Homophobe Äußerungen, ein Bischof und die Grenzen der Meinungsfreiheit. Kurzkommentar zu EGMR 31.08.2023 – 47833/20, Amvrosios-Athanasios Lenis ./. Griechenland

Von Andreas KowatschORCID logo

DOI: 10.25365/phaidra.435

1. Was ist geschehen?

Amvrosios Lenis ist als Metropolit von Kalavryta und Egialia im Norden der Halbinsel Peloponnes einer der höchsten Repräsentanten der Griechisch-Orthodoxen Kirche in Griechenland. Im Dezember 2015 verfasste er anlässlich einer Parlamentsdebatte um die Einführung einer rechtlichen Regelung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften einen Beitrag auf seinem persönlichen Blog mit der Überschrift „Der Bodensatz der Gesellschaft hat seine Häupter erhoben. Seien wir ehrlich: Spuckt auf sie![1]. Homosexualität sei eine Abweichung von den Gesetzen der Natur, ein soziales Verbrechen und eine Sünde. Homosexuelle und jene, die sie unterstützen, seien keine normalen Leute, sondern der Abschaum der Gesellschaft, Menschen mit einer geistigen und spirituellen Störung, auf die man spucken solle. Die Tiraden wurden von mehreren Medien online weiterverbreitet. In einer anschließenden Klarstellung versuchte der Bischof eher halbherzig, seine Aussagen in den Kontext bloßer politischer Kritik an einzelnen Abgeordneten zu stellen. Nach der innerstaatlichen Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe rief der Metropolit den EGMR an und brachte vor, von Griechenland im Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt worden zu sein.

2. Die Zurückweisung der Klage durch den EGMR

Bereits 1976 hatte der Gerichtshof in der Rechtssache „Handyside[2] die zentrale Rolle der Meinungsfreiheit für die Demokratie und die Entwicklung eines jeden Menschen betont. Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit verlangen auch die Freiheit für Äußerungen, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung beleidigen, schockieren oder stören. Ausnahmen müssen daher streng ausgelegt und die Notwendigkeit von Einschränkungen muss überzeugend begründet werden.

An diese Rechtsprechung knüpft der EGMR im vorliegenden Fall an. Gleich im Anschluss an grundsätzliche Aussagen zu Art. 10 EMRK bringt der Gerichtshof Art. 17 EMRK ins Spiel. Dieser Artikel verbietet den Missbrauch der in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen normierten Menschenrechte. Die Berufung auf ein Menschenrecht soll nicht dazu führen, dass dadurch die Grundwerte der EMRK infrage gestellt werden.[3] Als Bestimmung, die Missbräuche verhindern soll, ist Art. 17 EMRK nur in begründeten Ausnahmefällen einschlägig.

Im gesellschaftlichen Diskurs ist der Begriff „Hassrede“ weit verbreitet. Eine weithin akzeptierte rechtliche Definition gibt es dennoch weder im österreichischen noch im internationalen Recht. Allerdings ist nicht zuletzt auf völkerrechtlicher Ebene eine deutliche Tendenz festzustellen, dass neben erzieherischen und integrationsfördernden Maßnahmen zumindest gegen schwere Formen der Hassrede eine strafrechtliche Verfolgung durch die Staaten notwendig ist. Hassrede knüpft an der Zugehörigkeit einer Person zu einer Gruppe an oder wendet sich direkt gegen eine besondere Personengruppe, die sich durch bestimmte Merkmale wie ethnische Herkunft, Religion, sexuelle Orientierung oder Geschlecht abgrenzen lässt. Hassrede trägt stets etwas Gewaltvolles in sich, sei es, dass direkt zur Gewalt angestachelt wird, sei es, dass einzelnen Personengruppen das Menschsein oder die volle Zugehörigkeit zur Gesellschaft abgesprochen wird. In Österreich dient (neben dem VerbotsG 1947) vor allem § 283 StGB (Verhetzung) dazu, öffentlich vorgetragene Hassreden strafrechtlich verfolgen zu können. Daneben sind Beleidigungen als sog. Privatanklagedelikt durch § 115 StGB für strafbar erklärt. Der Tatbestand der Herabwürdigung religiöser Lehren (§ 188 StGB) ist im religiös-weltanschaulich neutralen Staat nicht unumstritten, verbietet in seinem Kern aber ebenfalls bestimmte hasserfüllte Meinungsäußerungen.

Ob es sich bei einer starken und aggressiven Kritik um eine Hassrede handelt, hängt nicht nur von den verwendeten Worten, sondern vom gesamten Kommunikationszusammenhang ab. So floss im Fall Lenis gegen Griechenland in die Entscheidung des EGMR nicht nur die inhaltliche Qualifikation der Äußerungen als Hassrede ein, sondern auch die besondere Rolle des Klägers innerhalb der griechischen Gesellschaft. Ein Metropolit habe die Macht, nicht nur seine eigene Gemeinde, sondern die orthodoxe Mehrheit der griechischen Bevölkerung zu beeinflussen.[4] Auch führt eine Verbreitung im Internet zu einer von vornherein nicht begrenzbaren Zahl von Adressaten, selbst wenn der eigentliche Blog nicht von vielen Usern wahrgenommen wird. Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Ausrichtung wiegen ebenso schwer wie Diskriminierungen aufgrund von „Rasse, Herkunft oder Hautfarbe“.[5]

Der EGMR unterscheidet in seiner Judikatur zwei Formen von Hassrede, für die die Anwendung von Art. 17 EMRK infrage kommt.[6] Die erste Kategorie bilden Hassreden, die zugleich zu konkreter Gewalt anstacheln. Hat der Kläger versucht, sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen, um eine Tätigkeit auszuüben oder Handlungen vorzunehmen (d. h. eine Hassrede zu veröffentlichen), die auf die Zerstörung der in der EMRK verankerten Rechte und Freiheiten abzielen, dann wird die Klage aufgrund der Sache selbst – ratione materiae – zurückgewiesen (Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK). Mit diesem Unzulässigkeitsgrund ist – etwas unpräzise ausgedrückt – die Aussage verknüpft, dass das Klagebegehren von vornherein nicht in den Anwendungsbereich der EMRK fällt.

In die zweite Kategorie fallen alle anderen Meinungsäußerungen, welche als Hassrede einzustufen sind. Auch wer eine solche Hassrede tätigt, kann sich im Ergebnis nicht auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen. Allerdings erfolgt die Prüfung, ob der Gerichtshof überhaupt in die Sachentscheidung eintritt oder die Klage zurückweist, im Rahmen des Art. 10 Abs. 2 EMRK. Ergibt sich unmittelbar, dass ein Eingriff in die Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft im Blick auf die Ziele des Abs. 2 notwendig und verhältnismäßig war, erfolgt eine Zurückweisung aufgrund der „offensichtlichen Unbegründetheit“ der Klage (Art. 35 Abs. 3 [a] und 4 EMRK).

Die Äußerungen des Bischofs wurden vom EGMR der ersten Kategorie zugezählt. Der Metropolit hatte versucht, die Meinungsfreiheit für Zwecke zu verwenden, die den Werten der Konvention zuwiderlaufen.[7] Die Klage wurde folgerichtig ratione materiae zurückgewiesen, womit die rechtliche Feststellung verbunden ist, dass die homophoben Äußerungen von Art. 10 EMRK nicht geschützt sind.

