Von Andreas Kowatsch.
DOI: 10.25365/phaidra.395
1. Einführung
Besonderheiten des Europarechts
Mit der Mitgliedschaft in der EU ist die Verpflichtung der Staaten verbunden, alle Maßnahmen zu unterlassen, durch die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährdet werden könnte (vgl. Art. 4 Abs. 3 EU-V). Bereits seit den frühen 1960er-Jahren hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) zwei Wirkungen des Gemeinschaftsrechts (jetzt: Unionsrechts) herausgearbeitet, die die Wirksamkeit dieser „supranationalen“ Rechtsordnung gewährleisten sollen. Die „unmittelbaren Anwendbarkeit“ des Unionsrechts bedeutet, dass unter bestimmten Voraussetzungen (etwa im Fall einer Verordnung oder einer nicht ausreichend oder fristgerecht ins nationale Recht umgesetzten Richtlinie) das Unionsrecht unmittelbar für die Bürger:innen Rechte begründet. Im klassischen Völkerrecht haben im Normalfall nur die Staaten gegeneinander Rechtsansprüche. Die zweite Wirkung ist der „Anwendungsvorrang“, den die Rechtsakte der Union, die deren Organe im Rahmen ihrer Zuständigkeit erlassen haben, gegenüber dem gesamten nationalen Recht genießen. Auch nationales Verfassungsrecht darf im Konfliktfall mit gegenteiligem Unionsrecht nicht angewendet werden. Für die Wirksamkeit des Beitritts Österreichs im Jahr 1996 war vor allem deshalb auch zwingend eine Volksabstimmung durchzuführen, da der Vorrang des Europarechts, das (immer noch) eine geringere demokratische Legitimation als das nationale Recht hat, zu einer sogenannten „Gesamtänderung“ des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetzes (vgl. Art. 44 Abs. 3 B-VG) geführt hat. In einigen Staaten vertreten Lehre und Rechtsprechung die Ansicht, dass der Anwendungsvorrang dann nicht gilt, wenn die EU völlig außerhalb ihrer Kompetenzen gehandelt haben sollte („ultra vires“) oder EU-Recht die „nationale Verfassungsidentität“ in erheblicher Weise gefährden würde (vgl. Art. 4 Abs. 2 EU-V).
Ein „EU-Religionsrecht“?
Mit der Frage der Verfassungsidentität hängt auch das System der rechtlichen Beziehungen zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften zusammen. Die EU verfügt über keine Kompetenz, ein eigenes Religionsverfassungsrecht zu normieren. Allerdings betreffen mittlerweile sehr viele Bereiche, in denen die Union kompetent ist, Rechtsnormen zu erlassen, indirekt die Rechtsstellung von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten. Das arbeitsrechtliche Antidiskriminierungsrecht würde das grundrechtlich gesicherte Selbstbestimmungsrecht (vgl. Art. 9 EMRK, Art. 10 der Charta der Grundrecht der EU-GRC) völlig aushöhlen, wenn die Religionsgemeinschaften bei der Auswahl ihrer Mitarbeiter:innen nicht nach der Religionszugehörigkeit differenzieren dürften. Sehr eng gefasste Ausnahmebestimmungen verhindern, dass dies geschieht, sichern aber auch einen möglichst weitgehenden Diskriminierungsschutz. Ein anderes Beispiel ist das Datenschutzrecht, das in den letzten Jahren immer dichter geregelt worden ist. Ohne bestimmte Ausnahmen zugunsten der Religionsgemeinschaften würden bestimmte nationale Systeme der Kirchenfinanzierung (z. B. die im deutschen Grundgesetz garantierte Kirchensteuer) zusammenbrechen. Auch hier sind die Ausnahmen aber sehr eng gefasst. Zusammenfassend kann man feststellen, dass sich durch die vielfältigen Auswirkungen von Normen, die an sich mit den Religionen nichts zu tun haben, eine Art „EU-Religionsrecht“ entwickelt hat.
