Die physische Strecke zwischen zwei Menschen heißt Abstand und ist zwei Meter lang

Sonntagmorgen, 06:45 Uhr, kurz nach Sonnenaufgang. Nach mehreren Tagen des Leidens an einer Krankheit, die zu diesem Zeitpunkt viele Zeitgenossen betrifft, verstirbt Albin im Jahr 1374 in einem Quarantänelager in Reggio nell’Emilia. Er sollte dort vierzig (quaranta) Tage ausharren, um keine Krankheiten in die Stadt hineinzutragen, wo er Handel treiben wollte. Die Morgensonne steigt langsam am Horizont empor, niemand ist im Moment des Todes dabei. Albin verstirbt mit seitlicher Kopflage und Blick zum Fenster hinaus in die aufgehende Sonne. Niemand darf danach seinen Leichnam besuchen. „Er war gläubig und hat auf Christus gehofft“, wird der Priester in seiner Seelenmesse zu den wenigen Anwesenden sagen.

Sie denken, dass diese Schilderung eine mittelalterliche Erzählung und historische Glosse ist? Leider nein, sie ist (wieder) Realität geworden. Das Begleiten von Erkrankten und Sterbenden durch Seelsorgende steht naturgemäß in einem Spannungsverhältnis zu Abstandsregeln, dem Sich-Fernhalten und Absonderungsregeln zur Eindämmung von Erregern, die für Mitmenschen gefährlich sind. Wenn ein vielzitierter Ausspruch Seelsorgender lautet, dass „an der Hand eines Menschen gestorben werden soll“, so sind Absonderungsbescheide garstige, breite Gräben, welche denen, die den Erkrankten beistehen schier unüberwindlich erscheinen.

Das Wort „Quarantäne“ kommt aus den romanischen Sprachgruppen des Französischen und des Italienischen und nimmt auf eine vierzigtägige Zeitspanne Bezug. In dieser Zeit wurde ein sichtlich oder potenziell erkrankter Mensch an einem bestimmten Ort abgesondert. Dort wurde überwacht, ob er Krankheitssymptome zeigte oder in Folge erkrankte. Die Quarantäne endete mit Zeitablauf oder durch Tod. Absonderung und Isolation werden heute in Österreich als Synonyme verwendet.

Erinnern wir uns an das Jahr 2021, also das Vorjahr: Da lautete die Geschichte, also der Bericht über das Geschehene so: In vorpandemischen Zeitabschnitten hätte die Pflegekraft wie folgt gehandelt: „Nach einem Sterbefall richtet sie die toten Patienten für Angehörige noch her, macht die Haare, wenn Hinterbliebene im würdigen Rahmen Abschied nehmen wollen. Nicht so bei hochinfektiösen Leichen, wie sie dieser Tage oft vorkommen: ,Coronavirus-Tote steckst du nackt in einen luftdicht verschlossenen Plastiksack, zippst zu und das war’s.‘ Jeder Coronavirus-Todesfall sei auch für langdienende Pflegerinnen […] eine enorme psychische Belastung. ,Keiner draußen kann sich vorstellen, was das bedeutet‘“ (ORF).

Kirchliche und staatliche Regeln zur Pandemie gibt es schon länger

Was sich in den letzten 600 Jahren zwischen diesen beiden Szenen nicht geändert hat, ist, dass in Seuchen- und Pandemiezeiten eine Flut an sowohl kirchlichen als auch staatlichen Normen den Alltag des (religiösen) Menschen zu regeln versucht. Was sich jedoch geändert hat ist die Präsenz religiöser Regelungen in der Öffentlichkeit. Wurde noch in Pestzeiten die tägliche Hl. Messe am Wiener Graben so zelebriert, dass die, die in häuslicher Absonderung lebten an der Haustür oder am Fenster teilnehmen konnten und der Gottesdienst daher von niemandem ausgelassen werden musste, so ist heute nur mehr eine kleine Gruppe von Gottesdienstteilnehmenden in den Kirchen mit Abstandsregeln, Maskenpflicht, Singverbot und Desinfektionsspendern konfrontiert. Vieles, was früher die kirchliche Ordnung für das Abstandhalten vorsah, verordnet heute der Staat. Schauen wir uns diese Regeln in Auszügen an:

Infektionsordnungen (InfO) gab es unter anderem 1540, 1551, 1562, 1597, 1617, 1654, 1656, ab 1913 ein Epidemiegesetz (EpG)