3. Kurzkommentar

Art. 17 EMRK enthält eine besondere Schutzbestimmung, die den Missbrauch von Grundrechten verhindern soll. Die einzelnen Rechte und die EMRK als ganze dürfen nicht so ausgelegt werden, dass eine Handlung geschützt ist, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist. Welche Rechtsfolgen aus dieser Bestimmung folgen, lässt sich allerdings weder nach ihrem Wortlaut noch ihrer systematischen Stellung im Kontext der EMRK genau bestimmen. Rechtsdogmatisch sind zwei unterschiedliche Lösungen möglich, die beide auch vom EGMR angewendet werden. Eine klare Linie der Judikatur fehlt bislang.

Der Missbrauch eines Grundrechts wird am effektivsten eingeschränkt, wenn von vornherein klargestellt wird, dass eine bestimmte Handlung vom betreffenden Grundrecht gar nicht geschützt wird. In juristischer Sprache bedeutet dies dann, dass diese Handlung nicht in den grundrechtlichen Schutzbereich fällt.

Der Missbrauch eines Grundrechts kann aber auch verhindert werden, wenn nicht die Handlung als solche aus dem Schutzbereich fällt, sondern wenn im Einzelfall Eingriffe in das Grundrecht gerechtfertigt sind. In einem ersten Schritt der rechtlichen Bewertung ist die Äußerung dann prinzipiell grundrechtlich geschützt. Auch der Hassredner darf sich hier legitimerweise auf die Meinungsfreiheit berufen. Eine staatliche Reaktion auf die Handlung, etwa in Gestalt einer strafgerichtlichen Verurteilung, stellt daher einen Eingriff ins Grundrecht dar. In einem notwendigen zweiten Schritt ist dann sogleich die Frage zu klären, ob der Eingriff gerechtfertigt war. Gerechtfertigt ist ein Eingriff in die Meinungsfreiheit dann, wenn drei Kriterien erfüllt sind.

Erstens muss der Eingriff aufgrund einer gesetzlichen Grundlage erfolgt sein. Dies korrespondiert in Österreich mit Art. 18 B-VG, der die Ausübung der staatlichen Verwaltung nur auf einer hinreichend klaren (bestimmten) gesetzlichen Grundlage erlaubt. Aus dem Gleichheitssatz der Verfassung (Art. 7 B-VG) folgt nach der Rechtsprechung des VfGH auch ein Verbot staatlicher Willkür.

Die zweite Voraussetzung für die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ist dessen Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Die Notwendigkeit ergibt sich immer erst aus der Verknüpfung mit einem bestimmten legitimen Ziel. Art. 10 Abs. 2 EMRK zählt eine ganze Reihe solcher Ziele auf (nationale oder öffentliche Sicherheit, territoriale Unversehrtheit, Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, Schutz der Gesundheit und der Moral, Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer). Ebenso legitim sind, bei Vorliegen der anderen Voraussetzungen, Eingriffe mit dem Ziel, die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu sichern.

Das dritte Kriterium ist mit der Notwendigkeit verknüpft und gibt ihr ein inneres Maß. Der Eingriff muss in seiner Gesamtheit, d. h. im Blick auf das gewählte Mittel und die Dringlichkeit des Zieles, sowie unter Berücksichtigung aller beteiligten rechtlich geschützten Interessen, verhältnismäßig[8] sein.

Die drei Kriterien bauen aufeinander auf, sodass sich eine Prüfung erübrigt, wenn keine gesetzliche Grundlage vorhanden ist. Fragen der Verhältnismäßigkeit stellen sich nicht, wenn ein Eingriff nicht notwendig ist, weil das Ziel ohne Weiteres auch ohne Beeinträchtigung von durch die EMRK geschützten Rechten erreicht werden kann.

In dieser zweiten Variante vervollständigt das Verbot des Grundrechtsmissbrauchs das Schema der Prüfung der Rechtfertigung. Art. 17 EMRK gibt der Prüfung des zweiten (Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft mit Blick auf ein legitimes Ziel) und dritten (Verhältnismäßigkeit) Kriteriums eine bestimmte Richtung. Liegt der Verdacht auf eine missbräuchliche Ausübung eines Konventionsrechts vor, erübrigt sich die Rechtfertigungsprüfung nicht. Soweit eine Handlung auf die Abschaffung von Grundrechten zielt oder die Berufung auf das Grundrecht diametral den Werten entgegensteht, die durch die Grundrechte eigentlich geschützt werden sollen, ist eine Einschränkung im Einzelfall aber besonders leicht als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ zu begründen. Auch die Verhältnismäßigkeit lässt sich einfacher argumentieren, wenn Art. 17 EMRK erfüllt ist.

Welche Lösung ist nun aber die sachgemäßere? Ein Ausschluss einer missbräuchlichen Handlung aus dem Schutzbereich des betreffenden Grundrechts hat den (scheinbaren?) Vorteil, rasch zu eindeutigen Lösungen zu gelangen. In der Tat ist gegenüber der demokratischen Gesellschaft erklärungsbedürftig, warum totalitäre Äußerungen, Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, maßlose Verspottung religiöser Gefühle mit dem Ziel, Gläubige der Lächerlichkeit preiszugeben oder vorteilsgeschwängerte homophobe Hassrede menschenrechtlich geschützt sein sollten. Der Ausschluss aus dem Schutzbereich ist ein scharfes Schwert in der Hand einer wehrhaften Demokratie, die allen Umtrieben, die direkt gegen sie oder ihre Grundwerte (Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus) gerichtet sind, so von vornherein den rechtlichen Schutz vorenthält. Eine solche Lösung entspricht auf den ersten Blick durchaus auch der Toleranz, die um ihrer selbst willen gegenüber extremen Formen der Intoleranz nicht tolerant sein darf, wenn sie nicht ihre eigenen Grundlagen infrage stellen möchte.

Allerdings bleibt das scharfe Schwert auch in der Hand einer wehrhaften Demokratie das, was es bei nüchterner Betrachtung ist, nämlich eine Waffe. Der Ausschluss bestimmter Handlungen aus dem Anwendungsbereich der Menschenrechte erleichtert nämlich auch eine extensive oder gar willkürliche Berufung auf Art. 17 EMRK bei der innerstaatlichen Normierung einzelner Maßnahmen. Politische Kräfte, welche die Demokratien „illiberalisieren“ wollen, könnten (zumindest innerstaatlich) versuchen, allen möglichen politisch nicht gewollten Meinungen den menschenrechtlichen Schutz zu entziehen. Art. 17 EMRK trägt daher auch das Potential in sich, in das Gegenteil dessen verkehrt zu werden, was die Norm eigentlich erreichen will. Erst im Zusammenhang mit den jeweiligen Grundrechtsschranken ist eine missbräuchliche Anwendung des Missbrauchsverbots verhindert. Der Ausschluss aus dem Schutzbereich eines Menschenrechts führt zum Ausfall der Rechtfertigungsprüfung eines Eingriffs. Insgesamt kann das ein hoher Preis für das verständliche Anliegen, Aufrufe zur Gewalt gegenüber schutzbedürftigen Personengruppen oder extremistische Attacken auf die demokratische Grundordnung möglichst effektiv zu bekämpfen, sein.

