handelt“ (Nr. II,5 PE). Ämter mit Leitungsgewalt an der Römischen Kurie sind die Präfekten (Leiter) der Einrichtungen sowie die Sekretäre und Untersekretäre. Die Offiziale bereiten Entscheidungen vor, ihnen kommt aber selbst keine Leitungsgewalt zu. Da die Leitungsgewalt, die die Mitarbeiter der Römischen Kurie ausüben, vom Papst übertragene stellvertretende Leitungsgewalt ist, können auch Laien diese Leitungsgewalt ausüben – und damit sogar, wenn im Einzelfall wie für die Apostolische Signatur (vgl. Art. 195 § 1 PE) und den Wirtschaftsrat (vgl. Art. 206 § 2 PE) nichts anderes bestimmt ist, das Amt eines Präfekten bekleiden: „Aus diesem Grund kann jeder Gläubige einem Dikasterium oder einem Organ abhängig von deren besonderer Zuständigkeit, Leitungsgewalt und Aufgabe vorstehen“ (Nr. II,5 PE). Die Apostolische Konstitution Pastor Bonus über die Römische Kurie aus dem Jahr 1988, die bis zum Inkrafttreten von Predicate Evangelium in Geltung war, hatte hingegen bestimmt, „daß alles, was die Ausübung von Leitungsvollmacht erfordert, denjenigen vorbehalten ist, welche die heilige Weihe empfangen haben“ (Art. 7 PB). Predicate Evangelium eröffnet Laien somit den Zugang zu Leitungsämtern, der ihnen bisher verwehrt war. Ob Päpste künftig Laien in Leitungsfunktionen einsetzen werden, bleibt abzuwarten.

Papst Franziskus hat Leitungsämter an Einrichtungen der römischen Kurie für Laien geöffnet.

Laien in Leitungsämtern auf diözesaner Ebene

Die Regelungen in Predicate Evangelium können Vorbild sein für die Organisation der bischöflichen Kurie. Der Generalvikar als Leiter der bischöflichen Verwaltung und der Offizial als Vorsteher des bischöflichen Gerichts müssen nach den Bestimmungen des allgemeinen Kirchenrechts Priester sein (vgl. c. 478 § 1 und c. 1420 § 4 CIC). Im Rahmen, den das allgemeine Recht vorgibt, steht es den Bischöfen frei, ihre bischöfliche Kurie nach eigenem Ermessen zu organisieren. So können sie Leitungsämter schaffen, die auch mit Laien besetzt werden können, die Leitungsgewalt im Auftrag des Bischofs ausüben. In Deutschland haben beispielsweise das Erzbistum München-Freising und das Bistum Eichstätt in je unterschiedlicher Ausgestaltung das Amt eines Amtschefs geschaffen, der zusammen mit dem Generalvikar die bischöfliche Verwaltung leitet. In beiden Bistümern sind die Ämter des Amtschefs seit 2020 mit Laien besetzt. Weitere deutsche Bistümer haben in teilweise unterschiedlicher Ausgestaltung ähnliche Ämter geschaffen. In Österreich hat bisher keine Diözese einen solchen Weg beschritten.

Die Erzdiözese München-Freising hat das Amt eines Amtschefs geschaffen, der zusammen mit dem Generalvikar die bischöfliche Verwaltung leitet. Das Amt des Amtschefs ist dort seit 2020 mit einem Laien besetzt.

