Homophobe Äußerungen, ein Bischof und die Grenzen der Meinungsfreiheit. Kurzkommentar zu EGMR 31.08.2023 – 47833/20, Amvrosios-Athanasios Lenis ./. Griechenland

Von Andreas KowatschORCID logo

DOI: 10.25365/phaidra.435

1. Was ist geschehen?

Amvrosios Lenis ist als Metropolit von Kalavryta und Egialia im Norden der Halbinsel Peloponnes einer der höchsten Repräsentanten der Griechisch-Orthodoxen Kirche in Griechenland. Im Dezember 2015 verfasste er anlässlich einer Parlamentsdebatte um die Einführung einer rechtlichen Regelung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften einen Beitrag auf seinem persönlichen Blog mit der Überschrift „Der Bodensatz der Gesellschaft hat seine Häupter erhoben. Seien wir ehrlich: Spuckt auf sie![1]. Homosexualität sei eine Abweichung von den Gesetzen der Natur, ein soziales Verbrechen und eine Sünde. Homosexuelle und jene, die sie unterstützen, seien keine normalen Leute, sondern der Abschaum der Gesellschaft, Menschen mit einer geistigen und spirituellen Störung, auf die man spucken solle. Die Tiraden wurden von mehreren Medien online weiterverbreitet. In einer anschließenden Klarstellung versuchte der Bischof eher halbherzig, seine Aussagen in den Kontext bloßer politischer Kritik an einzelnen Abgeordneten zu stellen. Nach der innerstaatlichen Verurteilung zu einer bedingten Freiheitsstrafe rief der Metropolit den EGMR an und brachte vor, von Griechenland im Recht auf freie Meinungsäußerung (Art. 10 EMRK) verletzt worden zu sein.

2. Die Zurückweisung der Klage durch den EGMR

Bereits 1976 hatte der Gerichtshof in der Rechtssache „Handyside[2] die zentrale Rolle der Meinungsfreiheit für die Demokratie und die Entwicklung eines jeden Menschen betont. Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit verlangen auch die Freiheit für Äußerungen, die den Staat oder einen Teil der Bevölkerung beleidigen, schockieren oder stören. Ausnahmen müssen daher streng ausgelegt und die Notwendigkeit von Einschränkungen muss überzeugend begründet werden.

An diese Rechtsprechung knüpft der EGMR im vorliegenden Fall an. Gleich im Anschluss an grundsätzliche Aussagen zu Art. 10 EMRK bringt der Gerichtshof Art. 17 EMRK ins Spiel. Dieser Artikel verbietet den Missbrauch der in der EMRK und ihren Zusatzprotokollen normierten Menschenrechte. Die Berufung auf ein Menschenrecht soll nicht dazu führen, dass dadurch die Grundwerte der EMRK infrage gestellt werden.[3] Als Bestimmung, die Missbräuche verhindern soll, ist Art. 17 EMRK nur in begründeten Ausnahmefällen einschlägig.

Im gesellschaftlichen Diskurs ist der Begriff „Hassrede“ weit verbreitet. Eine weithin akzeptierte rechtliche Definition gibt es dennoch weder im österreichischen noch im internationalen Recht. Allerdings ist nicht zuletzt auf völkerrechtlicher Ebene eine deutliche Tendenz festzustellen, dass neben erzieherischen und integrationsfördernden Maßnahmen zumindest gegen schwere Formen der Hassrede eine strafrechtliche Verfolgung durch die Staaten notwendig ist. Hassrede knüpft an der Zugehörigkeit einer Person zu einer Gruppe an oder wendet sich direkt gegen eine besondere Personengruppe, die sich durch bestimmte Merkmale wie ethnische Herkunft, Religion, sexuelle Orientierung oder Geschlecht abgrenzen lässt. Hassrede trägt stets etwas Gewaltvolles in sich, sei es, dass direkt zur Gewalt angestachelt wird, sei es, dass einzelnen Personengruppen das Menschsein oder die volle Zugehörigkeit zur Gesellschaft abgesprochen wird. In Österreich dient (neben dem VerbotsG 1947) vor allem § 283 StGB (Verhetzung) dazu, öffentlich vorgetragene Hassreden strafrechtlich verfolgen zu können. Daneben sind Beleidigungen als sog. Privatanklagedelikt durch § 115 StGB für strafbar erklärt. Der Tatbestand der Herabwürdigung religiöser Lehren (§ 188 StGB) ist im religiös-weltanschaulich neutralen Staat nicht unumstritten, verbietet in seinem Kern aber ebenfalls bestimmte hasserfüllte Meinungsäußerungen.