Um das Bewusstsein für diese Entwicklung zu schärfen, haben Religionsvertreter anlässlich der Unterzeichnung des Vertrags von Amsterdam 1997 erreichen können, dass diesem eine Erklärung über den Rechtsstatus der Kirchen und Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten angefügt wurde. Diese politische Erklärung wurde dann anlässlich der großen Reform der EU durch den Vertrag von Lissabon 2007 (in Kraft getreten 2009) in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) als dessen Artikel 17 aufgenommen und ist damit Bestandteil des sogenannten „Primärrechts“. An dieser höchsten Rechtsschicht müssen sich alle anderen Normen der EU messen lassen. In diesem Artikel bekennt sich die Union zu einem institutionalisierten ständigen Dialog mit den Religionen und Weltanschauungsgemeinschaften. Für die Frage der Abgrenzung von staatlichen und europäischen Kompetenzen wichtig sind die Absätze 1 und 2. Absatz 1 lautet: „Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“[1]
Da sowohl von einer „Achtung des Status“ die Rede ist, als auch die Verpflichtung, diesen „nicht zu beeinträchtigen“, festgehalten wird, sichert Art. 17 AEUV die nationalen religionsrechtlichen Systeme primärrechtlich ab. Nicht jede Auswirkung auf staatliche Normen, die die Religionen betreffen, ist dadurch aber verboten. Eine solche Lesart würde den Zielen des Europarechts diametral entgegenstehen. Verboten sind aber Rechtsakte, die das Staat-Kirche-Verhältnis in einem Staat erheblich verschieben würden. Dazu fehlt der EU die Kompetenz. Die Frage, ob ein Gemeinwesen auf einer ausgrenzend-laizistischen Verhältnisbestimmung zu den Religionen aufbaut oder ob wie in Österreich ein verfassungsrechtliches Konzept einer kooperativen Hereinnahme vor allem der anerkannten Religionsgesellschaften in die staatliche Öffentlichkeit vorherrscht, ist Teil der nationalen Verfassungsidentität und ausschließlich von den Mitgliedstaaten zu bestimmen. Sogar die vorherrschende Stellung einer Staatskirche (wie in Griechenland, Malta oder Dänemark) ist mit den Grundprinzipien der EU vereinbar.
2. Das Vorabentscheidungsverfahren C-372/21
Was war geschehen?
Die Freikirche der Siebenten-Tags-Adventisten ist in Deutschland der Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts verliehen worden. Anders als in Österreich beruht dieser Status nicht auf einer gesetzlichen Anerkennung, die an strenge Kriterien geknüpft ist. Ausreichend ist, dass eine Religionsgemeinschaft durch ihre Verfassung und die Zahl ihrer Mitglieder die Gewähr der Dauer bieten kann (so Art. 137 Abs. 5 der Weimarer Reichsverfassung von 1919; durch Art. 140 GG wurden die „Kirchenartikel“ der WRV Bestandteile des GG). Das Bundesverfassungsgericht verlangt Rechtstreue als weiteres, ungeschriebenes Kriterium.
In Österreich genießen die „gesetzlich anerkannten Kirchen und Religionsgesellschaften“ (KuR) ebenfalls öffentlich-rechtlichen Status, wobei im Einzelfall die damit verbundenen Rechte umstritten sind. Um den Status einer KuR zu erlangen, normiert das Anerkennungsrecht (im AnerkG von 1874 und in § 11 BekGG) strenge Voraussetzungen. So muss eine positive Grundeinstellung gegenüber dem Staat und der Gesellschaft vorhanden sein. Die Gemeinschaft muss bereits eine längere Zeit in Österreich bestehen, über eine Mindestanzahl von Gläubigen (2 Promille der österreichischen Bevölkerung) verfügen und muss sich eine Verfassung geben, die dem Staat gegenüber verbindlich die vertretungsbefugten Personen erkennen lässt und die Abgrenzung von anderen KuR erlaubt. In Österreich ist die Kirche der Siebenten-Tags-Adventisten seit 1998 eine staatlich eingetragene religiöse Bekenntnisgemeinschaft, nicht aber eine KuR.