Ausblick

Die Möglichkeiten, die Papst Franziskus eröffnet hat, Laien kirchliche Leitungsgewalt zu übertragen, sind beachtlich. Bei Ehenichtigkeitsverfahren können zwei der drei Richter eines Richterkollegiums Laien sein. Leitungsämter an der Römischen Kurie, das Amt des Präfekten eines Dikasteriums grundsätzlich nicht ausgenommen, können mit Laien besetzt werden. In klerikalen Religioseninstituten können mit Genehmigung des Dikasteriums für die Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens auch Laien Oberenämter bekleiden. Dabei ist Papst Franziskus den Weg der Praxis gegangen, d. h. er hat die kirchenrechtlichen Bestimmungen angepasst, ohne die Änderungen jedoch theologisch zu untermauern. Ausübung von Leitungsgewalt in der Kirche ist etwas qualitativ anderes als Ausübung von Leitungsgewalt im Staat. Was noch aussteht, ist eine tiefergehende theologische Reflexion der Thematik, um die Möglichkeit der Übertragung von kirchlicher Leitungsgewalt an Laien auf ein sicheres Fundament zu stellen und möglicherweise noch auszuweiten.

Literatur

Matthias Ambros: „Die Teilhabe von Laien an der päpstlichen Primatialgewalt. Ein Blick auf die Kurienreform durch die Apostolische Konstitution Praedicate Evangelium“, in: NomoKanon (30.07.2022), DOI: 10.5282/ nomokanon/215.

John P. Beal: „The Exercise of the Power of Governance by Lay People. State of the Question“, in: The Jurist 55 (1995), S. 1–92.

Benjamin Bihl: „Weihe und Jurisdiktion. Wiederauflage eines klassischen theologi-schen Problems unter neuen Vorzeichen“, in: Münchener Theologische Zeitschrift 69 (2018), S. 288–304.

Judith Hahn: „Potestas incerta. Das Ambi-guitätsproblem des Laienleitungsrechts“, in: Wer entscheidet, wer was entscheidet? Zum Re-formbedarf kirchlicher Führungspraxis, hrsg. v. Benedikt Jürgens / Matthias Sellmann (Quaestiones disputatae 312), Freiburg i. Br. / Basel / Wien, 2020, S. 259–273, DOI: 10.15496/publikation-81233.

Maximilian Mattner: „Amtschefs und Verwal-tungsdirektoren. Vergleich neuerer Diözesan-gesetze zur Kurienorganisation in Hinblick auf Compliance und Gewaltenteilung“, in: Zeit-schrift für Kanonisches Recht 2 (2023), DOI: 10.17879/zkr-2023-5193.

Rosel Oehmen-Vieregge: „Sacra potestas. Ein Schlüsselbegriff des Zweiten Vatikanischen Konzils?“, in: Theologische Quartalschrift 197 (2017), S. 337–358, DOI: 10.14623/thq.2017.4. 337-358.

Matthias Pulte: „Leitungsämter für Laien. Das Ende der Potestas-Doktrin des 2. Vatikani-schen Konzils?“, in: NomoKanon (25.10.2022), DOI: 10.5282/nomokanon/220.

Myriam Wijlens: „Die Partizipation von Laien an der Leitungsgewalt. Neue kirchenrechtliche Möglichkeiten erfordern eine theologische Reflexion“, in: Theologie der Gegenwart 65 (2022), S. 162–176.


Bildnachweis:
Titelbild: crysmyri / Pixabay
Bilder in Text: Daniel Tibi

Franziskus: „Creating a Culture of Safeguarding: Our biggest Future Challenge“

Von Florian Pichler. ORCID logo

Dies ist eine gekürzte Fassung des Beitrags für das Portal rechtundreligion.at. Der Beitrag ist in voller Länger unter dem DOI 10.25365/phaidra.433 abrufbar.

Ab 2010 erschüttern eine hohe Zahl an Berichten über sexuelle und geistliche Missbräuche in der Katholischen Kirche den deutschsprachigen Raum.1 Besonders (sexualisierte) Gewalt gegen Kindern und schutzbedürftigen Erwachsenen in kirchlichen Erziehungs- und Bildungsanstalten entrüsten Katholik:innen. Vereinfacht wird dabei mit dem allgemeinen Überbegriff vom „Missbrauch“ gesprochen. Das Statistik liebende Magazin KATAPULT veröffentlichte eine Gegenüberstellung, dass 2022 während der „525.600“ Minuten des Kalenderjahres „522.821“ deutsche Katholik:innen vor dem Rechtsstaat ihren Kirchenaustritt bekundet haben.2 Vielfach wird Vertrauensverlust aufgrund dieser Vorkommnisse als Austrittsmotiv angeführt.