Ob es sich bei einer starken und aggressiven Kritik um eine Hassrede handelt, hängt nicht nur von den verwendeten Worten, sondern vom gesamten Kommunikationszusammenhang ab. So floss im Fall Lenis gegen Griechenland in die Entscheidung des EGMR nicht nur die inhaltliche Qualifikation der Äußerungen als Hassrede ein, sondern auch die besondere Rolle des Klägers innerhalb der griechischen Gesellschaft. Ein Metropolit habe die Macht, nicht nur seine eigene Gemeinde, sondern die orthodoxe Mehrheit der griechischen Bevölkerung zu beeinflussen.[4] Auch führt eine Verbreitung im Internet zu einer von vornherein nicht begrenzbaren Zahl von Adressaten, selbst wenn der eigentliche Blog nicht von vielen Usern wahrgenommen wird. Diskriminierungen aufgrund der sexuellen Ausrichtung wiegen ebenso schwer wie Diskriminierungen aufgrund von „Rasse, Herkunft oder Hautfarbe“.[5]

Der EGMR unterscheidet in seiner Judikatur zwei Formen von Hassrede, für die die Anwendung von Art. 17 EMRK infrage kommt.[6] Die erste Kategorie bilden Hassreden, die zugleich zu konkreter Gewalt anstacheln. Hat der Kläger versucht, sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen, um eine Tätigkeit auszuüben oder Handlungen vorzunehmen (d. h. eine Hassrede zu veröffentlichen), die auf die Zerstörung der in der EMRK verankerten Rechte und Freiheiten abzielen, dann wird die Klage aufgrund der Sache selbst – ratione materiae – zurückgewiesen (Art. 35 Abs. 3 lit. a EMRK). Mit diesem Unzulässigkeitsgrund ist – etwas unpräzise ausgedrückt – die Aussage verknüpft, dass das Klagebegehren von vornherein nicht in den Anwendungsbereich der EMRK fällt.

In die zweite Kategorie fallen alle anderen Meinungsäußerungen, welche als Hassrede einzustufen sind. Auch wer eine solche Hassrede tätigt, kann sich im Ergebnis nicht auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen. Allerdings erfolgt die Prüfung, ob der Gerichtshof überhaupt in die Sachentscheidung eintritt oder die Klage zurückweist, im Rahmen des Art. 10 Abs. 2 EMRK. Ergibt sich unmittelbar, dass ein Eingriff in die Meinungsfreiheit in einer demokratischen Gesellschaft im Blick auf die Ziele des Abs. 2 notwendig und verhältnismäßig war, erfolgt eine Zurückweisung aufgrund der „offensichtlichen Unbegründetheit“ der Klage (Art. 35 Abs. 3 [a] und 4 EMRK).

Die Äußerungen des Bischofs wurden vom EGMR der ersten Kategorie zugezählt. Der Metropolit hatte versucht, die Meinungsfreiheit für Zwecke zu verwenden, die den Werten der Konvention zuwiderlaufen.[7] Die Klage wurde folgerichtig ratione materiae zurückgewiesen, womit die rechtliche Feststellung verbunden ist, dass die homophoben Äußerungen von Art. 10 EMRK nicht geschützt sind.

3. Kurzkommentar

Art. 17 EMRK enthält eine besondere Schutzbestimmung, die den Missbrauch von Grundrechten verhindern soll. Die einzelnen Rechte und die EMRK als ganze dürfen nicht so ausgelegt werden, dass eine Handlung geschützt ist, die darauf abzielt, die in der Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten abzuschaffen oder sie stärker einzuschränken, als es in der Konvention vorgesehen ist. Welche Rechtsfolgen aus dieser Bestimmung folgen, lässt sich allerdings weder nach ihrem Wortlaut noch ihrer systematischen Stellung im Kontext der EMRK genau bestimmen. Rechtsdogmatisch sind zwei unterschiedliche Lösungen möglich, die beide auch vom EGMR angewendet werden. Eine klare Linie der Judikatur fehlt bislang.

Der Missbrauch eines Grundrechts wird am effektivsten eingeschränkt, wenn von vornherein klargestellt wird, dass eine bestimmte Handlung vom betreffenden Grundrecht gar nicht geschützt wird. In juristischer Sprache bedeutet dies dann, dass diese Handlung nicht in den grundrechtlichen Schutzbereich fällt.

