DOI: 10.25365/phaidra.522
Dass bei einer Tagung der informelle Austausch am Rande wie „das gemeinsame Frühstück – oder auch das Feierabendbier – aufschlussreicher als manche Konferenzbeiträge“ (11) sein kann, ist allgemein bekannt. Die Grundlage für das vorliegende Buch ist bei einem solchen gemeinsamen Frühstück der beiden Autoren bei einer Konferenz entstanden. Es widmet sich der Frage: Ist Kirchenrecht eine juristische oder eine theologische Disziplin? Diese Frage lässt sich nicht eindeutig beantworten, denn die Kanonistik lässt sich sowohl der Rechtswissenschaft als auch der Theologie zuordnen. Eine Klärung des eigenen wissenschaftstheoretischen Standpunkts ist jedoch für jeden Kanonisten wichtig, da er Auswirkungen auf die Methodik und auf die Auswahl der Dialogwissenschaften hat. Adrian Loretan, Professor für Kirchenrecht und Staatskirchenrecht an der Universität Luzern, und Judith Hahn, Professorin für Kirchenrecht an der Universität Bonn, legen in dem vorliegenden Buch ihre verschiedenen Standpunkte dar und treten darüber in einen Dialog miteinander. Das ist wörtlich gemeint, denn jeder der beiden Teile des Buches beginnt vor den wissenschaftstheoretischen Grundlagenbeiträgen mit einem Dialog in Form eines Interviews der beiden Autoren über ihren jeweiligen Standpunkt. Dieses passend gewählte Stilmittel lockert die Lektüre des Buches nicht nur auf, sondern verleiht ihm den Charakter eines wirklichen Austausches der beiden Autoren über ihre jeweiligen Positionen.
Im ersten Teil des Buches erläutert Adrian Loretan, warum er von der „kanonistischen Rechtswissenschaft“ (13) spricht. Diskurspartner ist für ihn in erster Linie die staatliche Rechtswissenschaft. Einen maßgeblichen Beitrag für die Rechtswissenschaft leistet die Kanonistik seiner Meinung nach durch ihren naturrechtlichen Ansatz, der insbesondere die Unhintergehbarkeit von Grund- und Menschenrechten zur Folge hat. Die Kanonistik ihrerseits kann aber „auch von den westlichen Rechtsstaaten lernen“ (42), denn „Rechtskultur, die von der kanonistischen Rechtswissenschaft in die Rechtsstaaten des Westens ausstrahlte, hat leider noch nicht bewirkt, dass innerhalb der Kirche einklagbare Grundrechte anerkannt werden“ (42). Loretan sieht desweiteren einen „Mehrwert der kanonisitschen Rechtswissenschaft für die Theologie und die Kirche“ (38). Eine eigenständige kanonisitsche Rechtswissenschaft fördert die Freiheit der Kirche, die ihrerseits in der Verantwortung ist, ihren naturrechtlichen Ansatz auch innerkirchlich umzusetzen: „Was nach außen mit voller Überzeugung als Stand der menschenrechtlichen Gerechtigkeitsdiskussion gepredigt wird, muss nach innen umgesetzt werden“ (39). Insofern besteht auch ein Bezug zur Theologie, innerhalb derer für Loretan die theologische Ethik wichtigster Gesprächspartner ist.
Im zweiten Teil des Buches legt Judith Hahn dar, dass „die Kanonistik, in der ich sozialisiert wurde, eine in einem theologischen Umfeld entwickelte Disziplin ist“ (79), möchte dabei aber „überhaupt nicht behaupten, dass mein Verständnis Kanonistik als Theologie irgendeinen Richtigkeitswert hätte“ (79). Es gebe „viele Gründe, die Kanonistik als Rechtswissenschaft zu sehen und daraus entsprechende wissenschaftstheoretische Schlüsse zu ziehen“ (79). Sie lehnt allerdings die Auffassung ab, Kirchenrecht sei Theologie, was eine „‚Spiritualisierung‘ von Recht“ (81) zur Folge hätte und bedeuten würde, kirchliches „Recht in seiner Rechtlichkeit nicht ernst zu nehmen“ (81). Hahn sieht Kanonistik als „Disziplin, die die Rechtsordnung einer Gruppe untersucht, die sich im Licht des Glaubens als eine Gemeinschaft versteht, die göttlichem Willen entspringt und diesen Willen zu verwirklichen sucht – auch mithilfe von Recht“ (109–110). In diesem Sinne lässt sich Kanonistik – genauso wie alle Fächer der praktischen Theologie – als „applied ecclesiology“ (110) verstehen. Das macht Kanonistik aber nicht primär zur Anwendungswissenschaft, vielmehr „befasst sie sich mit der Frage, wie sich ekklesiologische Vorstellungen mithilfe des Rechts konkretisieren, sodass die Kirche als theologische Größe begriffen werden kann, die mithilfe menschlicher Ordnungsvorstellungen Realität gewinnt“ (111). Das macht Kanonistik allerdings nicht zur „Wissenschaftsdienstleisterin der Kirche“ (113), auch wenn sie in der Praxis nicht selten rechtliche Perspektiven zur Kirchenentwicklung beisteuert. Die Bedeutung der Kanonistik liegt vielmehr „in ihrer systemimmanenten Leistung“ (113), Kirchenrecht aus einer Innenperspektive wissenschaftlich-kritisch zu erforschen und im Hinblick auf den Nutzen für die Gemeinschaft weiterzuentwickeln. Dies ermöglicht es, „vertiefte, nämlich auf die Innenwahrnehmung und die eigene Erfahrung gestützte Erkenntnisse über Überzeugungsgemeinschaften und ihre Normordnungen zu gewinnen“ sowie „Wechselwirkungen von Recht und sozialer Wirklichkeit zu untersuchen, die denen, die nicht selbst Anteil an der sozialen Realität einer Gemeinschaft haben, üblicherweise verborgen“ bleiben (136). Methodisch greift die Kanonistik, so führt Hahn weiter aus, auf die Rechtswissenschaft zurück. Die Methoden sind dabei vielfältig, denn sie „widmen sich der Rechtsgeschichte, Rechtsbegründung, Rechtsphilosophie, Rechtsdogmatik, Rechtsvergleichung, Rechtslinguistik und Rechtssoziologie“ (118). „Dieser Methodenplural verdeutlicht”, so Hahn, „dass die Kanonistik in sich ein interdisziplinäres Unterfangen ist, das nicht nur Theologie und Rechtswissenschaften verbindet, sondern hierüber hinaus – wie jede moderne Geisteswissenschaft – diverse interdisziplinäre Brückenschläge vornehmen muss, um erkenntnisträchtig zu sein“ (119).
Am Schluss des Buches steht nicht der Versuch, beide Standpunkte zu harmonisieren oder eine Synthese herauszuarbeiten. Vielmehr bietet das Buch zwei mögliche Ansätze, Kanonistik wissenschaftstheoretisch zu verorten und ihre Bedeutung für die Gegenwart herauszuarbeiten. Andere Kanonisten könnten weitere mögliche Blickwinkel auf ihr Fach beisteuern. Gerade darin liegt die Stärke des vorliegenden Buches. Es versucht nicht, allgemeingültige Antworten zu liefern, sondern bietet zwei fundierte Sichtweisen auf die Kanonistik. Dies lädt andere Kanonisten wie auch Studenten des Kirchenrechts ein, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur eigenen Position herauszuarbeiten und dadurch ihre eigene Verortung ihres Faches zu schärfen.