Nicht nur jeder bekanntgewordene Fall von sexualisierter Gewalt, sondern auch jeder Austritt trifft die Gemeinschaft der Gläubigen mit Härte. In Österreich haben die Verantwortungsträger dabei bereits 2010 eindeutig Schuld anerkannt:

Dreieiniger Gott, Du hast unsere Mütter und Väter aus der Knechtschaft in die Freiheit geführt und sie die 10 Gebote eines guten Lebens gelehrt. […] Einige von uns haben genau dazu andere und sogar Kinder missbraucht [… ;] haben sie als Gelegenheiten zum Übergriff benutzt. [… ;] haben das Vertrauen von Kindern ausgenützt und zerstört. [… ;] haben sexuelle Gewalt angewendet. [… und] haben sich […] der Körper der Schwächsten bemächtigt. […].3

Kinderschutz ist göttliches Recht

Kanonistisch ist der Begriff des Missbrauchs jedoch unsachlich. Ein Missbrauch4 ist der willentliche falsche Gebrauch von zugestandenen Rechten. Jeder kirchenrechtlichen Bestimmung geht die Hl. Schrift voraus. Die Theologie die Präexistenz der Tora als Gesetz des Alten Bundes bekräftigt,5 so ist die Grundlage des Kindesschutzes im Alten Testament zu suchen. Nach dem ersten Heilshandeln Gottes an seinem Volk Israel, das er aus der Knechtschaft Ägypten herausgeführt hat6, bietet er Mose und den Gottestreuen einen Bund an.

„Mose stieg zu Gott [auf den Sinai] hinauf. Da rief ihm der Herr […] zu: Das sollst du […] den Israeliten verkünden: […] [….] Dann sprach Gott alle diese Worte [, offenbarte im Gesetz die zehn Gebote und darunter die Bestimmung]: [… 6. Gebot:] Du sollst nicht die Ehe brechen.“7

Ein „potenzielles Recht“ auf Ausübung von sexualisierter Gewalt gegenüber denen außerhalb (und innerhalb) der Ehe (KKK 1646 und KKK 1652), ist daher niemals mit dem göttlichen Gebot zu vereinbaren gewesen. Dennoch hat der Begriff aufgrund seines umfassenden Gebrauchs in dieser causa Eingang in den Rechtstext gefunden. Er ist bis heute in der Kanonistik zentral. Es besteht daher seit Anbeginn der geoffenbarten Glaubensquelle ein Rechtsgebot, welche sich gegen sexualisierte Gewalt an Minderjährigen [und jede rechtsfähige8 Personen] richtet.9 Das Zuwiderhandeln gegen das sechste Gebot des Dekalogs ist ein Glaubensdelikt (delicta contra fidem necnon de delicta graviora).

Das geoffenbarte göttliche Gesetz, bildet durchgehend in der Kirchenrechtsgeschichte den theologischen Angelpunkt.10 Sachlich ist für die Ahndung der Delikte die II. Sektion des Dikasteriums für die Glaubenslehre als Organ zur Aufrechterhaltung des göttlichen Gebots und des daran ansetzenden kanonischen Rechts (Art. 70, 76 PE) zuständig. Sie agiert im Bedarfsfall als „Sondergerichtshof“ der Katholischen Kirche und wird „Disziplinarsektion“ genannt. Sie ist der Teilgewalt der Verwaltung zugeordnet. Die verfassungsrechtliche Grundlage für die Strafgewalt fußt in Art. 76 § 1 PE.

Art. 76 § 1: Die Sektion für die Disziplin befasst sich durch das Disziplinaramt mit den dem Dikasterium reservierten Straftaten[…].