Detailliert regelt die 1521 im Herzogtum Steiermark erlassene Pestordnung das religiöse Alltagsleben, weil der physische Kontakt unter Menschen bei der Religionsausübung damals alltäglich ist (Hiersche, Sanitätspolizeiliche Bekämpfung übertragbarer Krankheiten (2010), 14). 1551 lässt sich eine Infektionsordnung mit einer Anzeigepflicht der Erkrankung und dem Namen der erkrankten Person an den Magister Sanitatis nachweisen. Erzherzogin Maria Theresia lässt 1770 den seit 1728 an der Grenze zum Osmanischen Reich bestehenden Pestkordon mit einer Länge von 1900 km einrichten. Sie regelt 1770 im Hauptsanitätsnormativ diese Schutzzone, die vor Krankheitseinschleppungen sichern soll. Ein Beherbergungsverbot und die aufoktroyierte Schließung von Gaststätten lassen sich bereits 1562 nachweisen. Die Gastronomie muss auch bereits 1551 mit erzwungenen Sperrstunden leben (Langeder, Die rechtliche Entwicklung der Pestbekämpfung im Österreich der frühen Neuzeit (1996), 71; 77). War es zuvor die Pest, so quälte den Menschen danach die Cholera oder die Ruhr. Rechtssystematisch und -historisch führte dies 1913 zum ersten Epidemiegesetz in Österreich (Hiersche (2010), 17).

Seelsorge und Pandemie in der Katholischen Kirche im Jahr 2022

Der Umgang mit Krankheiten und Seuchen durch das für den Gottesdienst zusammenkommenden Gottesvolk wird bereits in der Hl. Schrift im Kapitel Lev 13,1–46 für das Volk Israel geregelt. War damals die Gottesdienstgemeinde mit dem in Stammes- und Familienverband lebenden, teils nomadisch umherziehenden, Gottesvolk ident, so bildet das Gottesvolk der Teilkirchen heute weitaus weniger eine einheitliche Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft. Für klösterliche Lebensformen ist dies aber nach wie vor zu bejahen.
Derzeit ist die 19. „Rahmenordnung der Österreichischen Bischofskonferenz zur Feier öffentlicher Gottesdienste“ (wirksam ab 12.12.2021) in Kraft. 18 Versionen gingen dieser seit dem 15. Mai 2020 voraus. Davor betraf ein Lockdown auch den Gemeindegottesdienst. Dieser war aber nicht staatlicherseits, sondern kirchlicherseits als innere Angelegenheit verordnet. Diese Rahmenordnungen werden von den fachversierten Organen der Bischofskonferenz erarbeitet, müssen aber von den Diözesanbischöfen jeweils für ihre Teilkirche/Diözese eigenständig in Kraft gesetzt werden, weil die Bischofskonferenz keine Befugnis für das Gebiet der von ihr erfassten Bistümer hat. Dies geschieht durch neuerliche Verlautbarung in den diözesanen Amts- oder Verordnungsblättern, die analog zum Bundesgesetzblatt existieren (Vgl. c. 8 § 2 CIC). Vielfältig regeln die Rahmenordnungen hygienespezifische Materien bei der Zusammenkunft zur Sonntagsmesse und bei anderen Feiern anlässlich der Spendung eines Sakraments. Sie richten sich nach den aktuellen Verordnungen der staatlichen Autorität (bsp.weise COVID-19-MGG StF: BGBl. I Nr. 12/2020 idF BGBl. I Nr. 255/2021; 6. COVID-19-SchuMaV StF: BGBl. II Nr. 537/2021 idF BGBl. II Nr. 6/2022). Auf ein korrespondierendes staatliches Dokument bezog sich die „Infektions-Ordnung für das Fürstliche Erzstift Salzburg 1547“ noch nicht (Flamm, Die ersten Infektions- oder Pest-Ordnungen in den österr. Erblanden (2008), 63f). Staatliche und religiöse Obrigkeit fielen schlichtweg zusammen.

Grüner Pass

Schon 1577 ist von einem Gesundheitspass die Rede. Wer ihn nicht beibringen kann, ist mit anderen in einem Lazarett zu behandeln (Langeder (1996), 77). Auch die Statistik über Genesene, Erkrankte und Verstorbene ist nichts Neues: Schon 1617 sieht eine Infektionsordnung (InfO) vor, dass die betreffenden Personen zu registrieren sind. (Langeder (1996), 94). Zwar wurden diese Daten nicht tagesaktuell allen Bürgern zur Verfügung gestellt, jedoch war bei der staatlichen Obrigkeit ein gewisses Interesse an der Statistik vorhanden. Auch das religionsfeindliche Regime des Nationalsozialismus kannte einen Gesundheitspass i. S. e. Ausweisdokumentes für gesunde Menschen, war aber in erster Linie von rassistischen Kriterien bestimmt.

Quelle: Twitter.com. Dort nicht näher beschrieben.