Der Missbrauch eines Grundrechts kann aber auch verhindert werden, wenn nicht die Handlung als solche aus dem Schutzbereich fällt, sondern wenn im Einzelfall Eingriffe in das Grundrecht gerechtfertigt sind. In einem ersten Schritt der rechtlichen Bewertung ist die Äußerung dann prinzipiell grundrechtlich geschützt. Auch der Hassredner darf sich hier legitimerweise auf die Meinungsfreiheit berufen. Eine staatliche Reaktion auf die Handlung, etwa in Gestalt einer strafgerichtlichen Verurteilung, stellt daher einen Eingriff ins Grundrecht dar. In einem notwendigen zweiten Schritt ist dann sogleich die Frage zu klären, ob der Eingriff gerechtfertigt war. Gerechtfertigt ist ein Eingriff in die Meinungsfreiheit dann, wenn drei Kriterien erfüllt sind.

Erstens muss der Eingriff aufgrund einer gesetzlichen Grundlage erfolgt sein. Dies korrespondiert in Österreich mit Art. 18 B-VG, der die Ausübung der staatlichen Verwaltung nur auf einer hinreichend klaren (bestimmten) gesetzlichen Grundlage erlaubt. Aus dem Gleichheitssatz der Verfassung (Art. 7 B-VG) folgt nach der Rechtsprechung des VfGH auch ein Verbot staatlicher Willkür.

Die zweite Voraussetzung für die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ist dessen Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft. Die Notwendigkeit ergibt sich immer erst aus der Verknüpfung mit einem bestimmten legitimen Ziel. Art. 10 Abs. 2 EMRK zählt eine ganze Reihe solcher Ziele auf (nationale oder öffentliche Sicherheit, territoriale Unversehrtheit, Aufrechterhaltung der Ordnung und der Verbrechensverhütung, Schutz der Gesundheit und der Moral, Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer). Ebenso legitim sind, bei Vorliegen der anderen Voraussetzungen, Eingriffe mit dem Ziel, die Verbreitung von vertraulichen Nachrichten zu verhindern oder das Ansehen und die Unparteilichkeit der Rechtsprechung zu sichern.

Das dritte Kriterium ist mit der Notwendigkeit verknüpft und gibt ihr ein inneres Maß. Der Eingriff muss in seiner Gesamtheit, d. h. im Blick auf das gewählte Mittel und die Dringlichkeit des Zieles, sowie unter Berücksichtigung aller beteiligten rechtlich geschützten Interessen, verhältnismäßig[8] sein.

Die drei Kriterien bauen aufeinander auf, sodass sich eine Prüfung erübrigt, wenn keine gesetzliche Grundlage vorhanden ist. Fragen der Verhältnismäßigkeit stellen sich nicht, wenn ein Eingriff nicht notwendig ist, weil das Ziel ohne Weiteres auch ohne Beeinträchtigung von durch die EMRK geschützten Rechten erreicht werden kann.

In dieser zweiten Variante vervollständigt das Verbot des Grundrechtsmissbrauchs das Schema der Prüfung der Rechtfertigung. Art. 17 EMRK gibt der Prüfung des zweiten (Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft mit Blick auf ein legitimes Ziel) und dritten (Verhältnismäßigkeit) Kriteriums eine bestimmte Richtung. Liegt der Verdacht auf eine missbräuchliche Ausübung eines Konventionsrechts vor, erübrigt sich die Rechtfertigungsprüfung nicht. Soweit eine Handlung auf die Abschaffung von Grundrechten zielt oder die Berufung auf das Grundrecht diametral den Werten entgegensteht, die durch die Grundrechte eigentlich geschützt werden sollen, ist eine Einschränkung im Einzelfall aber besonders leicht als „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ zu begründen. Auch die Verhältnismäßigkeit lässt sich einfacher argumentieren, wenn Art. 17 EMRK erfüllt ist.

Welche Lösung ist nun aber die sachgemäßere? Ein Ausschluss einer missbräuchlichen Handlung aus dem Schutzbereich des betreffenden Grundrechts hat den (scheinbaren?) Vorteil, rasch zu eindeutigen Lösungen zu gelangen. In der Tat ist gegenüber der demokratischen Gesellschaft erklärungsbedürftig, warum totalitäre Äußerungen, Leugnung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, maßlose Verspottung religiöser Gefühle mit dem Ziel, Gläubige der Lächerlichkeit preiszugeben oder vorteilsgeschwängerte homophobe Hassrede menschenrechtlich geschützt sein sollten. Der Ausschluss aus dem Schutzbereich ist ein scharfes Schwert in der Hand einer wehrhaften Demokratie, die allen Umtrieben, die direkt gegen sie oder ihre Grundwerte (Toleranz, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus) gerichtet sind, so von vornherein den rechtlichen Schutz vorenthält. Eine solche Lösung entspricht auf den ersten Blick durchaus auch der Toleranz, die um ihrer selbst willen gegenüber extremen Formen der Intoleranz nicht tolerant sein darf, wenn sie nicht ihre eigenen Grundlagen infrage stellen möchte.