Die betreffenden Delikte werden bemerkenswerterweise nicht im CIC oder im CCEO festgehalten, sondern sind als Normae 2021 außerkodikarisch festgelegt.11

Schwerwiegende von Klerikern begangene Delikte gegen das sechste Gebot gegen Minderjährige, die das 18. Lebensjahr nicht vollendet haben oder gegen Schutzbedürftige, die in ihrem habituellen Gebrauch der Vernunft eingeschränkt sind, werden in dieser Disziplinarsektion bearbeitet (vgl. Art. 6 Normae 2021).12 Papst Franziskus hat daran festgehalten, dass eine Verfehlung gegenüber den zu Schützenden nicht nur kirchenstrafrechtlich relevant, sondern primär ein Glaubensdelikt ist, welches sich gegen ein göttliches Gebot richtet und daher am Glaubensdikasterium angesiedelt ist.

Österreichs Teilkirchen folgen den universalrechtlichen Kinderschutzvorgaben

Diese Bestimmung hat weiters in Kombination mit der Aufforderung an die Ordinarien der einzelnen Teilkirchen (zumeist Diözesen), partikularrechtliche Schutznormen zum Schutz vor Delikten gemäß der Normae 2021 und insb. Art. 6 leg. cit. zu erlassen.13

„Auch wenn das Dokument sich an die Bischofskonferenzen richtet, so stellt der erste Satz des Schreibens deutlich dar, dass es zu den „wichtigen Verantwortlichkeiten des Diözesanbischofs im Hinblick auf die Sicherung des Gemeinwohls der Gläubigen und insbesondere auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen gehört […], auf eventuelle Fälle sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker in seiner Diözese angemessen zu reagieren.“ Das Schreiben fordert daher die Bischöfe in den Bischofskonferenzen auf, sich gegenseitig bei der Erarbeitung des Partikularrechts zu unterstützen. Da es aber in der Verantwortung des einzelnen Ordinarius verbleibt, wird der Bischofskonferenz kein Mandat für die Gesetzgebung übertragen.“14

Dieser Aufforderung kommen die elf österreichischen Gesetzgeber in ihren Teilkirchen seit 2011 beständig nach. Zuletzt wurde 2021 die dritte Fassung der Rahmenordnung „Die Wahrheit wird Euch freimachen“ als Partikulargesetz iSv c. 455 § 4 CIC erlassen. Die Rahmenordnung trat mit 1. September 2021 in Kraft.15 Abschnitt C.1 RO 21/§ 1 VerfO 21 regelt dabei den örtlichen und sachlichen Geltungsbereich festgelegt.

Sachlich ist der jeweilige Diözesanbischof verantwortlich und zuständig, das erlassene Partikularrecht in seiner Diözese umzusetzen. […]“. Örtlich ist der jeweilige Diözesanbischof, also der Vorstand der Teilkirche, für die Verfolgung von „Handlungen von sexuellen Missbrauch und/oder Gewaltanwendung, die durch die Kleriker, Ordensleute oder haupt- und ehrenamtlichen […] Mitarbeiterinnen und -mitarbeiter von Einrichtungen der römisch-katholischen Kirche […] gegenüber Minderjährigen bzw. schutzbedürftigen Erwachsenen verübt werden“ zuständig, auf dessen Gebiet die Tat begangen wurde. […].16

Gemäß C.1.1/§ 2 VerfO wird zwischen physischer, psychischer und sexueller Gewalt und dem Missbrauch unterschieden. „Unter sexuellem Missbrauch werden jedenfalls jene Handlungen verstanden, die in Art. 6 § 1 Normae umschrieben sind. […]. Unter [einer] Gewaltanwendung wird ein körperlicher Angriff, die Drohung mit einem solchen oder ein die psychische Gesundheit erheblich beeinträchtigendes Verhalten verstanden.“ „Minderjährige sind sowohl nach österreichischem staatlichem Recht als auch nach katholischem Kirchenrecht Personen, die das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet haben.“17 Das Partikularrecht der österreichischen Teilkirchen stellt nicht nur die Delikte gemäß Art. 6 Normae 2021, sondern auch eine Vielzahl weiterer relevanter Verhaltensweisen und Taten ihrer Verpflichteten unter Strafe.