„Gebt uns die Hl. Messe wieder“

Eine kleine Gruppe von aufgebrachten Gläubigen forderte im ersten Lockdown der Pandemie 2020 und dem Gottesdienstverbot medienwirksam die „Rückgabe“ der Eucharistiefeier. Sie wollte damit wieder öffentliche Gottesdienste mit Gemeindeteilnahme erwirken aber sah sich nicht durch den Staat um die Rechte der freien Religionsausübung des Art. 14 StGG, Art. 63 StVStG oder Art. 9 EMRK, sondern von der kirchlichen Autorität um die Möglichkeit der Gottesdienstteilnahme gebracht.
Schon 1654 sah die damalige Infektionsordnung vor, dass mit dem Versammlungsverbot im Pandemiefall ein Verbot von Kirchtagsfeiern und Kirchweihfesten einherging. Es sollten Jahrmärkte und Bäderanstalten gemieden werden. Das Zusammenkommen bei Hochzeiten, Taufen und Messen wurde streng reglementiert (Langeder (1996), 107). Ähnliche Regelungen finden sich in den Bestimmungen der österr. Bischofskonferenz (s.o.) wieder. Und letztlich sollte auch ein dunkles und trauriges Kapitel nicht vergessen werden: 1710 lässt sich aufgrund von sanitätsrechtlichen Bestimmungen auch eine Judenvertreibung feststellen (Langeder (1996), 117). 1679 begründete Kaiser Leopold I., dass die Pest in Wien grassierte mit folgender Aussage: „Dieweil kein Zweifel/ daß die leydige Seuch der Pest (…) sowohl als andere Plagen und Straffen daher kommen (…) daß sich kein Mensch von Gott abwend (…)“ (Hiersche (2010), 14f). Dass dies judenfeindlichen Haltungen und Pogromen in die Tasche spielte, bleibt vernunftbedingt ein historisches Relikt.

Impfen oder Zuhausebleiben?

Interessanterweise befasste sich der österr. Episkopat 2020 nicht zum ersten Mal mit dem Thema „Impfung“. In der Diözese Seckau lässt sich für den Zeitraum 1781–1886 immer wieder die Frage einer Impfpflicht für Kleriker und auch für das Gottesvolk nachweisen (DAGS, Ordinariatsakten Seckau, jew. Zeitraum). Für die akute Pandemie sprachen sich österr. Hirten für eine temporäre Impfpflicht als ultima ratio aus. Dass Kranke zuhause bleiben sollen, ist nach wie vor ein wesentliches Credo der Rahmenordnung für die katholischen Gottesdienste. Unter hygienischen Vorsichtsmaßnahmen sollen aber Hausgottesdienste gefeiert und Krankenkommunionen ans Bett gebracht werden.

Der Abstand zwischen Gott und dem Menschen ist physisch inexistent und hat keine Länge.

Unlängst berichtete mir ein aufgebrachter Wiener Seelsorger, dass er trotz dreifacher Impfung eine Krebspatientin im Endstadium ihrer Krankheit im Spital nicht besuchen durfte, weil er keinen gültigen PCR-Test vorzeigen konnte. Zwischenmenschlich ein heikler Fall, bei dem der Frust auf beiden Seiten deutlich zum Vorschein kommt. Einerseits ist die Patientin in absehbarer Zeit mit dem Tod konfrontiert und einsam in ihrem Einzelzimmer, andererseits soll der Seelsorger weder Spitalsbelegschaft noch anderes Pflegepersonal gefährden. Seelsorge ist mit Sicherheit keine Tätigkeit, die ohne Probleme ins Digitale verlegt werden kann. Sie braucht den physischen und zwischenmenschlichen Kontakt an einem Ort des Zusammenkommens. Beispielsweise ist in der Katholischen Kirche nur so das Spenden des Bußsakramentes möglich. Die Frage, ob eine Telefonbeichte gültig wäre, ist bisher nicht eindeutig geklärt (Ohly, HdbkathKR § 79, 1184). Dieses Thema wurde in Zeiten der Coronapandemie wieder aufgeworfen. Auch sollte Seelsorgenden bewusst sein, dass ihre Tätigkeit und der vielfache direkte Kontakt in Pandemiezeiten sie potenziell zu risikobehafteten Krankheitsüberträgern und -trägerinnen werden lässt: Alleine deswegen sollten sie Vorbilder beim Einhalten der Maskenpflicht und der epidemiologischen Schutzmaßnahmen sein. Derzeit erschwert die Pandemie das Vollbringen der Werke der Barmherzigkeit. Fest steht dabei dennoch: Hungernde speisen, Dürstenden zu trinken geben, Nackte bekleiden, Fremde aufnehmen, Kranke pflegen, Gefangene besuchen und Tote begraben (Mt 25,34–46 / Tob 1,17–20) sind keine Dinge, die via Zoom vollbracht werden können. Seelsorge benötigt das Unterschreiten des Abstandes und die Nähe zu den Menschen. Nur dann wird den Gläubigen ersichtlich, dass Gott ihnen sogar noch näher ist als der Mitmensch.

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DOI:
10.25365/phaidra.318