Die deutschen Adventisten haben gegen die Bildungsdirektion für Vorarlberg geklagt, weil diese den Antrag auf Subventionierung einer als kombinierten Grund- und Mittelschule[2] geführten Bildungseinrichtung, die von dieser Religionsgemeinschaft als „konfessionelle Schule“ anerkannt und von ihr unterstützt wird, abgewiesen hatte. Die Schule wird von einem österreichischen Verein betrieben.
Gem. § 17 Abs. 1 PrivatschulG hat der Staat den KuR „für die mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten konfessionellen Privatschulen“ Subventionen zum Personalaufwand zu gewähren. Abs. 2 bestimmt, dass unter einer konfessionellen Privatschule eine von einer KuR unmittelbar oder durch eine ihrer Einrichtungen erhaltenen Schule zu verstehen ist. Wenn eine Schule von Vereinen, Stiftungen und Fonds erhalten werden, kann die zuständige religionsgesellschaftliche Oberbehörde diese Schule als konfessionelle Privatschule anerkennen. Nach dem Wortlaut des Gesetzes können demnach nur die anerkannten KuR Subventionen für den Personalaufwand ihrer konfessionellen Privatschulen erhalten.
Die Siebenten-Tags-Adventisten sahen darin eine Verletzung der Dienstleistungsfreiheit als einer der Grundfreiheiten des Unionsrechts (vgl. Art. 56 AUEV) und erhoben Klage vor dem österreichischen Bundesverwaltungsgericht. Dieses wies die Klage ab, da das Unionsrecht Österreich nicht verpflichte, eine zuvor in einem anderen Mitgliedstaat anerkannte Kirche oder Religionsgesellschaft anzuerkennen. Auch eine solche Religionsgemeinschaft müsse daher nach dem österreichischen Recht als KuR anerkannt sein, um sich auf § 17 PrivatschulG berufen zu können.[3] Dagegen erhoben die Adventisten Revision an den VwGH. Dieser unterbrach sein Verfahren und stellte an den EuGH ein Ersuchen um Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV.[4] Das Vorabentscheidungsverfahren ist eines der wichtigsten Instrumente, um das EU-Recht mit den nationalen Rechtsordnungen zu koordinieren. Um die Einheitlichkeit des Europarechts zu sichern, entscheidet allein der EuGH über strittige Auslegungen der Verträge. Letztinstanzliche nationale Gerichte sind verpflichtet, den EuGH um Vorabentscheidung anzurufen, wenn die Klärung Frage für das jeweilige Verfahren erforderlich ist. Unterinstanzliche Gerichte sind dazu berechtigt.
Der VwGH erläuterte in seinem Ersuchen, warum ausschließlich die KuR für konfessionelle Privatschulen Subventionierungen des Personals erhalten können: KuR seien Körperschaften des öffentlichen Rechts, die über besondere Rechte verfügten und Aufgaben, u. a. im Bereich der Bildung, erfüllten, wodurch sie am staatlichen öffentlichen Leben teilnähmen.[5] Die Union müsse aufgrund Art. 17 AUEV hinsichtlich der Beziehungen zwischen einem Mitgliedstaat und den Religionsgemeinschaften neutral bleiben. Konfessionelle Privatschulen der KuR, die in Österreich hinreichend vertreten sind, ergänzen das öffentliche Schulwesen. Den Eltern soll die Wahl einer Erziehung, die ihrer religiösen Auffassung entspricht, erleichtert werden.[6]
Die Lösung der Frage hing nicht nur davon ab, ob das Unionsrecht überhaupt anwendbar ist, wenn es sich um eine Frage der grundlegenden religionsrechtlichen Normen (wie dem österreichischen Anerkennungsrecht) handelt. Die Tätigkeit der privaten Bildungseinrichtung musste auch eine wirtschaftlich relevante Erbringung von Dienstleistungen darstellen.[7] Würden die Subventionen gewährt werden, erfolgte die Finanzierung aus öffentlichen Mitteln, sodass dann keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr vorläge.