„Kinderschutz ist Chefsache“

2014 hat Papst Franziskus die päpstliche Kinderschutzkommission eingerichtet. Damit hat er primär ein beratendes Expert:innengremium gegründet, welches er auch rechtlich in die Römische Kurie integriert hat. Art 78 PE verankert diese als Teil des Dikasteriums für die Glaubenslehre. „Die Kommission sei im Dikasterium für die Glaubenslehre eingerichtet worden, um sich mit sexuellem Missbrauch durch Mitglieder des Klerus zu befassen, so Franziskus.“18 Der Blick in die organisatorische Verfassung der Kurie macht dies deutlich:

Art. 78 § 1. Die Päpstliche Kommission für den Schutz der Minderjährigen, die im Dikasterium eingerichtet ist, hat die Aufgabe, den Papst zu beraten und geeignete Initiativen zum Schutz der Minderjährigen und schutzbedürftiger Personen vorzuschlagen.

§ 2. Die Päpstliche Kommission unterstützt die Diözesan-/ Eparchialbischöfe, die Bischofskonferenzen […] mit Hilfe von Leitlinien […] und geeigneter Verfahren, um Minderjährige und schutzbedürftige Personen vor sexuellem Missbrauch zu schützen […].

§ 3. Die Mitglieder der Päpstlichen Kommission werden vom Papst […] ernannt und aus [… einem] Kreis […] ausgewählt, […der] sich durch Wissenschaft, erwiesene Befähigung und pastorale Erfahrung auszeichnen. § 4. […]

Gemäß § Art. 78 (5) PE liegt der Arbeit als Ausführungsbestimmung ein Rechtsdokument nach Art der Regolamenta zugrunde.19 Das ist eine päpstlich genehmigte Geschäftsordnung.

Ein anderer „eiliger Vater“

Legistisch lassen sich seit dem Pontifikatsbeginn20 (13.03.2023) bei Rhode 127 (Stichtag 17.06.2023) Gesetzesgebungsakte („Norme extra-codiciali vigenti Chiesa latina“) durch den Papst oder in seinem Auftrag nachweisen. Viele erließ der Papst in Form eines Motu proprio selbst. Mindestens 6 haben davon unmittelbar mit dem Schutz vor Missbrauch und Gewalt zu tun.21 Eine Vielzahl von mittelbaren Entscheidungen – wie etwa die Kurienreform durch die AK PE – wirkt sich darauf aus.22

Unterstützend versucht beispielsweise die II. Sektion des Dikasteriums für die Glaubenslehre dem durch ein Vademecum inklusive einer verfahrensrechtlich-relevanten Tabelle für Ordinarien diese am laufenden Stand zu halten. 23 Sie kommt dabei ihrer Aufgabe nach Art. 78 (3) PE nach. Papst Franziskus selbst sieht seine Gesetzgebungakte als eine anlassbezogene, auf Erfahrungswerten aufbauende Gesetzgebung und Rechtsentwicklung an. Er scheut nicht davor, (Teil-)novellen zu promulgieren. Franziskus selbst sieht diesen Gesetzgebungsprozess als einen induktiven Prozess. Der Hl. Vater betont dabei:

Als Hilfsmittel erlaube ich mir, euch einige wichtige Kriterien mitzugeben, die von den verschiedenen Kommissionen und Bischofskonferenzen erarbeitet wurden – sie stammen von euch, ich habe sie ein wenig zusammengestellt.24

Die einzelnen Bischöfe, die Rahmenordnungen gegen Missbrauch und Gewalt zu erlassen haben, sind nicht nur mit den schnellen Änderungen des universalen Rechts konfrontiert, sondern auch mit den notwendigen Änderungen im betreffenden Partikularrecht, welchem entweder durch das universale Recht derogiert wird oder an das novellierte universale Recht anzupassen ist.