Im vorliegenden Fall wäre die Klage jedenfalls zurückgewiesen worden. Der Ausspruch, dass diese angesichts der getätigten hasserfüllten Äußerungen offensichtlich unbegründet ist, hätte ebenfalls keinen Zweifel daran gelassen, dass homophobe Hassrede etwas anderes ist als die werbende Verkündigung für die eigene Religion und ihre Morallehre. Auch wenn die Religionsfreiheit im Fall Lenis gegen Griechenland gar nicht zur Debatte stand, zeigt dieser Fall, dass auch die Berufung auf religiöse Gründe Hassrede nicht legitimiert. Damit begrenzt diese Entscheidung aber nicht die Religionsfreiheit an sich, sondern erleichtert die Abgrenzung von geschützter Religionsausübung und extremistischem Missbrauch von Religion oder Weltanschauung – welcher Provenienz auch immer.

Anmerkungen

[1]   Die Zitate sind eigene Übersetzungen der englischsprachigen Entscheidung des EGMR, 31.08.2023, Amvrosios-Athanasios Lenis ./. Griechenland, no. 47833/20 (dec.), 5. Da es sich um die Übersetzung von bereits Übersetztem handelt, sind sprachliche Ungenauigkeiten nicht auszuschließen.

[2]   EGMR, 07.12.1976, Handyside ./.Vereinigtes Königreich, no. 5493/72.

[3]   Art. 17 EMRK lautet: „Keine Bestimmung dieser Konvention darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in der Konvention vorgesehen, hinzielt.“

[4]   Gem. Art. 3 der Verfassung Griechenlands nimmt die Griechisch-Orthodoxe Kirche als „vorherrschende Religion“ die Rolle einer Staatskirche ein. Versuche in jüngerer Vergangenheit, diesen Status abzuschaffen, waren nicht erfolgreich.

[5]   EMGR, 31.08.2023, Amvrosios-Athanasios Lenis ./.Griechenland, no. 47833/20 (dec.), 53 mit Verweis auf EGMR, 09.02.2012, Vejdeland and Others ./. Sweden, no. 1813/07, 55.

[6]   EGMR, 12.05.2020, Lilliendahl ./. Island (dec.), no. 29297/18, 33.

[7]   EMGR, 31.08.2023, Amvrosios-Athanasios Lenis ./.Griechenland, no. 47833/20 (dec.), 56f.

[8]   Art. 10 Abs. 2 EMKR verwendet den Ausdruck „unentbehrlich“.

Kommentar zu OGH vom 19.12.2022,9 ObA 124/22h

Von Florian Pichler.

DOI: 10.25365/phaidra.396

Bedauerlicherweise sind Diskriminierung (darunter Formen von Mobbing) keine Seltenheit in der Arbeitswelt. Dass jedoch der OGH einen Streit zwischen einem orthodoxen Priester und seinem Bischof aufgrund von zwischenmenschlichem Fehlverhalten im Kontext der priesterlichen „Arbeit“ und dem hierarchischen „Dienstverhältnis“ klären soll, ist eine Seltenheit:

Der Sachverhalt

„Der Kläger steht als Priester im Dienste einer der griechisch-orientalischen (orthodoxen) Kirchengemeinden in Österreich und ist in (…) Pfarrgemeinden (…) im Auftrag des Bischofs tätig. Mit seiner an das Arbeits- und Sozialgericht gerichteten Klage begehrt der Kläger von der Beklagten (…) Schmerzengeld wegen Mobbing durch den Bischof (…). Dem von der Beklagten erhobenen Einwand der Unzulässigkeit des Rechtswegs hielt der Kläger entgegen, dass er mit seinem Begehren einen Anspruch aus dem zwischen den Parteien bestehenden Dienstverhältnis geltend mache, der nicht vom verfassungsrechtlichen Gebot der Freiheit der Religionsausübung umfasst sei (9ObA124/22h)“.

Der Kläger behauptet gegenüber dem Arbeitsgericht, dass sein zuständiger orthodoxer Bischof „ihn (…) mehrfach übergangen und öffentlich schlecht gemacht, nicht zu einem Treffen aller Priester in Österreich eingeladen und die Versetzung des Klägers beabsichtigt und angeordnet habe.“

Der Sachverhalt gibt Einblick in ein tiefes Zerwürfnis zwischen einem Priester und seinem Bischof in der Orthodoxen Kirche. Es mag daher verständlich sein, dass er sich im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit, die er als seine „Arbeit“/seinen „Beruf“ empfindet, an die staatlichen Gerichte wendet und versucht gegen das betreffende Verhalten seines Vorgesetzen vorzugehen. Den subjektiven Anspruch des einzelnen Rechtsunterworfenen (Bürger:in) auf Entscheidung eines Rechtsstreits durch staatliche Organe bezeichnet man als Justizgewährungsanspruch (vgl. Kowatsch, in Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp, 111 Begriffe des österr. Religionsrecht 2022, 193–196). Der einzelne hat Anspruch darauf, dass sein Rechtsstreit von einem staatlichen Gericht beurteilt wird.

Nicht immer:

Zwar zählt das Rechtsschutzprinzip zu den Rechtsprinzipien und Baugesetzen der demokratischen Republik, jedoch gibt es explizit Bereiche, in denen sich nicht nur der staatliche Gesetzgeber, sondern auch die richterliche Gewalt nicht einmischen (vgl. hierzu spezifisch OrthodoxenG 1967 StF: BGBl. Nr. 229/1967 idgF BGBl. I Nr. 68/2011). Dies an der Abgrenzung der inneren Angelegenheiten von den äußeren Rechtsverhältnissen (vgl. Potz, in: Kowatsch/Pichler/Tibi/Tripp, 111 Begriffe des österr. Religionsrechts, 173–176; Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht (2003), 65-70, 272–301) bzw. dort, wo der Staat eine Schranke durch die „allgemeinen Staatsgesetze“ (Vgl. Art. 15 StGG) setzt und die inneren Angelegenheiten dadurch einschränkt.

Innere Angelegenheiten sind jene Regelungstatbestände, die der Staat aufgrund der Selbstorganisation der Kirchen und Religionsgesellschaften nicht antasten darf. Sie regeln diese autonom. Art. 9 EMRK bzw. Art. 15 StGG sichern diese inneren Angelegenheiten verfassungsrechtlich vor einer staatlich-gesetzlichen Regelung und auch vor einer staatlich-richterlichen Beurteilung. Sie zu schützen oder einzuschränken ist Aufgabe des Rechtstaates (vgl. Korinek, zu Art. 9 EMRK, in: Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Rnn. 8–12; Muzak, Art 9 MRK [Stand 1.10.2020, rdb.at], Rn. 9).