Die Entscheidung des EuGH
Nachdem der Generalanwalt seine Stellungnahme abgegeben hatte,[8] erging am 2. Februar 2023 das Urteil. Die dritte Kammer des EuGH führt aus, dass Art. 17 Abs. 1 AEUV die EU in der Frage, wie die Mitgliedstaaten ihre Beziehungen zu den Kirchen und religiösen Vereinigungen oder Gemeinschaften gestalten, neutral bleiben müsse. Dadurch würden aber religiöse Tätigkeiten nicht grundsätzlich aus dem Anwendungsbereich des Unionsrechts herausgenommen. Dies gelte insbesondere dann, wenn die Tätigkeit in der Erbringung von Dienstleistungen gegen Entgelt auf einem bestimmten Markt bestehe, wie es bei privat finanzierten Bildungseinrichtungen regelmäßig der Fall ist.[9]
Die Schule, für die die Adventisten Subventionen beantragt hat, wird nicht durch öffentliche Mittel finanziert. Sie übt daher wirtschaftliche Tätigkeiten aus. Für die Anwendbarkeit des Unionsrechts sei es unerheblich, so der EuGH, dass eine zukünftige Subventionierung dazu führen würde, dass keine wirtschaftliche Tätigkeit mehr vorläge. Da die Bildungseinrichtung nicht direkt von den deutschen Adventisten, sondern von einem österreichischen Verein betrieben wird, handle es sich jedoch nicht um eine Frage der Dienstleistungsfreiheit gem. Art. 56 AEUV, sondern betrifft mit der in Art. 49 AUEV garantierten Niederlassungsfreiheit eine andere europäische Grundfreiheit.[10] Zudem gelte der Grundsatz des Verbots der Ungleichbehandlung aus Gründen der Staatsangehörigkeit. Dieser verbiete nicht nur offensichtliche Diskriminierungen, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung.[11]
Wendet man diese grundsätzlichen Gedanken auf den Sachverhalt an, dann steht fest, dass der Antrag auf Subventionierung einer konfessionellen Privatschule nur den in Österreich bestehenden und nach dem österreichischen Recht gesetzlich anerkannten KuR offensteht, wodurch die Niederlassungsfreiheit eingeschränkt wird. Zudem erschweren die Voraussetzungen für die gesetzliche Anerkennung, dass bislang nicht in Österreich wirkende Religionsgemeinschaften überhaupt anerkannt werden könnten. Jedenfalls fällt dies in Österreich bereits ansässigen Gemeinschaften ungleich leichter: „Diese Voraussetzungen sind also geeignet, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassenen Kirchen und Religionsgesellschaften zu benachteiligen, die in Österreich ansässige private Bildungseinrichtungen als konfessionelle Schulen anerkennen und unterstützen.“[12]
Das grundsätzliche Verbot, die Niederlassungsfreiheit einzuschränken, wird allerdings von einigen Ausnahmen durchbrochen. So gelten die entsprechenden Bestimmungen nicht für Tätigkeiten, die mit der Ausübung öffentlicher Gewalt verbunden sind (vgl. Art. 51 AEUV). So können Richter:innen sich beispielsweise nicht unter Berufung auf die Niederlassungsfreiheit in einem anderen Mitgliedstaat auf das Richteramt bewerben. Staatliche Sonderregelungen für Ausländer sind nicht absolut verboten. Sie müssen allerdings aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sein (vgl. Art. 52 AEUV). Dies ist auch dann der Fall, wenn ein zwingender Grund des Allgemeininteresses eine unterschiedliche Behandlung rechtfertigt, solange die unterscheidenden Maßnahmen verhältnismäßig sind. Diese müssen geeignet sein, „die Erreichung der verfolgten Zielsetzung in kohärenter und systematischer Weise zu gewährleisten, und nicht über das hinausgehen darf, was hierzu erforderlich ist.“[13]
Daher hatte der Gerichtshof zu prüfen, ob im konkreten Fall die unterschiedliche Behandlung von nach dem österreichischen Recht anerkannten KuR und anderen Religionsgemeinschaften gerechtfertigt ist. Innerstaatlich ist es ständige Rechtsprechung des VfGH, dass gegen unterschiedliche Kategorien der rechtlichen Anerkennung von Religionsgemeinschaften keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, da die österreichische Verfassung in Art. 15 StGG diese Unterscheidung enthalte.[14]
Die Subventionierung von anerkannten KuR im Bildungsbereich (ebenso wie im Gesundheitsbereich) hängt damit zusammen, dass diese zum Wohlergehen von Menschen beitragen. Mit dem öffentlich-rechtlichen Status sind auch Pflichten verbunden, zu denen nach herrschender Auffassung auch die Erteilung des Religionsunterrichts zählt.[15] Den Eltern es tatsächlich zu ermöglichen, eine Erziehung ihrer Kinder zu wählen, die ihren religiösen Überzeugungen entspricht, kann ein legitimes Ziel sein, das der nationale Gesetzgeber verfolgt. Maßnahmen zur Sicherstellung eines hohen Ausbildungsstandards können, so der EuGH unter Verweis auf seine eigene Judikatur, einen „zwingenden Grund des Allgemeininteresses“ bilden.[16] Ob dies im konkreten Fall erfüllt ist, muss der VwGH entscheiden, da nicht der EuGH, sondern die nationalen Gerichte für die Interpretation und die Anwendung des nationalen Rechts zuständig sind. Da diese Beurteilung aber im Licht der unionsrechtlichen Vorgaben erfolgen muss, sieht sich der EuGH ermächtigt, den nationalen Gerichten bestimmte Hinweise zu geben.