Es ist uns bewusst, dass die Bemühungen um Schutz vor Gewalt und Missbrauch niemals als abgeschlossen betrachtet werden können.25

Das beständige Recht wird dabei in einem Modus vivendi wie bei einem Code of Conduct eingesetzt. Kurzlebigkeit, legistische und sprachliche Ungenauigkeiten und unübersichtliche Novellierungen prägen dabei die Rechtskultur. Ob dies für den universellen Geltungsbereich der Gesamtkirche der bestmögliche Modus operandi ist, darf kritisch hinterfragt werden.

Anmerkungen

1 Vgl. beispielsweise zu Deutschland https://www.katholisch.de/thema/563-missbrauch#. Das Titelzitat wurde dem Schreiben des Papstes zur Veröffentlichung der Geschäftsordnung der päpstlichen Kinderschutzkommission Comunicato della Pontificia Commissione per la Tutela dei Minori, vom 17.02.2018, online unter https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2018/02/17/0137/00280.html#ing [Abruf: 14.08.2023] entnommen.

2 KATAPULT, Instagram-Post vom 29.06.2023 [Abruf: 14.08.2023]. Katapult beruft sich dabei auf eine Veröffentlichung von zdf.de.

3 Gebet und Schuldbekenntnis von Christoph Kardinal Schönborn beim Bußgottesdienst am 31.03.2010. Es ist als paränetische Invocatio Dei der Rahmenordnung idgF ab 01.11.2021 vorangestellt. Vgl. Amtsblatt der Österr. Bischofskonferenz Nr. 2021/85.

4 Vgl. zum Begriff Pree, Allgemein Normen (1983), 20 in Bezug auf den Missbrauch von Freiheitsrechten.

5 Wenn die Thora als geoffenbartes Gesetz theologisch als Präexistent angesehen wird, so ist die theologische Aussage zulässig, dass der Schutz vor sexualisierter Gewalt von Gott bereits vor der Offenbarung des Gesetzes grundgelegt ist, durch das sechste Gebot jedoch den Menschen erstmals geoffenbart wurde.

6 Ex 1–15.

7 Ex 19,3–20,21 in Auszügen.

8 Die gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen seit dieser Zeit sind zu berücksichtigen. Unter einer rechtsfähigen Person ist eine Person mit der Fähigkeit Träger von Rechten und Pflichten zu sein zu verstehen..

9 Vgl. auch KKK 1704.

10 Es ist jedoch nicht die erste kanonistische Bestimmung zum Schutz vor Missbrauch und Gewalt. Als universalrechtliche Quellen sind die Rechtsdokumente Crimen Sollicitis (CS) 1922 und 1962 zu beachten. 2001 erließ Johannes Paul II. das Motu proprio Sacramentorum sanctitatis tutela (SST 2001) und damit verbundene unveröffentlichte Normae 2001. Diese Normae verändert er 2004 (Normae 2001 idF 2004). 2010 werden die Normae nach SST 2001 von Benedikt XVI. (2005–2013) durch das gleichlautente Motu proprio Sacramentorum sanctitatis tutela 2010 (SST 2010) präzisiert. Nun werden mit SST 2010 die Normae 2010 (bzw. Normae 2001 idF 2010) veröffentlicht. Franziskus beginnt 2019 intensiv die Normae idF 2010 abzuändern. Den Auftakt setzt das MP Vos estis lux mundi (VELM 2019) zum Schutz der Minderjährigen. 2021 werden die Normae 2021 neu promulgiert. Ein erneuertes MP VELM 2023 schließt daran an. Vgl. zur kirchlichen Rechtsgeschichte der Schutzbestimmung Beal, The 1962 Instruction Crimen sollicitationis. Caught red-handed or handed a red herring?, in: Studia canonica 41 (2007), 199–236. Vgl. Zur Rechtsgeschichte und Legistik einerseits die Datenbank von Rhode, der verdienstvoll die außerkodikarischen Normen sammelt unter https://www.iuscangreg.it/diritto_universale.php [Abruf 14.08.2023] und die Erläuterungen unter Pichler, Geistliche Amtsverschwiegenheit und Beichtgeheimnis im Kirchenrecht sowie im österreichischen und deutschen Religionsrecht (unveröffentlichte Dissertation 2023).