Diesem Grundsatz folgt der arbeitsrechtliche Senat des OGH in seiner rechtlichen Beurteilung:

„Es entspricht der ständigen Rechtsprechung, dass der Staat und damit die weltlichen Gerichte in den innerkirchlichen Bereich nicht eingreifen dürfen, sodass der Rechtsweg in solchen Angelegenheiten unzulässig ist (Art 15 StGG (…) Zu den „inneren Angelegenheiten“ im Sinne des Art 15 StGG zählen jene, welche den inneren Kern der kirchlichen Betätigung betreffen und in denen ohne Autonomie die Religionsgesellschaften in der Verkündung der von ihnen gelehrten Heilswahrheiten und der praktischen Ausübung ihrer Glaubenssätze eingeschränkt wären. Der sich daraus ergebende Bereich der inneren Angelegenheiten kann naturgemäß nicht erschöpfend aufgezählt werden (…). Im Hinblick auf die Weite der Autonomiegarantie des Art 15 StGG sind auch die Arbeitsverhältnisse derjenigen Personen, die mit inneren Angelegenheiten befasst sind, konsequenterweise Teil der inneren Angelegenheiten (…). Auch bei Dienstrechtsstreitigkeiten scheiden daher aus der Beurteilung durch das Gericht alle Vorfragen aus, welche etwa die Rechtsgültigkeit der Amtsenthebung, der Pensionierung, der Disziplinarstrafen, einer Versetzung oder die Änderung der kirchlichen Organisation und die damit verbundene Auflassung von Pfarren etc. betreffen.“

Mitarbeiter:innen des Bischofs: Laien und Kleriker, Arbeitnehmer:innen und Unterhaltsempfänger

Bei der Lektüre des Urteils ist es notwendig, drei innere Angelegenheiten etwas näher zu beleuchten. Selbst unter den christlichen (vor- und insb. nachreformatorischen) Kirchen gibt es deutliche Unterschiede bei der Wahl der Lebensform, des Arbeits- bzw. Tätigkeitsverhältnisses zum kirchlichen Arbeits- oder Unterhaltsgeber und den innerkirchlichen Gerichten, die solche Streitfragen zu lösen haben:

1. Innere Angelegenheit: Das religiöse Angebot der Lebensformen:

In den vorreformatorischen Kirchen herrscht bis heute eine Standestrennung vor, die Gläubige in zwei bis drei große Gruppen aufteilt: Die einen werden Laien genannt, die anderen sind aufgrund besonderer Gelübde in den Lebensstand der Kleriker und/oder der Ordensleute eingetreten. Alle sind durch die Taufe zu Mitgliedern der Kirche geworden. Im Laufe ihres religiösen Lebens entscheiden sie sich, einer bestimmten religiösen Standesgruppe anzugehören und besondere religiöse Tätigkeiten zu übernehmen. Meistens treten Männer durch Weihen in den Klerikerstand ein. Männer und Frauen versprechen dauerhaft, sich an eine Ordensgemeinschaft zu binden oder eine besondere religiöse Lebensform zu wählen und werden dadurch zu Ordensmitgliedern und Rätechristen. Im überwiegenden Fall leben Kleriker und Ordensangehörige zölibatär.

Die drei klassischen consilia evangelica finden sich im Matthäusevangelium: Mt 19,12 fordert die Ehelosigkeit um des Himmelreiches willen; Mt 19,12 fordert die Gütergemeinschaft im Ordensverband (Klostergemeinschaft) bzw. die Entsagung von übermäßigem Verlangen nach irdischen Gütern und Mt 20,26 fordert die Unterordnung in ein hierarchisches Gefüge im klösterlichen Verband oder gegenüber dem Bischof. Dies sind freiwillig übernommene Regeln für ein gelingendes religiöses Leben in einem besonderen religiösen Lebenstand. Diese zu regeln ist Kernaufgabe der inneren Angelegenheiten (in der Katholischen Kirche insb. c. 573 CIC, vgl. Meier, Gelübde, in: Meier, Kandler-Mayr, Kandler, 100 Begriffe aus dem Ordensrecht (2014),197–200).

2. Innere Angelegenheit: Das Anstellungs- bzw. Tätigkeitsverhältnis

Die überwiegende Anzahl der kirchlichen Mitarbeiter:innen steht heute in einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis (etwa nach dem AngestelltenG) zu ihrem kirchlichen Dienstgeber. Im Regelfall sind diese der Gruppe der Laien innerhalb der jeweiligen Kirche zuzuordnen.

Ihr Gegenüber steht die besondere Personengruppe, die durch die Kirche (oder den Bischof) unterhalten werden. Sie empfangen keinen Lohn für ihre verrichtete Tätigkeit, sondern einen Unterhalt. Dieser Unterhalt wird Sustentation (vgl. Kowatsch, in 111-Begriffe, 317–320) genannt. Das Unterhaltsverhältnis ist kein Arbeitsverhältnis. Es wird innerhalb der meisten Kirchen als Inkardination (Ins-Herz-Schließen) bezeichnet. Die Verpflichtungen seitens des Unterhaltsgebers sind umfassender als bei einem privatrechtlichen Arbeitsverhältnis. Eine Kündigung gibt es nicht, der Ausschluss ist an strenge innerkirchliche Normen und Verfahren gebunden. Die Unterhaltshöhen variieren nach den Bedürfnissen der Inkardinierten (Unterhaltssumme, Ausbildung, Versicherungen, besondere Aufwände). Klassisch übernimmt der Inkardinationsträger auch die Versorgung im Alter und in Krankheit ohne zeitliche Begrenzung, denn er zahlt im Regelfall nicht in das staatliche Pensionssystem ein. Inkardiniert werden Kleriker von ihrem Bischof oder Ordensgeistliche von ihrem Ordensoberen. Sollte jemand den Inkardinationsverband verlassen, hat der kirchliche Unterhaltsgeber verschiedenen Pflichten nachzukommen, um derjenigen Person einen geregelten Start in der Arbeitswelt (inklusive Sozial- und Pensionssystem) außerhalb eines Inkardinationsverhältnis zu ermöglichen (§§ 4 (1) Z. 13, aber 5 (1) Z. 7 und § 314 ASVG, weiters Neumayr in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 132 ArbVG Rz. 58).

Im betreffenden Fall ist der orthodoxe Priester (Pfarrer ist sein Verwendungszweck innerhalb der orthodoxen Kirche) inkardiniert und kein Arbeitnehmer in einem Dienstverhältnis nach staatlichem Recht. Er wird von seinem Bischof unterhalten und übt die Seelsorge – eine typische innere Angelegenheit von Kirchen und Religionsgesellschaften – als geistlicher Amtsträger im Auftrag des Bischofs aus. Nicht jeder Priester ist Pfarrer, aber jeder Pfarrer ist Priester. Beide sind jedoch Inkardinierte und unterstehen der religiösen Autorität, die zumeist Bischof genannt wird, der sie unterhält. Sie sind aber nicht durch einen Arbeitsvertrag an die religiöse Autorität gebunden.