In diesem Sinn hebt der EuGH folgende Merkmale des österreichischen Religionsrechts hervor:
- Die Anerkennung als KuR setzt eine gewisse Größe voraus, die es erlaubt, dass Tätigkeiten entfaltet werden, die sich nicht allein auf die eigenen Mitglieder beschränken.
- Wenn der Staat Schulen subventioniert, muss sichergestellt sein, dass diese „einen bedeutenden Teil der Bevölkerung ansprechen, der dieses Bildungsangebot wählen kann, das das von den öffentlichen Schulen angebotene ergänzt.“[17]
Die Beschränkung des § 17 PrivatschulG scheint dem EuGH daher „nicht unangemessen“ zu sein, um es den Eltern zu ermöglichen, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder im Rahmen eines qualitativ hochwertigen interkonfessionellen Unterrichts zu wählen.[18]
Auswirkungen auf das österreichische Anerkennungsrecht?
Für das österreichische Religionsrecht am interessantesten sind die abschließenden Überlegungen des EuGH. Da Art. 17 Abs. 1 AEUV die EU verpflichtet, den Status der Religionsgemeinschaften in den Mitgliedstaaten zu achten und nicht zu beeinträchtigen, und da in Art. 17 AEUV die Neutralität der Union gegenüber den religionsverfassungsrechtlichen Grundentscheidungen der Mitgliedstaaten ausgedrückt ist, kann die Niederlassungsfreiheit nicht dazu führen, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, den Status einer Religionsgemeinschaft anzuerkennen, den diese nach dem Recht anderer Mitgliedstaaten genießen.
Art. 11 BekGG enthält alternative Voraussetzungen im Blick auf die verlangte Dauer der Ansässigkeit einer Religionsgemeinschaft in Österreich, um als KuR anerkannt zu werden. Diese Voraussetzungen, die in der österreichischen Lehre im Einzelnen durchaus nicht unumstritten sind, gehen nicht über das zur Erreichung des legitimen Ziels, nämlich es den Eltern zu ermöglichen, die ihrer religiösen Auffassung entsprechende Erziehung ihrer Kinder zu wählen, Erforderliche hinaus.[19]
Art. 17 Abs. 1 AUEV bewirkt zwar nicht, dass in der konkreten Situation, die dem Verfahren vor dem VwGH zugrunde liegt, das Unionsrecht nicht anwendbar wäre. Die Verpflichtung der Union, den nationalen Rechtsstatus der Religionsgemeinschaften zu achten und diesen nicht zu beeinträchtigen, zieht dem Handeln der Unionsorgane im Rahmen ihrer Zuständigkeiten keine prinzipielle Grenze. Art. 17 Abs. 1 AEUV kann aber die Grundlage für Ausnahmebestimmungen von ansonsten verpflichtenden Vorschriften sein. Berührt ein unionsrechtlich zu beurteilender Sachverhalt den Status der Religionsgemeinschaften in einem Mitgliedsstaat, sind die entsprechenden Normen des Unionsrechts auch im Licht des Art. 17 AUEVU zu interpretieren. Dadurch ist trotz des Grundsatzes der Einheitlichkeit des Unionsrechts auch ein gewisser Spielraum eröffnet, wie dieses mit dem jeweiligen nationalen Religionsrecht koordiniert werden kann, ohne den Anwendungsvorrang zu hinterfragen. Aus der Sicht der Religionsrechtswissenschaft zu begrüßen ist, dass der EuGH in diesem Urteil mehr als bislang anerkennt, dass Art. 17 AEUV im Gegensatz zur „Amsterdamer Kirchenerklärung“ nunmehr ein vollgültiger Bestandteil des Primärrecht ist.