11 Vgl. hierzu die Promulgation der Normae 21 als MP online unter https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2021/12/07/0825/01733.html [Abruf: 14.08.2023]. Innerhalb der beiden universalrechtlichen Rechtsmaterien (CIC und CCEO) verweist trotz jüngster Strafrechtsreform von 2022 beispielsweise nur eine Bestimmung (bsp. c. 1395 § 1–3 CIC) auf die Delikte Contra sextum. Warum dabei die Normae 2021 nicht in das novellierte kanonische Strafrecht integriert wurden, bleibt unklar. Es hebt jedoch die Eigenständigkeit der Disziplinarsektion hervor, die durch die Normae 2021 nicht nur materielles Strafrecht, sondern auch ein eigenes Prozessrecht für Verwaltungsverfahren in dieser Sektion erhalten hat.“

12 Dies ist eine paraphrasierende Übersetzung des Verfassers. Die Zuständigkeit des Dikasteriums in einem Contra-sextum-Fall ist leicht anhand von zwei Leitfragen zu erkennen: 1) Ist der potentielle Täter Kleriker? 2) Ist das potenzielle Opfer unter 18 Jahre und daher im Sinne des kanonischen Rechts minderjährig oder ein (möglicherweise über 18-jähriger erwachsener) Mensch, der schutzbedürftig ist, weil er in seinem habituellen Vernunftgebrauch eingeschränkt ist. Nur wenn beide Fragen positiv zu beantworten sind, ist die sachliche Zuständigkeit der Zweiten Sektion in diesen Fällen gegeben.

13 Vgl. zur Pflicht Kongregation für die Glaubenslehre, Rundschreiben, um den Bischofskonferenzen zu helfen, Leitlinien für die Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen durch Kleriker zu erstellen (3. Mai 2011).

14 Pichler, Geistliche Amtsverschwiegenheit (2023), 413 Fn. 1767. Das Zitat ist dem Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre, Vademecum zu einigen Fragen in den Verfahren zur Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker (16.07.2020) entnommen.

15 Präambel Amtsblatt Biko 2021/85.

16 Pichler, Geistliche Amtsverschwiegenheit, 415 iVm C.1 RO 21/§ 1 VerfO 21.

17 C.1.1 RO 21/§ 2 VerfO 21. Beachte jedoch §6 VerfO 21:„Fälle von Mobbing, Stalking, sexueller oder anderer Diskriminierung am Arbeitsplatz oder sonstige Verstöße gegen das Gleichbehandlungs- gesetz (LINK Glosse RuR Pichler https://rechtundreligion.at/2023/04/19/kommentar-zu-ogh-vom-19-12-20229-oba-124-22h/) sowie Verletzungen der Aufsichts- oder Obsorgepflicht werden von dieser Verfahrensordnung nicht erfasst. […].“

18 Heckel, vat.news vom 29.4.2022: https://www.vaticannews.va/de/papst/news/2022-04/papst-kinderschutz-kommission-praedicate-evangelium-dikasterium.html [Abruf: 10.08.2023]. Ebenso ist die Zwischenüberschrift „Kinderschutz ist Chefsache“ diesem Artikel entnommen.

19 Die Statutes of the Pontifical Commission for the Protection of minors vom 08.05.2015 wurden auf Anordnung des Hl. Vaters Franziskus durch den Staatssekretär online unter https://press.vatican.va/content/salastampa/it/bollettino/pubblico/2015/05/08/0348/00772.html [Abruf: 14.08.2023] in englischer Sprache veröffentlicht.