3. Innere Angelegenheit: Die kirchenrechtliche Beurteilung von Streitigkeiten zwischen Inkardinierten und Inkardinationsbischof

Betont werden muss, dass Mobbing (bzw. Diskriminierung) zwischenmenschlich in keinem Arbeits- und keinem Inkardinationsverhältnis tolerabel ist. Im Arbeitsrecht ist dafür § 1 (1) Z. 1 GlBG einschlägig. Es gilt für „Arbeitsverhältnisse aller Art, die auf privatrechtlichem Vertrag beruhen“. Neben dieser Bestimmung sind Regeln der Moral, der Sitte oder religiöse Normen (grundlegend für Christen die Goldene Regel nach Mt 7,12 „Was Du nicht willst, das man Dir tut, …“) besonders für kirchliche Autoritäten Handlungsleitlinien, Gebote und religiös Verbindliches, gegen das ihre Verantwortungsträger:innen nicht verstoßen sollten. Nach § 17 (1) Z. 6 GlBG ist eine Belästigung (Mobbing) ein Verstoß gegen das Gleichbehandlungsgesetz und wird als Diskriminierung betrachtet. Nach § 21 (2) Z. 1–3 GlBG liegt eine Diskriminierung nach § 17 auch vor, wenn die „Würde der betroffenen Person verletzt oder dies bezweckt“ wird oder der Arbeitgeber eine Verhaltensweise setzt, „die für die betroffene Person unerwünscht, unangebracht oder anstößig ist und (…) die ein einschüchterndes, feindseliges, entwürdigendes, beleidigendes oder demütigendes Umfeld für die betroffene Person schafft oder dies bezweckt.“

Nun beruht jedoch das Verhältnis dieses inkardinierten Priesters, der von seinem Bischof mit der Seelsorge und Leitung der orthodoxen Pfarren beauftragt wurde, nicht einem privatrechtlichen Vertrag, sondern einem Verhältnis sui generis, das zu den inneren Angelegenheiten nach Art. 15 StGG zählt. Er ist inkardinierter Unterhaltsempfänger und übt die Tätigkeit des Pfarrers aus, auf welche das GlBG nicht zutrifft. Dies ist die Quintessenz des OGH-Erkenntnisses.

Exkurs: Mobbing und Diskriminierung von kirchlichen Mitarbeiter:innen im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis

Angenommen es würde sich beim vorliegenden Sachverhalt um einen kirchlichen Mitarbeiter mit privatrechtlichem Anstellungsverhältnis handeln, wären einige Sondernormen des GlBG zu beachten: § 20 (1–2) GlBG enthält Ausnahmen in Bezug auf Merkmale der Religion und die geforderte Lebensform:

§ 20 (1) leg. cit: „Bei Ungleichbehandlung wegen eines Merkmals“ nach „§ 17 genannten Diskriminierungsgründe steht, liegt keine Diskriminierung vor, wenn das betreffende Merkmal auf Grund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Rahmenbedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Voraussetzung darstellt (…). (2) Eine Diskriminierung auf Grund der Religion oder Weltanschauung liegt in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen (…), deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, nicht vor, wenn die Religion (…) dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt.“

Auch kirchliche Angestellte in privatrechtlichen Anstellungsverhältnissen (bsp.weise nach dem AngG) unterliegen den betreffenden arbeitsrechtlichen Bestimmungen des GlBG nicht vollumfänglich. Gegen „Belästigungen“ iSv § 21 (1–4) GlBG können kirchliche Mitarbeiter:innen im privatrechtlichen Arbeitsverhältnis den staatlichen Rechtsweg einschlagen. Sie ist eine Diskriminierung nach § 17 GlBG. Jedoch sind nicht alle in § 17 BlBG festgehaltenen Diskriminierungstatbestände auf Mitarbeiter:innen von Kirchen und Religionsgesellschaften anzuwenden.

Durch § 20 (1) GlBG ist es zulässig „wegen eines Merkmals (…)“ Arbeitnehmer:innen anders zu behandeln und ihn sie vom (rechtlichen) Vorwurf der Diskriminierung insbesondere im Hinblick auf ihren beruflichen Aufstieg und ihre Anstellung und Entlassung (§ 17 (1) Z. 1,5 und 7 GlBG) anders zu behandeln. Religionsgesellschaften (darunter diese orthodoxe Kirche) sind dabei als Tendenzbetriebe Arbeitgeber, die von ihren Arbeitnehmer:innen besondere Loyalitätspflichten und auch eine bestimmte private Lebensform fordern dürfen, wenn die „Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation“ darstellt. Hierzu sind beispielsweise Religionslehrer:innen oder leitende Angestellte der kirchlichen Verwaltung – u. a. auch Chefärzt:innen in kirchlichen Krankenhäuser (vgl. Fall Egenberger in Deutschland) – zu nennen. Der kirchliche Arbeitgeber ist ebenso frei, die Arbeitnehmer:innen mit unterschiedlich strengen Loyalitätspflichten zu beurteilen.

Fazit

Auf diese Details der Diskriminierungsbestimmungen gemäß GlBG nimmt der OGH bereits keine Rücksicht in seiner Entscheidung, weil er die Beurteilung des Umgangs zwischen Über- und Untergeordneten im Inkardinationsverband als innere Angelegenheit nicht beurteilt, wertet oder kontrolliert. Die Beschwerde des orthodoxen Pfarrers richtet sich „in Wahrheit gegen die inhaltliche Begründetheit“. Die „Äußerungen und Handlungen des Bischofs in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner priesterlichen Tätigkeit“ sind nicht zu beanstanden, da sie „zu diesem innerkirchlichen Bereich“ gehören. Für solche Streitigkeiten haben die meisten Kirchen innerkirchliche Gerichte und Schiedsinstanzen eingerichtet.

Auch der Vorbehalt nach Art. 15 StGG, wonach jede religiöse Autorität bei der Regelung der inneren Angelegenheiten den „allgemeinen Staatsgesetzen unterworfen“ ist, und daher dem GlBG unterworfen sei, greift nicht. Der Staat kann die Regelungsfreiheit der inneren Angelegenheiten (Art. 9 EMRK/Art. 15 StGG) durch die allgemeinen Staatsgesetze nicht beliebig einschränken. Ansonsten würde eine Fülle von Einzelgesetzesbestimmungen die verfassungsgesetzlich gewährte Autonomie in den inneren Angelegenheiten unterlaufen. Gerade im GlBG nimmt er auf den autonomen Kern der inneren Angelegenheiten Rücksicht, zu diesem gehört die Übertragung eines geistliches Amtes (Pfarramt) und die Aufnahme oder Beendigung in den Inkardinationsverband (Aufnahme in den Klerikerstand/Priesterweihe), aber auch das privatrechtliche Arbeitsverhältnis kirchlicher Mitarbeiter:innen (ohne Inkardination, ohne Weihe). Er trifft Ausnahmebestimmungen zugunsten der verfassungsrechtlich geschützten inneren Angelegenheiten.

Das österreichische Religionsrecht vor Gericht. Anmerkungen zum Urteil des EuGH in der Rechtssache C‑372/21 vom 2. Februar 2023

Von Andreas Kowatsch.