Anmerkungen
[1] Abs. 2 wendet dieselbe Bestimmung auf nichtreligiöse Weltanschauungsgemeinschaften an. Für diese sieht das österreichische Recht bislang keine besondere Rechtsform vor.
[2] So in Nr. 12 des Schlussantrags des Generalanwalts.
[3] Nr. 9. Die nachfolgend zitierten Nummern beziehen sich auf das EuGH-Urteil.
[4] Die Frage lautete im Detail: „1. Fällt eine Situation, in der eine in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union anerkannte und ansässige Religionsgesellschaft in einem anderen Mitgliedstaat um Subventionierung einer von ihr als konfessionell anerkannten, von einem nach dem Recht dieses anderen Mitgliedstaats eingetragenen Verein in diesem anderen Mitgliedstaat betriebenen Privatschule ansucht, unter Berücksichtigung von Art. 17 AEUV in den Anwendungsbereich des Unionsrechts, insbesondere von Art. 56 AEUV? Für den Fall der Bejahung der ersten Frage: 2. Ist Art. 56 AEUV dahin gehend auszulegen, dass er einer nationalen Norm entgegensteht, welche als eine Voraussetzung für die Subventionierung von konfessionellen Privatschulen die Anerkennung des Antragstellers als Kirche oder Religionsgesellschaft nach nationalem Recht vorsieht?“
[5] Nr. 11.
[6] Nr. 16.
[7] Dass Privatschulen auch wirtschaftlich relevante Dienstleistungen erbringen, hatte der EuGH bereits in einem anderen Verfahren (C‑622/16 P bis C‑624/16 P, Rn. 105) festgestellt.
[8] Diese ist veröffentlicht auf: https://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=A9ADCEEA2282A6B226C7C8EECA3673A1?text=&docid=262447&pageIndex=0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=5059329
[9] Nr. 18–20. Demgegenüber ist Unterricht an einer öffentlichen Bildungseinrichtung, die zumindest überwiegend aus öffentlichen Mitteln finanziert wird, keine wirtschaftliche Tätigkeit (Nr. 21).
[10] Nr. 26. Beschränkungen der freien Niederlassung von Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats sind prinzipiell verboten. Nicht erst die Unterbindung, sondern jede Maßnahme, die eine geplante Niederlassung erschwert, fällt unter das Verbot. Die Niederlassungsfreiheit gilt auch für Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften, sofern ein Unternehmen in einem EU-Staat seinen Sitz hat.
[11] Nr. 29.
[12] Nr. 31.
[13] Nr. 33.
[14] Vgl. schon VfSlg 9185/1981.
[15] Der EuGH verweist hier (Nr. 35) auf die Erläuterungen zur Änderung des BekGG. Vgl. ErlBRV 1256/XXIV. GP, 4.
[16] Nr. 36 mit Verweis auf Urteile C‑153/02, Rn. 46, und C‑386/04, Rn. 45.
[17] Nr. 40.
[18] Nr. 41.
[19] Nr. 42f. Befremdlich ist allerdings das Argument, dass der österreichische Gesetzgeber deswegen nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung des mit der nationalen Regelung verfolgten Ziels erforderlich ist, weil der Nachweis, 2 Promille der Bevölkerung als Mitglieder zu umfassen, nicht nur durch eine offizielle Volkszählung, sondern auch in anderer geeigneter Form erbracht werden kann.