20 Papst Johannes Paul II. wurde gelegentlich salopp aufgrund seiner häufigen Reisen als der (H)eiliger Vater bezeichnet. Papst Franziskus scheut analog dazu nicht davor zurück, Gesetzgebungs-akte durchzuführen.

21 Vgl. hierzu insb. Franziskus, Tutela dei minori nella Curia Romana e nelle nunziature apostoliche, in: AAS 111 (2019), 485–487; Franziskus, Riservatezza delle cause, in: AAS 112 (2020), 112–113; vgl. Franziskus, In riferimento, in: AAS 112 (2022), 633; vgl. Franziskus, AK Pascite gregem Dei, in: AAS 113 (2021), 537–555; und vgl. Franziskus, Vos estis lux mundi, in: OR 163 (2023), 8–10 iVm VELM 2019.

22 Vgl. insb. die Bestimmungen zum Glaubensdikasteriums in Franziskus, AK Praedikate Evangelium in: OR 162 (2022), I–XII

23 Dikasterium für die Glaubenslehre, Vademecum zur Behandlung von Fällen sexuellen Missbrauchs Minderjähriger durch Kleriker Ver. 2.0 vom 05.06.2022, dort Teil II, online unter: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/ddf/rc_ddf_doc_20220605_vademecum-casi-abuso-2.0_ge.html [Abruf: 14.08.2023].

24 Expertentreffen mit dem Gesetzgeber zum Thema „Der Schutz von Minderjährigen in der Kirche“, vom 21. Februar 2019. Zitiert nach Amtsblatt der Österr. Bischofskonferenz Nr. 85/2021, 21 dort Fn. 20.

25 Die Diözesanbischöfe Küng und Schönborn im Vorwort zur zweiten Auflage der Rahmenordnung gegen Missbrauch und Gewalt 2016 (RO 16). Vgl. Amtsblatt der österreichischen Bischofskonferenz Nr. 70/2016.


Titelbild: crysmyri / Pixabay

Das Gesetz alleine rettet nicht oder Barmherzigkeit im Dienst des Rechts. Visionen und Gedanken über das Recht bei Papst Franziskus als Bausteine zu einer Rechtstheorie

Von Harald Tripp.

DOI: 10.25365/phaidra.434

In den letzten Jahren wurde im Bereich des kanonischen Rechts immer wieder die Frage nach dem Rechtscharakter diskutiert, gerade auch auf das Wesen der Kirchenrechtswissenschaft. Dabei wurde immer wieder festgestellt, dass Rechtstheorie zwar an sich theologieunabhängig sei, letztlich aber dem Wesen der Kirche als Heilsgemeinschaft entsprochen oder angepasst werden müsste. Dabei müsse eine Präzisierung der Begriffe erfolgen, die Wesen, Aufgabe und Stellenwert des Rechts näher durchdringt, damit der Blick frei werden kann für die Schwächen eines Systems und die Möglichkeiten einer Weiterentwicklung. In den zehn Jahren seit seiner Wahl ist Papst Franziskus ein aktiver Gesetzgeber gewesen. Neben seinen weithin bekannten Reformen gab es viele andere bedeutende, aber versteckte Gesetzesänderungen. Bei der Durchführung dieser Änderungen hat Papst Franziskus meist alleine gehandelt. Die Abteilungen des Vatikans, die normalerweise neue Gesetze überwachen und mit bestehenden Gesetzen in Einklang bringen, wurden an den Rand gedrängt. Welche sind der Rechtsbegriff und die Grundlagen der Gesetzgebung bei Papst Franziskus? Wie lässt sich ein Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft im Rechtsbegriff bei Papst Franziskus ausmachen? Die Ausführungen in diesem Beitrag wollen daher Bausteine sein im Blick auf eine mögliche Rechtstheorie, die zu einem fruchtbaren Austausch zwischen Kirche und Welt beitragen kann und dabei hilft, eine Sensibilität zu entwickeln, welche Elemente des profanen Rechts mit dem Recht der Kirche kompatibel sind und welche nicht.

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Titelbild: crysmyri / Pixabay