DOI: 10.25365/phaidra.395

1. Einführung

Besonderheiten des Europarechts

Mit der Mitgliedschaft in der EU ist die Verpflichtung der Staaten verbunden, alle Maßnahmen zu unterlassen, durch die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährdet werden könnte (vgl. Art. 4 Abs. 3 EU-V). Bereits seit den frühen 1960er-Jahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwei Wirkungen des Gemeinschaftsrechts (jetzt: Unionsrechts) herausgearbeitet, die die Wirksamkeit dieser „supranationalen“ Rechtsordnung gewährleisten sollen. Die „unmittelbaren Anwendbarkeit“ des Unionsrechts bedeutet, dass unter bestimmten Voraussetzungen (etwa im Fall einer Verordnung oder einer nicht ausreichend oder fristgerecht ins nationale Recht umgesetzten Richtlinie) das Unionsrecht unmittelbar für die Bürger:innen Rechte begründet. Im klassischen Völkerrecht haben im Normalfall nur die Staaten gegeneinander Rechtsansprüche. Die zweite Wirkung ist der „Anwendungsvorrang“, den die Rechtsakte der Union, die deren Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassen haben, gegenüber dem gesamten nationalen Recht genießen. Auch nationales Verfassungsrecht darf im Konfliktfall mit gegenteiligem Unionsrecht nicht angewendet werden. Für die Wirksamkeit des Beitritts Österreichs im Jahr 1996 war vor allem deshalb auch zwingend eine Volksabstimmung durchzuführen, da der Vorrang des Europarechts, das (immer noch) eine geringere demokratische Legitimation als das nationale Recht hat, zu einer sogenannten „Gesamtänderung“ des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes (vgl. Art. 44 Abs. 3 B-VG) geführt hat. In einigen Staaten vertreten Lehre und Rechtsprechung die Ansicht, dass der Anwendungsvorrang dann nicht gilt, wenn die EU völlig außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt haben sollte („ultra vires“) oder EU-Recht die „nationale Verfassungsidentität“ in erheblicher Weise gefährden würde (vgl. Art. 4 Abs. 2 EU-V).

Ein „EU-Religionsrecht“?

Mit der Frage der Verfassungsidentität hängt auch das System der rechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften zusammen. Die EU verfügt über keine Kompetenz, ein eigenes Religionsverfassungsrecht zu normieren. Allerdings betreffen mittlerweile sehr viele Bereiche, in denen die Union kompetent ist, Rechtsnormen zu erlassen, indirekt die Rechtsstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten. Das arbeitsrechtliche Antidiskriminierungsrecht würde das grundrechtlich gesicherte Selbstbestimmungsrecht (vgl. Art. 9 EMRK, Art. 10 der Charta der Grundrecht der EU-GRC) völlig aushöhlen, wenn die Religionsgemeinschaften bei der Auswahl ihrer Mitarbeiter:innen nicht nach der Religionszugehörigkeit differenzieren dürften. Sehr eng gefasste Ausnahmebestimmungen verhindern, dass dies geschieht, sichern aber auch einen möglichst weitgehenden Diskriminierungsschutz. Ein anderes Beispiel ist das Datenschutzrecht, das in den letzten Jahren immer dichter geregelt worden ist. Ohne bestimmte Ausnahmen zugunsten der Religionsgemeinschaften würden bestimmte nationale Systeme der Kirchenfinanzierung (z. B. die im deutschen Grundgesetz garantierte Kirchensteuer) zusammenbrechen. Auch hier sind die Ausnahmen aber sehr eng gefasst. Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich durch die vielfältigen Auswirkungen von Normen, die an sich mit den Religionen nichts zu tun haben, eine Art „EU-Religionsrecht“ entwickelt hat.

Um das Bewusstsein für diese Entwicklung zu schärfen, haben Religionsvertreter anlässlich der Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam 1997 erreichen können, dass diesem eine Erklärung über den Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten angefügt wurde. Diese politische Erklärung wurde dann anlässlich der großen Reform der EU durch den Vertrag von Lissabon 2007 (in Kraft getreten 2009) in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) als dessen Artikel 17 aufgenommen und ist damit Bestandteil des sogenannten „Primärrechts“. An dieser höchsten Rechtsschicht müssen sich alle anderen Normen der EU messen lassen. In diesem Artikel bekennt sich die Union zu einem institutionalisierten ständigen Dialog mit den Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften. Für die Frage der Abgrenzung von staatlichen und europäischen Kompetenzen wichtig sind die Absätze 1 und 2. Absatz 1 lautet: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“[1]

Da sowohl von einer „Achtung des Status“ die Rede ist, als auch die Verpflichtung, diesen „nicht zu beeinträchtigen“, festgehalten wird, sichert Art. 17 AEUV die nationalen religionsrechtlichen Systeme primärrechtlich ab. Nicht jede Auswirkung auf staatliche Normen, die die Religionen betreffen, ist dadurch aber verboten. Eine solche Lesart würde den Zielen des Europarechts diametral entgegenstehen. Verboten sind aber Rechtsakte, die das Staat-Kirche-Verhältnis in einem Staat erheblich verschieben würden. Dazu fehlt der EU die Kompetenz. Die Frage, ob ein Gemeinwesen auf einer ausgrenzend-laizistischen Verhältnisbestimmung zu den Religionen aufbaut oder ob wie in Österreich ein verfassungsrechtliches Konzept einer kooperativen Hereinnahme vor allem der anerkannten Religionsgesellschaften in die staatliche Öffentlichkeit vorherrscht, ist Teil der nationalen Verfassungsidentität und ausschließlich von den Mitgliedstaaten zu bestimmen. Sogar die vorherrschende Stellung einer Staatskirche (wie in Griechenland, Malta oder Dänemark) ist mit den Grundprinzipien der EU vereinbar.

2. Das Vorabentscheidungsverfahren C-372/21

Was war geschehen?

Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten ist in Deutschland der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen worden. Anders als in Österreich beruht dieser Status nicht auf einer gesetzlichen Anerkennung, die an strenge Kriterien geknüpft ist. Ausreichend ist, dass eine Religionsgemeinschaft durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten kann (so Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Reichsverfassung von 1919; durch Art. 140 GG wurden die „Kirchenartikel“ der WRV Bestandteile des GG). Das Bundesverfassungsgericht verlangt Rechtstreue als weiteres, ungeschriebenes Kriterium.

In Österreich genießen die „gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften“ (KuR) ebenfalls öffentlich-rechtlichen Status, wobei im Einzelfall die damit verbundenen Rechte umstritten sind. Um den Status einer KuR zu erlangen, normiert das Anerkennungsrecht (im AnerkG von 1874 und in § 11 BekGG) strenge Voraussetzungen. So muss eine positive Grundeinstellung gegenüber dem Staat und der Gesellschaft vorhanden sein. Die Gemeinschaft muss bereits eine längere Zeit in Österreich bestehen, über eine Mindestanzahl von Gläubigen (2 Promille der österreichischen Bevölkerung) verfügen und muss sich eine Verfassung geben, die dem Staat gegenüber verbindlich die vertretungsbefugten Personen erkennen lässt und die Abgrenzung von anderen KuR erlaubt. In Österreich ist die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten seit 1998 eine staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft, nicht aber eine KuR.

Die deutschen Adventisten haben gegen die Bildungsdirektion für Vorarlberg geklagt, weil diese den Antrag auf Subventionierung einer als kombinierten Grund- und Mittelschule[2] geführten Bildungseinrichtung, die von dieser Religionsgemeinschaft als „konfessionelle Schule“ anerkannt und von ihr unterstützt wird, abgewiesen hatte. Die Schule wird von einem österreichischen Verein betrieben.