Allerdings bleibt das scharfe Schwert auch in der Hand einer wehrhaften Demokratie das, was es bei nüchterner Betrachtung ist, nämlich eine Waffe. Der Ausschluss bestimmter Handlungen aus dem Anwendungsbereich der Menschenrechte erleichtert nämlich auch eine extensive oder gar willkürliche Berufung auf Art. 17 EMRK bei der innerstaatlichen Normierung einzelner Maßnahmen. Politische Kräfte, welche die Demokratien „illiberalisieren“ wollen, könnten (zumindest innerstaatlich) versuchen, allen möglichen politisch nicht gewollten Meinungen den menschenrechtlichen Schutz zu entziehen. Art. 17 EMRK trägt daher auch das Potential in sich, in das Gegenteil dessen verkehrt zu werden, was die Norm eigentlich erreichen will. Erst im Zusammenhang mit den jeweiligen Grundrechtsschranken ist eine missbräuchliche Anwendung des Missbrauchsverbots verhindert. Der Ausschluss aus dem Schutzbereich eines Menschenrechts führt zum Ausfall der Rechtfertigungsprüfung eines Eingriffs. Insgesamt kann das ein hoher Preis für das verständliche Anliegen, Aufrufe zur Gewalt gegenüber schutzbedürftigen Personengruppen oder extremistische Attacken auf die demokratische Grundordnung möglichst effektiv zu bekämpfen, sein.

Im vorliegenden Fall wäre die Klage jedenfalls zurückgewiesen worden. Der Ausspruch, dass diese angesichts der getätigten hasserfüllten Äußerungen offensichtlich unbegründet ist, hätte ebenfalls keinen Zweifel daran gelassen, dass homophobe Hassrede etwas anderes ist als die werbende Verkündigung für die eigene Religion und ihre Morallehre. Auch wenn die Religionsfreiheit im Fall Lenis gegen Griechenland gar nicht zur Debatte stand, zeigt dieser Fall, dass auch die Berufung auf religiöse Gründe Hassrede nicht legitimiert. Damit begrenzt diese Entscheidung aber nicht die Religionsfreiheit an sich, sondern erleichtert die Abgrenzung von geschützter Religionsausübung und extremistischem Missbrauch von Religion oder Weltanschauung – welcher Provenienz auch immer.

Anmerkungen

[1]   Die Zitate sind eigene Übersetzungen der englischsprachigen Entscheidung des EGMR, 31.08.2023, Amvrosios-Athanasios Lenis ./. Griechenland, no. 47833/20 (dec.), 5. Da es sich um die Übersetzung von bereits Übersetztem handelt, sind sprachliche Ungenauigkeiten nicht auszuschließen.

[2]   EGMR, 07.12.1976, Handyside ./.Vereinigtes Königreich, no. 5493/72.

[3]   Art. 17 EMRK lautet: „Keine Bestimmung dieser Konvention darf dahin ausgelegt werden, dass sie für einen Staat, eine Gruppe oder eine Person das Recht begründet, eine Tätigkeit auszuüben oder eine Handlung zu begehen, die auf die Abschaffung der in der vorliegenden Konvention festgelegten Rechte und Freiheiten oder auf weitergehende Beschränkungen dieser Rechte und Freiheiten, als in der Konvention vorgesehen, hinzielt.“

[4]   Gem. Art. 3 der Verfassung Griechenlands nimmt die Griechisch-Orthodoxe Kirche als „vorherrschende Religion“ die Rolle einer Staatskirche ein. Versuche in jüngerer Vergangenheit, diesen Status abzuschaffen, waren nicht erfolgreich.

[5]   EMGR, 31.08.2023, Amvrosios-Athanasios Lenis ./.Griechenland, no. 47833/20 (dec.), 53 mit Verweis auf EGMR, 09.02.2012, Vejdeland and Others ./. Sweden, no. 1813/07, 55.

[6]   EGMR, 12.05.2020, Lilliendahl ./. Island (dec.), no. 29297/18, 33.

[7]   EMGR, 31.08.2023, Amvrosios-Athanasios Lenis ./.Griechenland, no. 47833/20 (dec.), 56f.

[8]   Art. 10 Abs. 2 EMKR verwendet den Ausdruck „unentbehrlich“.