Gem. § 17 Abs. 1 PrivatschulG hat der Staat den KuR „für die mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten konfessionellen Privatschulen“ Subventionen zum Personalaufwand zu gewähren. Abs. 2 bestimmt, dass unter einer konfessionellen Privatschule eine von einer KuR unmittelbar oder durch eine ihrer Einrichtungen erhaltenen Schule zu verstehen ist. Wenn eine Schule von Vereinen, Stiftungen und Fonds erhalten werden, kann die zuständige religionsgesellschaftliche Oberbehörde diese Schule als konfessionelle Privatschule anerkennen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes können demnach nur die anerkannten KuR Subventionen für den Personalaufwand ihrer konfessionellen Privatschulen erhalten.

Die Siebenten-Tags-Adventisten sahen darin eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit als einer der Grundfreiheiten des Unionsrechts (vgl. Art. 56 AUEV) und erhoben Klage vor dem österreichischen Bundesverwaltungsgericht. Dieses wies die Klage ab, da das Unionsrecht Österreich nicht verpflichte, eine zuvor in einem anderen Mitgliedstaat anerkannte Kirche oder Religionsgesellschaft anzuerkennen. Auch eine solche Religionsgemeinschaft müsse daher nach dem österreichischen Recht als KuR anerkannt sein, um sich auf § 17 PrivatschulG berufen zu können.[3] Dagegen erhoben die Adventisten Revision an den VwGH. Dieser unterbrach sein Verfahren und stellte an den EuGH ein Ersuchen um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV.[4] Das Vorabentscheidungsverfahren ist eines der wichtigsten Instrumente, um das EU-Recht mit den nationalen Rechtsordnungen zu koordinieren. Um die Einheitlichkeit des Europarechts zu sichern, entscheidet allein der EuGH über strittige Auslegungen der Verträge. Letztinstanzliche nationale Gerichte sind verpflichtet, den EuGH um Vorabentscheidung anzurufen, wenn die Klärung Frage für das jeweilige Verfahren erforderlich ist. Unterinstanzliche Gerichte sind dazu berechtigt.

Der VwGH erläuterte in seinem Ersuchen, warum ausschließlich die KuR für konfessionelle Privatschulen Subventionierungen des Personals erhalten können: KuR seien Körperschaften des öffentlichen Rechts, die über besondere Rechte verfügten und Aufgaben, u. a. im Bereich der Bildung, erfüllten, wodurch sie am staatlichen öffentlichen Leben teilnähmen.[5] Die Union müsse aufgrund Art. 17 AUEV hinsichtlich der Beziehungen zwischen einem Mitgliedstaat und den Religionsgemeinschaften neutral bleiben. Konfessionelle Privatschulen der KuR, die in Österreich hinreichend vertreten sind, ergänzen das öffentliche Schulwesen. Den Eltern soll die Wahl einer Erziehung, die ihrer religiösen Auffassung entspricht, erleichtert werden.[6]

Die Lösung der Frage hing nicht nur davon ab, ob das Unionsrecht überhaupt anwendbar ist, wenn es sich um eine Frage der grundlegenden religionsrechtlichen Normen (wie dem österreichischen Anerkennungsrecht) handelt. Die Tätigkeit der privaten Bildungseinrichtung musste auch eine wirtschaftlich relevante Erbringung von Dienstleistungen darstellen.[7] Würden die Subventionen gewährt werden, erfolgte die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln, sodass dann keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr vorläge.

Die Entscheidung des EuGH

Nachdem der Generalanwalt seine Stellungnahme abgegeben hatte,[8] erging am 2. Februar 2023 das Urteil. Die dritte Kammer des EuGH führt aus, dass Art. 17 Abs. 1 AEUV die EU in der Frage, wie die Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften gestalten, neutral bleiben müsse. Dadurch würden aber religiöse Tätigkeiten nicht grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich des Unionsrechts herausgenommen. Dies gelte insbesondere dann, wenn die Tätigkeit in der Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt auf einem bestimmten Markt bestehe, wie es bei privat finanzierten Bildungseinrichtungen regelmäßig der Fall ist.[9]

Die Schule, für die die Adventisten Subventionen beantragt hat, wird nicht durch öffentliche Mittel finanziert. Sie übt daher wirtschaftliche Tätigkeiten aus. Für die Anwendbarkeit des Unionsrechts sei es unerheblich, so der EuGH, dass eine zukünftige Subventionierung dazu führen würde, dass keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr vorläge. Da die Bildungseinrichtung nicht direkt von den deutschen Adventisten, sondern von einem österreichischen Verein betrieben wird, handle es sich jedoch nicht um eine Frage der Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 AEUV, sondern betrifft mit der in Art. 49 AUEV garantierten Niederlassungsfreiheit eine andere europäische Grundfreiheit.[10] Zudem gelte der Grundsatz des Verbots der Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Dieser verbiete nicht nur offensichtliche Diskriminierungen, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung.[11]

Wendet man diese grundsätzlichen Gedanken auf den Sachverhalt an, dann steht fest, dass der Antrag auf Subventionierung einer konfessionellen Privatschule nur den in Österreich bestehenden und nach dem österreichischen Recht gesetzlich anerkannten KuR offensteht, wodurch die Niederlassungsfreiheit eingeschränkt wird. Zudem erschweren die Voraussetzungen für die gesetzliche Anerkennung, dass bislang nicht in Österreich wirkende Religionsgemeinschaften überhaupt anerkannt werden könnten. Jedenfalls fällt dies in Österreich bereits ansässigen Gemeinschaften ungleich leichter: „Diese Voraussetzungen sind also geeignet, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Kirchen und Religionsgesellschaften zu benachteiligen, die in Österreich ansässige private Bildungseinrichtungen als konfessionelle Schulen anerkennen und unterstützen.“[12]

Das grundsätzliche Verbot, die Niederlassungsfreiheit einzuschränken, wird allerdings von einigen Ausnahmen durchbrochen. So gelten die entsprechenden Bestimmungen nicht für Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (vgl. Art. 51 AEUV). So können Richter:innen sich beispielsweise nicht unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat auf das Richteramt bewerben. Staatliche Sonderregelungen für Ausländer sind nicht absolut verboten. Sie müssen allerdings aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein (vgl. Art. 52 AEUV). Dies ist auch dann der Fall, wenn ein zwingender Grund des Allgemeininteresses eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt, solange die unterscheidenden Maßnahmen verhältnismäßig sind. Diese müssen geeignet sein, „die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist.“[13]

Daher hatte der Gerichtshof zu prüfen, ob im konkreten Fall die unterschiedliche Behandlung von nach dem österreichischen Recht anerkannten KuR und anderen Religionsgemeinschaften gerechtfertigt ist. Innerstaatlich ist es ständige Rechtsprechung des VfGH, dass gegen unterschiedliche Kategorien der rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, da die österreichische Verfassung in Art. 15 StGG diese Unterscheidung enthalte.[14]

Die Subventionierung von anerkannten KuR im Bildungsbereich (ebenso wie im Gesundheitsbereich) hängt damit zusammen, dass diese zum Wohlergehen von Menschen beitragen. Mit dem öffentlich-rechtlichen Status sind auch Pflichten verbunden, zu denen nach herrschender Auffassung auch die Erteilung des Religionsunterrichts zählt.[15] Den Eltern es tatsächlich zu ermöglichen, eine Erziehung ihrer Kinder zu wählen, die ihren religiösen Überzeugungen entspricht, kann ein legitimes Ziel sein, das der nationale Gesetzgeber verfolgt. Maßnahmen zur Sicherstellung eines hohen Ausbildungsstandards können, so der EuGH unter Verweis auf seine eigene Judikatur, einen „zwingenden Grund des Allgemeininteresses“ bilden.[16] Ob dies im konkreten Fall erfüllt ist, muss der VwGH entscheiden, da nicht der EuGH, sondern die nationalen Gerichte für die Interpretation und die Anwendung des nationalen Rechts zuständig sind. Da diese Beurteilung aber im Licht der unionsrechtlichen Vorgaben erfolgen muss, sieht sich der EuGH ermächtigt, den nationalen Gerichten bestimmte Hinweise zu geben.

In diesem Sinn hebt der EuGH folgende Merkmale des österreichischen Religionsrechts hervor:

  1. Die Anerkennung als KuR setzt eine gewisse Größe voraus, die es erlaubt, dass Tätigkeiten entfaltet werden, die sich nicht allein auf die eigenen Mitglieder beschränken.
  2. Wenn der Staat Schulen subventioniert, muss sichergestellt sein, dass diese „einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ansprechen, der dieses Bildungsangebot wählen kann, das das von den öffentlichen Schulen angebotene ergänzt.“[17]

Die Beschränkung des § 17 PrivatschulG scheint dem EuGH daher „nicht unangemessen“ zu sein, um es den Eltern zu ermöglichen, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder im Rahmen eines qualitativ hochwertigen interkonfessionellen Unterrichts zu wählen.[18]

Auswirkungen auf das österreichische Anerkennungsrecht?

Für das österreichische Religionsrecht am interessantesten sind die abschließenden Überlegungen des EuGH. Da Art. 17 Abs. 1 AEUV die EU verpflichtet, den Status der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten zu achten und nicht zu beeinträchtigen, und da in Art. 17 AEUV die Neutralität der Union gegenüber den religionsverfassungsrechtlichen Grundentscheidungen der Mitgliedstaaten ausgedrückt ist, kann die Niederlassungsfreiheit nicht dazu führen, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Status einer Religionsgemeinschaft anzuerkennen, den diese nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten genießen.

Art. 11 BekGG enthält alternative Voraussetzungen im Blick auf die verlangte Dauer der Ansässigkeit einer Religionsgemeinschaft in Österreich, um als KuR anerkannt zu werden. Diese Voraussetzungen, die in der österreichischen Lehre im Einzelnen durchaus nicht unumstritten sind, gehen nicht über das zur Erreichung des legitimen Ziels, nämlich es den Eltern zu ermöglichen, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder zu wählen, Erforderliche hinaus.[19]

Art. 17 Abs. 1 AUEV bewirkt zwar nicht, dass in der konkreten Situation, die dem Verfahren vor dem VwGH zugrunde liegt, das Unionsrecht nicht anwendbar wäre. Die Verpflichtung der Union, den nationalen Rechtsstatus der Religionsgemeinschaften zu achten und diesen nicht zu beeinträchtigen, zieht dem Handeln der Unionsorgane im Rahmen ihrer Zuständigkeiten keine prinzipielle Grenze. Art. 17 Abs. 1 AEUV kann aber die Grundlage für Ausnahmebestimmungen von ansonsten verpflichtenden Vorschriften sein. Berührt ein unionsrechtlich zu beurteilender Sachverhalt den Status der Religionsgemeinschaften in einem Mitgliedsstaat, sind die entsprechenden Normen des Unionsrechts auch im Licht des Art. 17 AUEVU zu interpretieren. Dadurch ist trotz des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Unionsrechts auch ein gewisser Spielraum eröffnet, wie dieses mit dem jeweiligen nationalen Religionsrecht koordiniert werden kann, ohne den Anwendungsvorrang zu hinterfragen. Aus der Sicht der Religionsrechtswissenschaft zu begrüßen ist, dass der EuGH in diesem Urteil mehr als bislang anerkennt, dass Art. 17 AEUV im Gegensatz zur „Amsterdamer Kirchenerklärung“ nunmehr ein vollgültiger Bestandteil des Primärrecht ist.


Anmerkungen

[1]  Abs. 2 wendet dieselbe Bestimmung auf nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaften an. Für diese sieht das österreichische Recht bislang keine besondere Rechtsform vor.

[2]  So in Nr. 12 des Schlussantrags des Generalanwalts.

[3]  Nr. 9. Die nachfolgend zitierten Nummern beziehen sich auf das EuGH-Urteil.

[4]  Die Frage lautete im Detail: „1. Fällt eine Situation, in der eine in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union anerkannte und ansässige Religionsgesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat um Subventionierung einer von ihr als konfessionell anerkannten, von einem nach dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats eingetragenen Verein in diesem anderen Mitgliedstaat betriebenen Privatschule ansucht, unter Berücksichtigung von Art. 17 AEUV in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, insbesondere von Art. 56 AEUV? Für den Fall der Bejahung der ersten Frage: 2. Ist Art. 56 AEUV dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche als eine Voraussetzung für die Subventionierung von konfessionellen Privatschulen die Anerkennung des Antragstellers als Kirche oder Religionsgesellschaft nach nationalem Recht vorsieht?“

[5]  Nr. 11.

[6]  Nr. 16.

[7]  Dass Privatschulen auch wirtschaftlich relevante Dienstleistungen erbringen, hatte der EuGH bereits in einem anderen Verfahren (C‑622/16 P bis C‑624/16 P, Rn. 105) festgestellt.

[8]  Diese ist veröffentlicht auf: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=A9ADCEEA2282A6B226C7C8EECA3673A1?text=&docid=262447&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=5059329

[9]  Nr. 18–20. Demgegenüber ist Unterricht an einer öffentlichen Bildungseinrichtung, die zumindest überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, keine wirtschaftliche Tätigkeit (Nr. 21).

[10] Nr. 26. Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind prinzipiell verboten. Nicht erst die Unterbindung, sondern jede Maßnahme, die eine geplante Niederlassung erschwert, fällt unter das Verbot. Die Niederlassungsfreiheit gilt auch für Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften, sofern ein Unternehmen in einem EU-Staat seinen Sitz hat.

[11] Nr. 29.

[12] Nr. 31.

[13] Nr. 33.

[14] Vgl. schon VfSlg 9185/1981.

[15] Der EuGH verweist hier (Nr. 35) auf die Erläuterungen zur Änderung des BekGG. Vgl. ErlBRV 1256/XXIV. GP, 4.

[16] Nr. 36 mit Verweis auf Urteile C‑153/02, Rn. 46, und C‑386/04, Rn. 45.

[17] Nr. 40.

[18] Nr. 41.

[19] Nr. 42f. Befremdlich ist allerdings das Argument, dass der österreichische Gesetzgeber deswegen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit der nationalen Regelung verfolgten Ziels erforderlich ist, weil der Nachweis, 2 Promille der Bevölkerung als Mitglieder zu umfassen, nicht nur durch eine offizielle Volkszählung, sondern auch in anderer geeigneter Form erbracht werden kann.